Tichys Einblick
Wort des Jahres 2022

Im Zeitalter der chronischen „Zeitenwenden“

Die christliche Zeitenwende ging nicht von einem Politiker aus, sondern von einem kleinen unscheinbaren Kind, das die Herzen von Menschen verändert. Herzenswenden sind meist wenig spektakulär, aber vielleicht ist gerade das menschliche Herz der fruchtbarste Ort für echte Zeitenwenden.

IMAGO / Bihlmayerfotografie

Die „Gesellschaft für deutsche Sprache“ hat mit „Zeitenwende“ das Wort des Jahres 2022 gekürt. Klar, dass ausschlaggebend für diese Wahl ein Politiker war. Das Proklamieren von großen Wenden, dafür haben sich immer die Politiker zuständig gefühlt.

1969 rief Willy Brandt die Wende zu mehr Demokratie aus: „Wir fangen erst richtig an“ mit der Demokratie, konnte er in seiner Regierungserklärung selbstbewusst behaupten, weil vor ihm Konrad Adenauer (1949–1963) und die Große Koalition inklusive SPD (1966–1969) wohl nur semi-demokratisch waren.

1980 zog Helmut Kohl mit der Ausrufung einer großen „geistig-moralischen Wende“ in den Wahlkampf. 2012 konnte Helmut Schmidt dazu nur süffisant sticheln, dass sich 1982 außer dem Personal eigentlich nichts geändert hatte.

2010 forderte Guido Westerwelle eine „geistig politische Wende“ zu weniger Bürokratie und zu mehr Leistungsbereitschaft und Technologie. Leider scheint sich Deutschland an diesen drei Punkten mit oder trotz FDP nicht um 180 Grad, sondern um 360 Grad gewendet zu haben.

Sigmar Gabriel schrieb 2018 gar ein ganzes Buch zur „Zeitenwende in der Weltpolitik“ (2018), in dem er mehr außenpolitische Stärke von Deutschland und Europa einforderte. Beurteilen sie selber, ob Heiko Maas diese Vision wirksam umgesetzt hat.

Gegenüber diesen mehr oder weniger angestrengten Zeitenwende-Klimmzügen setzt der nüchtern-kühle Olaf Scholz einen anderen Akzent: „Der russsiche Überfall auf die Ukraine markiert eine Zeitenwende“ (Bundestag, 27. Februar 2022). Es ist der politische Gegner, der Scholz und Deutschland ungewollt eine Zeitenwende aufzwingt. Aber Deutschland ist fähig, mit „Sondervermögen“, Wumms und Doppelwumms zu reagieren – immerhin.

Was ist nicht alles schon als Zeitenwende angesehen worden?

Allüberall Zeitenwende. Ständig bahnbrechende Ereignisse, die alles auf den Kopf stellen und eine neue Ära einleiten. Kein Wunder, wenn die Bevölkerung mehr und mehr zeitenwende-schwindelig wird.

Da gelobe ich mir den hebräischen Kalender. Er beginnt mit dem vermeintlichen Schöpfungsdatum und zählt heute das Jahr 5783. Innerhalb dieser gesamten Zeit kennt der hebräische Kalender keine einzige Zeitenwende. Die Zeit schreitet ganz normal voran; mit mehr oder weniger kleinen Entwicklungen und Sprüngen. Aber gegen alles aufgeregte menschliche Herumgackern bewahrt die israelitische Weisheit Ruhe und Gelassenheit:

„Die Sonne geht auf und geht unter und läuft an ihrem Ort, dass sie dort wieder aufgehe. Der Wind geht nach Süden und dreht sich nach Norden und wieder herum an den Ort, wo er anfing … Es gibt nichts Neues unter der Sonne“ (Prediger Salomo 1,4-9).

Was für eine wohltuende Besonnenheit, obwohl die Geschichte Israels wahrlich voller Brüche und Umbrüche war und ist, sodass Israel ohne Probleme bei der Inflation von Zeitenwende-Proklamationen mithalten könnte.

Und ich gelobe mir auch den christlichen Kalender. Der kennt eine einzige zentrale Zeitenwende; die Geburt Jesu Christi. Doch diese Zeitenwende wurde erst 575 Jahre später datiert und dann politisch langsam als nahezu universale Zeitrechnung durchgesetzt. Echte Zeitenwenden kristallisieren sich erst im Rückblick einige Jahrhunderte später heraus. Ich bin gespannt, was in 575 Jahren noch von Helmut Kohls „moralisch geistiger Wende“ und von der Klimaapokalyptik der „Letzten Generation“ übrig geblieben sein werden.

Zudem ging die christliche Zeitenwende nicht von einem Politiker aus, sondern von einem kleinen unscheinbaren Kind, das die Herzen von Menschen verändert. Herzenswenden sind meist wenig spektakulär, aber vielleicht ist gerade das menschliche Herz der fruchtbarste Ort für echte Zeitenwenden.

„Herr, nun lässt du deinen Diener in Frieden gehen, wie du zugesagt hast. Denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen“ (Evangelium nach Lukas 2,29f).

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