Tichys Einblick
75 Jahre Grundgesetz

Warum der Gottesbezug in einer säkularen Verfassung klug ist

Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland beginnt mit einem Gottesbezug. Wie passt es zusammen, dass ein Staat, der sich ausdrücklich nicht auf religiöse Überzeugungen gründet, mit der Verantwortung vor „Gott“ startet?

IMAGO

Das säkulare Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland beginnt überraschenderweise mit einem Gottesbezug. In der Präambel heißt es: „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen (…) hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.“ Passt das zusammen, dass ein Staat, der sich ausdrücklich nicht auf religiöse Überzeugungen gründet, mit der Verantwortung vor „Gott“ startet?

Zunächst muss betont werden, dass die Verfassung nicht vom christlichen, jüdischen oder muslimischen Gott redet; es ist kein konfessioneller Gottesbegriff gemeint. Und das ist gut so. Ich selbst bin von ganzem Herzen Christ, weil ich im christlichen Gott meine tiefste Geborgenheit gefunden habe. Aber das hat in der Verfassung nichts zu suchen. Nur eine religionsneutrale Verfassung kann verhindern, dass Menschen sich religiös-konfessionell auf politischer Ebene heillos zerstreiten. Die Verfassung als gemeinsamer Nenner soll eine gesamte Bevölkerung verbinden. Die verfassungsrechtliche Bevorzugung einer Konfession oder Religion würde die Bevölkerung fundamental spalten.

Die Verfassung lebt von der Fähigkeit einer Religion, um des gemeinsamen Friedens willen Gott als etwas zu denken, was sich im politischen Bereich zurückstellen oder sogar methodisch negieren lässt. Eine Religion, die das nicht schafft, wird für den Zusammenhalt einer demokratisch pluralistischen Gesellschaft zum Problemfall. Wenn Muslime in Deutschland ein Kalifat ausrufen, dann haben sie das kleine Einmaleins der aufgeklärten europäischen Kultur nicht verstanden.

Gleiches gilt allerdings auch für staatliche Behörden, die weltanschaulich konfessionalistisch agieren, indem sie etwa Fußgängerüberwege in Farben der Genderideologie anpinseln und damit die befriedend wirkende staatliche Neutralität mit Füßen treten. Aus einem Verkehrszeichen wird Propaganda für eine bestimmte politische Konfession unter Benachteiligung anderer politischer Konfessionen. Aus einem befriedenden neutralen Staat wird damit ein Staat, der staatliches Öl in das Feuer politischer Konfessions-Streitigkeiten schüttet.

Der Begriff „Gott“ in der Präambel des Grundgesetzes darf gesellschaftlich also keinesfalls konfessionell verengt werden. Er muss als Chiffre verstanden werden, die sowohl für religiöse als auch für unreligiöse Menschen akzeptabel ist. „Gott“ im Grundgesetz ist dann ein Begriff dafür, dass alle Bewohner eines Landes darin miteinander geeint sind, dass kein Mensch seine Existenz sich selber verdankt und dass man für sein Tun vor einer höheren Instanz verantwortlich ist. Dabei kann die Chiffre „Gott“ auch apersonal als Karma, allgemein-menschliche Gerechtigkeits-Verpflichtung oder als Tun-Ergehen-Zusammenhang gedacht werden.

Menschen können einen Mitmenschen als „Faschisten“, „Covidioten“ oder „Grünversifften“ leichter entmenschlichen, wenn sie sich nicht bewusst machen, dass sie mit ihren Gegnern gemeinsam in gleicher Verantwortung vor einer höheren Moral-Instanz stehen. Die Chiffre „Gott“ kann humanisierende Wirkungen im Miteinander der Gesellschaft haben. Man billigt zumindest mit dem Blick auf „Gott“ seinen Feinden respektvoll die gleichen Rechte zu, selbst wenn es aus menschlicher Sicht schwerfällt. „Gott“ darf allerdings nicht zu einer Chiffre für die Wahrheiten der eigenen Meinungsblase werden. Ein „Gott“, der lediglich für die Überhöhung des eigenen Ichs steht, vermag nicht das Denken und Verhalten zu korrigieren.

Es bleibt die Frage, ob ein blutleerer und philosophischer Chiffren-Gottesbegriff, der nicht allgemein mit religiösen Gefühlen und Erfahrungen angefüllt ist, als übergreifendes Drittes wirklich die Kraft hat, eine Bevölkerung miteinander zu verbinden.

Doch selbst wenn dies nicht der Fall wäre, plädiere ich dafür, den Gottesbegriff in der Verfassung beizubehalten. Eine säkulare Verfassung ohne Gottesbegriff könnte in sich die Tendenz haben, dass das Negieren Gottes nicht nur eine Methode ist zur Befriedung der Gesellschaft, sondern dass die Verneinung Gottes zu einem Prinzip und damit zu einer Staatswahrheit wird; der Atheismus oder Agnostizismus als Staatsreligion im öffentlichen Raum. Damit würde Paradoxerweise die Säkularität des Staates weltanschaulich-pseudoreligiöse Züge bekommen und zu einer Benachteiligung alles Religiösen im öffentlichen Raum führen.

Dem wirkt das Grundgesetz mit seinem Gottesbezug in der Präambel klug entgegen. Im neutralen Staat hält die Verfassung die gleiche Distanz und eine möglichst ausgewogene Balance zu allen Weltanschauungen und Religionen der eigenen Bevölkerung. Das ist die Hauptaufgabe eines demokratischen und rechtsstaatlichen Grundgesetzes: das Befrieden und Ausgleichen unterschiedlichster gesellschaftlicher Gruppen, in diesem Fall gottgläubiger und säkularer Gruppen, damit ein fruchtbares und friedliches Miteinander in aller Unterschiedlichkeit möglich ist.

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