Der Psychologe Wolfgang Schmidbauer hat den Begriff des „hilflosen Helfers“ geprägt. Dabei beschreibt er Menschen, die ständig unter Druck stehen, mit einem hohen Idealanspruch anderen Menschen helfen zu müssen. Dabei vernachlässigen die hilflosen Helfer so sehr das eigene Ich, dass hinter der hilfsbereiten Fassade ihr eigene Selbst und dann letztlich sogar auch ihre eigene Hilfsfähigkeit zerstört wird. „Das Helfer-Syndrom ist die zur Persönlichkeitsstruktur gewordene Unfähigkeit, eigene Gefühle und Bedürfnisse zu äußern, verbunden mit einer scheinbar omnipotenten Hilfsbereitschaft“ (Wolfgang Schmidbauer). Dieses ins Pathologische pervertierte Ideal der sozialen Hilfe kann nicht nur Menschen, sondern auch ganze Länder erfassen.
Das neue Deutschland beweist auch omnipotente Hilfsbereitschaft:
- mit Transferzahlungen und Bürgschaften ist die deutsche Politik „solidarisch“ mit allen EU-Partnerstaaten, die vermeintlich ihren eigenen Haushalt nicht mehr geregelt bekommen
- mit nationalen Klimmzügen will Deutschland das Weltklima retten
- mit einer grenzenlosen Willkommenskultur ruft die deutsche Politik in die Welt hinaus: „Kommt her zu uns alle, die ihre mühselig und beladen seid. Wir sind ein reiches Land und wir werden euch allen helfen. Wir schaffen das.“
Im Rausch dieser quasireligiösen Allmachtsphantasieen geht die Fähigkeit verloren, die eigenen Interessen und Bedürfnisse überhaupt nur wahrzunehmen:
- Wir gehen mit dem enormen staatlichen Schuldenberg von 2,5 Billionen Euro in die Ernstphase des demographischen Wandels hinein, wo die geburtenreichen Jahrgänge in den Ruhestand gehen.
- Die Sozialkassen sind vom Helfersyndrom überfordert.
- Wohnungsmarkt und Schulen sind durch die grenzenlose Willkommenskultur aus dem Ruder geraten.
- Wirtschaftlich verlieren wir an Konkurrenzfähigkeit.
- Ein offen auf den Straßen zur Schau gestellter Antisemitismus nimmt die dämonischen Kräfte der düstersten deutschen Zeiten wieder auf.
Kurz: Hinter einer riesigen omnipotenten Hilfbereitschaft steht ein impotentes kleines Ich, das seine Perfektions-Ideale lediglich mit der Verleugnung der Wirklichkeit aufrechterhalten kann.
Zum Reformationstag brachte eine Hohenpriesterin des neuen Deutschlands das hilflose Helfersyndrom ungewollt auf den Punkt. Die EKD-Ratsvorsitzende Annette Kurschus definiert in ihrer Predigt „Freiheit“ ganz nach dem Lehrbuch eines hilflosen Helfers: „Frei bist du dann, wenn du von dir selbst absehen kannst und deinen Mitmenschen dienst, statt deinem persönlichen oder nationalen Ego.“ Frei ist man nach Annette Kurschus also nicht, wenn man als Individuum „Ich“ sagen kann und seine eigenen Bedürfnisse und Interessen kennt und mit den Bedürfnissen seiner Mitmenschen fruchtbar oder mühsam ausbalanziert. Frei ist man nach Annette Kurschus, wenn man von sich selber absieht. Das persönliche und nationale Ego wird von vornherein abgewertet. Dass man starke Persönlichkeiten und leistungsstarke Nationalstaaten braucht, um anderen Menschen wirklich helfen zu können, das ist nicht im Blick des hilflosen Helfers. Der kreist alleine um die Hilfsbedürftigkeit seiner Opfer, die er unbedingt braucht, um seine eigene Impotenz nicht spüren zu müssen und sich weiterhin als Helfer inszenieren zu können. Je impotenter die Kirche, desto omnipotenter die moralischen Forderungen.
Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass sich die oberste Repräsentantin der deutschen Protestanten in der Flüchtlingsfrage sehr sehr weit aus dem Fenster lehnt: Das reiche Deutschland müsse unbedingt deutlich mehr Flüchtlinge aufnehmen. Die Grenze der Zuwanderung sei nach Kurschus erst dann erreicht, „wo es zur Selbstaufgabe kommt“. „Ich meine, dass wir diese Grenze noch lange nicht erreicht haben.“
Hier beißt sich die Kurschus-Katze in den Schwanz. Wer sein Selbst gar nicht mehr wahrnimmt, weil angeblich Freiheit darin bestehe, von sich selber abzusehen, wie soll der die Grenze zu seiner Selbstaufgabe überhaupt noch wahrnehmen können? Ohne Gefühl für sein Selbst gibt es auch kein Gefühl für eine Selbstüberforderung oder gar Selbstaufgabe mehr. Das ist doch genau die Falle des Helfersyndroms. Konsequent, dass die selbstlose Helfererin Annette Kurschus jede Debatte über Migrations-Obergrenzen als „populistische Nebelkerze“ ablehnt, selbst wenn es im Lande brodelt und Multikulti erschreckende Begleiterscheinungen zeigt.
Die politischen Auslassungen von Frau Kurschus mögen sich sehr fromm und christlich anhören. Das Fordern von selbstlosem Dienst für die Mitmenschen hat eine lange kirchliche und diakonische Tradition. Kein Wunder, dass Annette Kurschus sich in der EKD großer Beliebtheit erfreut. Unter dem Blickwinkel des hilflosen Helfersyndroms jedoch erschrecke ich, wie sehr Kirche hilflos in ihren Perfektionsidealen gefangen ist, hinter denen die Wirklichkeit verleugnet werden muss.
Schön, dass die jüdisch-christliche Tradition mit dem Dreifachgebot der Liebe um eine Begrenzung und Balance der Hilfsbereitschaft weiß. „Du sollst Gott lieben von ganzem Herzen und deinen Nächsten wie dich selbst“ (5.Mose 6,5; 3.Mose 19,18; Lukas 10,27). Selbst wenn Menschen an mir herumnörgeln, in Gottes Frieden darf ich mich auch mit meinen Grenzen und Schwächen akzeptieren und wertschätzen.
Eine gesunde Selbstliebe fördert eine gesunde Nächstenliebe. Und in einer gesunden Nächstenliebe kann wiederum meine Selbstliebe und sogar die Gottesliebe wachsen. Gottesliebe, Selbstliebe und Nächstenliebe hängen in einem gesunden Glauben bereichernd und korrigierend zusammen. Es ist ein Geschenk Gottes, wenn mir in einer Woche das diffizile Ausbalanzieren dieser drei Liebesgrößen ansatzweise gelingen mag.
Gott sei dank bin ich in Gottes Liebe frei, mein persönliches und nationales Ego wertzuschätzen und mich dafür zu engagieren, um gerade so stark und kräftig zu sein, anderen Menschen beistehen zu können. Unsere Gesellschaft kann Menschen nur dann nachhaltig, realitätsoffen und begrenzt helfen, wenn sie ihre Hilfe nicht auf dem Sand des hilflosen Helfersyndroms baut.