Tichys Einblick
Vorwort zum Sonntag

Kommunikationsgestörte Kirche – Das Schweigen der Hirten

In allen Sonntagsreden hängt die evangelische Kirche den Dialog, das Miteinander, das Gespräch, die Kommunikation an die große Glocke. Doch im Alltag scheint davon nicht viel übrig zu bleiben. Woran kann das liegen?

Ein mir bekannter Pfarrer hat folgende Zeilen an die Präses (entspricht einer Bischöfin) der Evangelischen Kirche in Westfalen Annette Kurschus geschrieben, die gleichzeitig auch die EKD-Ratsvorsitzende ist:

„Sehr geehrte Frau Präses Kurschus,

vor dem Hintergrund der aktuellen wissenschaftlichen Studienlage zu den COVID-Impfungen (siehe Anlage) möchte ich Sie fragen, ob Sie ihre öffentlich geäußerte Unterstützung einer allgemeinen Impfpflicht zurücknehmen möchten.

Falls Nein, würde mich ihre Begründung sehr interessieren.

Falls Ja, sollte m.E. ein vergleichbares öffentliches Medium gewählt werden.

Mit freundlichem Gruß…“

Auf diesen Brief hat der Pfarrer keinerlei Reaktion erhalten. Ähnliches Totschweigen musste ich selber erfahren, als ich meinem Präses in der Evangelischen Kirche im Rheinland zehn Anfragen zu seiner kirchlichen Unterstützung der Klimabewegung Fridays For Future geschickt hatte: Wider die Heiligsprechung von Fridays For Future durch die evangelische Kirche (TE). Auch da kam kirchlicherseits keinerlei Antwort.

In allen Sonntagsreden hängt die evangelische Kirche den Dialog, das Miteinander, das Gespräch, die Kommunikation an die große Glocke. Doch im Alltag scheint davon nicht viel übrig zu bleiben. Woran kann das liegen? Wie kommt es zu diesem Schweigen der Hirten, wenn die Lämmer um Klärung bitten? Lassen Sie mich einige Möglichkeiten durchspielen:

Erstens: Die Kirchenoberen haben keine Zeit, Briefe von unbedeutenden Menschen zu beantworten. Davon ist auszugehen. Aber genau dafür haben die Kirchenoberen einen Mitarbeiterstab, der in ihrem Sinn und Auftrag solche Briefe beantworten kann. Zumal Nichtreaktionen Menschen sehr verärgern können. Bei mir hat sich vor einiger Zeit ein Unternehmer gemeldet, der genau wegen eines solchen kirchlichen Nichtreagierens aus der Kirche ausgetreten ist. Dadurch sind der Kirche vermutlich so viele Kirchensteuern verloren gegangen, dass allein davon viele Stunden Präses-Assistenz hätten finanziert werden können.

Zweitens: Die Kirchenoberen finden die Anfragen so schlimm und böse, dass es für sie moralisch geboten ist, darauf gar nicht zu reagieren. Derlei kann ich in dem obigen Brief nicht erkennen. Zudem sollten die Kirchenoberen gut demokratisch wissen: Wer sich mit seinen Aussagen in die heiße Küche der politischen Debatte begibt, der muss dann natürlich auch zu heißen politischen Debatten bereit sein. Alles andere wäre eine politisch reaktionär-autoritäre Kirche, die Pluralismus und Demokratie verachtet.

Drittens: Die Kirchenoberen vertreten naiv die Mehrheitsmeinung der Gesellschaft und haben sich noch nie ernsthaft mit dagegen sprechenden Minderheitenmeinungen beschäftigt. Darum sind sie argumentativ überfordert, auf solche Briefe schriftlich zu reagieren. Sie spüren tief im Inneren, dass ihre Antwort wegen Unkenntnis nur blamabel ausfallen könnte. Das möchte ich bei meinen Kirchenoberen nicht annehmen, selbst wenn ich oftmals erschrocken bin, wie schlecht viele Pfarrkollegen die Anfragen und Gegenargumente etwa in Bezug auf die Corona-Impfpflicht kennen.

Viertens: Die Kirchenoberen sind so überzeugt von ihrer einzig richtigen und alternativlosen Meinung, dass alle Anfragen daran nur als nervig angesehen werden und darum sofort in der Mülltonne oder in der Personalakte landen. Darin vielleicht ähnlich dem Slogan mancher Impfbefürworter auf Twitter: “Wir haben keine Lust, uns mit Leuten zu beschäftigen, die die Erde für eine Scheibe halten.“ Dahinter steckt für mich die arrogante Haltung, alle Andersdenkenden als Vertreter eines idiotischen Unsinns zu diffamieren. Da kann man nur hoffen, dass Hochmut nicht vor dem Fall kommt.

Fünftens: Die Kirchenoberen wissen, dass sie bei der Corona-Impfung die übergroße Mehrheit auf ihrer Seite haben. Aus machtpolitischen Gründen brauchen sie darum nichts zu befürchten, wenn sie scheinbar unbedeutende Minderheiten einfach übergehen oder ignorieren; das bringt ihnen keine gravierenden Nachteile. Machtpolitisch kann man sicherlich so agieren. Aber damit zerstören die Kirchenoberen ihr eigenes christliches Fundament: „Wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein und wer unter euch der Erste sein will, der soll aller Knecht sein“ (Jesus in Markus 10,43f). Von einem Diener und Knecht sollte man erwarten dürfen, dass er eine berechtigte Anfrage beantwortet.

Sechstens: Frau Präses Kurschus spürt im Inneren, dass sie damals falsch lag mit Ihrer Empfehlung der allgemeinen Impfpflicht mit einem unausgegorenen neuen Impfstoff und der damit einhergehenden Abwertung individueller Abwägungsprozesse. Ihr Schweigen wäre dann Ausdruck ihrer Scham und Schuld. Im Umgang mit Schuld kann Kirche in der Nachfolge Jesu aber einen anderen, besseren Weg gehen als das Totschweigen. „Wir werden einander viel zu vergeben haben“, so ahnte es Jens Spahn; gerade an dieser Stelle kann eine evangelische Kirche, deren Mittelpunkt die Versöhnung in Jesus Christus ist, mutig und heilsam vorangehen.

Welche meiner Vermutungen auf Frau Präses Kurschus zutreffen, oder ob noch ein ganz anderer Grund ihre Kommunikationsverweigerung in diesem Fall begründet, das kann ich natürlich nicht wissen. Aber eines weiß ich: Gerade in diesen Zeiten der gesellschaftlichen Spaltungen brauchen wir Menschen und Institutionen, die ein weitherziges Forum für den notwendigen demokratischen Meinungsstreit anbieten.

Statt sich in den politischen Streitfragen als Kirche einseitig auf eine der Seiten zu schlagen, sollte die Kirche in politischen Fragen bestenfalls ein Forum des echten Dialogs sein. Zumal sich Christen mit guten und biblischen Gründen auf vielen Seiten des Meinungsspektrums finden. Und zumal Christen im Sakrament des heiligen Abendmahls feiern, dass ihre Gemeinschaft einen tieferen Grund hat als eine Gleichschaltung in politischen Fragen.

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