Außenministerin Annalena Baerbock sagte am 30. September 2022 im Bundestag zur Krise im Iran folgende Worte: „Wenn die Polizei, wie es scheint, eine Frau zu Tode prügelt, weil sie aus Sicht der Sittenwärter ihr Kopftuch nicht richtig trägt, dann hat das nichts, aber auch gar nichts mit Religion oder Kultur zu tun.“
Oder versucht sich Frau Baerbock an der These, dass ein mit Gewalt durchgeführtes Kopftuchgebot nichts mit dem Islam zu tun habe? Doch diese angestrengten Klimmzüge „Das-hat-nichts-mit-Islam-zu-tun“ bringen die weiße Mitteleuropäerin in die Sackgasse einer neokolonialen Überheblichkeit: Warum sollte die Nichtmuslimin Annalena Baerbock besser wissen, was islamisch ist, als die Muslime und universitären Schriftgelehrten im Iran?
Viele Muslime betonen, dass ein staatlich hart exekutiertes Kopftuchverbot sehr wohl eine Option im Islam ist, selbst wenn Menschen aus anderen Weltanschauungen das nicht verstehen können. Ihre Argumentation ist leicht nachvollziehbar:
1) Die Kopftuchpflicht für Frauen ist eine rechtgläubige muslimische Lebensweise.
Ein Kopftuchgebot für Frauen steht nicht ausdrücklich im Koran. Der Koran spricht nur davon, dass Frauen „ihre Reize nicht zur Schau stellen sollen“ (Sure 24,31), was sehr weit interpretierbar ist. Erst die Überlieferungen der Mohammed zugeschriebenen Worte und Handlungen (Hadithe), die im Islam ebenfalls hohe Autorität genießen, werden eindeutiger. Sie kennen folgende Anweisung des Propheten: „‚Wenn die Frau ihre Geschlechtsreife erlangt hat, dann sollte nichts von ihr zu sehen sein außer diesem!‘ Und er zeigte auf sein Gesicht und seine Hände“ (Abu Dawud, Sunan, Libas, 34).
Natürlich mag es auch andere muslimische Kleidungsinterpretationen geben; so tragen viele Frauen in der Sufi-Gemeinde meines Freundes kein äußerliches Kopftuch: „Unser Kopftuch ist das innerliche Kopftuch eines sittsamen Umgangs mit unserer Geschlechtlichkeit“, so beherzigen diese Sufi-Frauen das Kopftuchgebot. Die Sufis als mystische Muslime suchen die verborgene, spirituell-herzliche Deutung von Koran und Hadithe.
Doch solche alternativen Deutungswege dürfen nicht dazu führen, an der Realität vieler und einflussreicher muslimischer Auslegungsschulen vorbeizugehen, für die die stoffliche Kopftuchpflicht zur DNA des Islam gehört.
2) Die Kopftuchpflicht für Frauen darf in Ländern muslimischen Glaubens durchaus mit harter Gewalt durch die Obrigkeit zur Durchsetzung gebracht werden.
Im Islam dürfen grausame und unmenschliche Strafen im Namen Gottes verhängt werden, wenn Menschen sich gegen Gott und den Propheten stellen und wenn Menschen auf Erden „Verderben stiften“: „Wahrlich, der gerechte Lohn derer, welche Allah und seinen Gesandten bekämpfen und auf Erden Verderben stiften, ist es, dass viele von ihnen getötet oder gekreuzigt oder dass ihn Hände und Füße wechselseitig abgeschlagen oder dass sie aus dem Land verbannt werden“, so heißt es im Koran, Sure 5,33. Der Koran gilt im Islam als das direkte, unverborgene und unmittelbare Wort Gottes, dem unbedingt gehorcht werden muss.
Mohammed hat solche Strafen im Namen Gottes mit dem Schwert selber ausgeführt. Er hatte dazu die Macht, denn Mohammed war in einer Person oberster Religionsführer, oberster Gesetzgeber, oberster Richter, oberster Polizist, oberster Staatsherr und oberster Heerführer.
Eine Muslimin dieser muslimischen Auslegungslinie kann also mit reinem Gewissen sagen: „Wenn die Polizei eine Frau zu Tode prügelt, weil sie aus Sicht der Sittenwärter ihr Kopftuch nicht richtig trägt, dann hat das ganz gewiss etwas mit der Religion und der islamischen Kultur zu tun. Nur so kann das Verderben der ganzen Gesellschaft verhindert werden, das von unzüchtigen Frauen ausgeht, die den Islam mit dekadenten westlichen Unwerten zerstören.“
Das mag uns im Westen nicht gefallen. Das mag Annalena Baerbock nicht gefallen. Und dann mag die Versuchung groß sein, das einfach als unislamisch unter den Teppich zu kehren. Auch im Interesse der eigenen Willkommenskultur, ohne eventuelle Spannungen wahrzunehmen, die Muslime mit bestimmten muslimischen Auslegungstraditionen in unser Land bringen.
Der interreligiöse Dialog muss dahin, wo es weh tut. Die billige Floskel „Das-hat-nichts-mit-dem-Islam-zu-tun“ hilft nicht weiter. Auch die Kreuzzüge der Christen hatten etwas mit dem christlichen Glauben zu tun. Und auch die Schreckensherrschaft der Jakobiner 1793–1794 mit zehntausenden Hinrichtungen hatte etwas mit der Aufklärung und der Französischen Revolution zu tun.
Gelingende Kommunikation braucht Ehrlichkeit. Wie will man die Schattenseiten einer Religion oder Weltanschauung vermindern, wenn man sich weigert, diese überhaupt in den Blick zu nehmen? Ideologische Vogel-Strauß-Politik im Bundestag ist keine Lösung, selbst wenn diese sich als „progressive feministische Außenpolitik“ feiert.