Erstens: Die STARKE MORAL
Ohne Moral geht es nicht. Ein überzeugendes Beispiel ist der Straßenverkehr. Da hat sich über Jahrzehnte ein ausgeklügeltes und bewährtes Regelwerk herausgebildet; und dieses geht einher mit der Moral der Bevölkerung, sich an diesen Regeln zu halten. Nur in diesem Zusammenspiel von Ordnungen und Moralhütern gelingt das tägliche Wunder, dass Milliarden Autos, Fahrräder und Fußgänger in Bewegung sind, und die Zahl der Unfälle trotzdem überschaubar bleibt. Falls ein einzelgängerischer LKW-Fahrer für sich den Linksverkehr auf öffentlichen Straßen in Deutschland einführen würde, gäbe es sofort ernsthafte Probleme.
Wer sich nicht in diese verbindliche Moral einfügt, der bekommt zurecht Druck von der Gesellschaft. Das spürt zum Beispiel im Augenblick Annalena Baerbock, weil sie die allgemein anerkannte Moral mit Füßen getreten hat, indem sie ihren Lebenslauf im Kanzler-Bewerbungsverfahren an über 10 Stellen verlogen aufgepäppelt hat und damit Vertrauen zerstört hat.
Zweitens: Die ABWÄGENDE MORAL
In wichtigen thematischen Feldern gibt es anders als im Straßenverkehr keine starke allgemeinverbindliche Moral. Nehmen wir etwa die Covid-Impfung. Diese ist neuartig und noch nicht genügend erforscht. Jede Proklamierung einer allgemeinverbindlichen Moral wäre unwissenschaftlich und würde den notwendigen Diskussionsprozess nur stören. Die meisten neuartigen ethischen Fragen brauchen Zeit und ausgiebige Abwägungsdiskurse, in denen sich zeigen muss, ob sich überhaupt eine vernünftige einheitliche Moral herausschälen kann.
Moral kann in diesen Fällen nicht die „starke Moral“ sein, die allen unmissverständlich zeigt, wo es langgeht. Moral ist dann lediglich eine mit Unsicherheit behaftete und suchende Kraft, die Problemstellungen offenlegt und diffizile Abwägungsprozesse in Gang setzt.
Es ist die Position des Liberalismus, der die suchende Dimension der ABWÄGENDEN MORAL betont und alle Menschen einlädt, sich mit ihren unterschiedlichen Meinungen an diesem Abwägungsprozess zu beteiligen.
Drittens: Die MISSBRAUCHTE MORAL
Da eine allgemeinverbindliche „starke Moral“ viel praktischer politisch instrumentalisiert werden kann als eine liberale „abwägende Moral“, versuchen alle politischen Kräfte, ihre eigenen Ansichten aus dem Bereich der „abwägenden Moral“ herauszureden und in den Bereich der eindeutigen allgemeinverbindlichen „starken Moral“ zu überführen.
Damit ist aber aus der Moralfrage eine Machtfrage geworden. Bei vielen vermeintlich moralischen Fragen geht es also gar nicht um Moral, sondern um Macht und Machtmissbrauch. Darum ist es kaum möglich, über Moral zu sprechen, ohne nicht auch über Machtverhältnisse zu sprechen.
Unter der schön herausgeputzten Fassade der Moral steckt nur zu oft die hässliche Fratze der Macht:
Die Macht, sogenannte „Faktenchecker“ oder „Ethikkomissionen“ mit den eigenen ausgewählten Leuten zu besetzen und damit die entscheidenden Weichenstellungen vorab zu bestimmen.
Die Macht, aus seinen eigenen Hypothesen allgemeinverbindliche Wahrheiten zu proklamieren und sie dann der ganzen Gesellschaft aufzuzwingen: „CO2-Verminderung rettet den Planeten“, „Impfen schützt Leben“, „wer gegen offene Grenzen ist, der ist ausländerfeindlich“, „wer den Euro kritisiert, der zerstört Europa“.
Die Macht, Andersdenkende aus der allgemeinen Kommunikation herauszunehmen, zu ex-kommunizieren und als vermeintlich einzelgängerische LKW-Fahrer abzustempeln, die angeblich den Linksverkehr einführen wollen.
Es ist die fundamental wichtige Aufgabe des Liberalismus in einer Gesellschaft,
„starke Moral“ in Frage zu stellen, ob sie nicht lediglich „machtmissbräuchlich starke Moral“ ist, die unbedingt wieder zurück in die „abwägende Moral“ überführt werden muss. Eine Gesellschaft, in der die „machtmissbräuchlich starke Moral“ wuchert, wird eine geschlossene, autoritäre Gesellschaft.
Viertens: Die ABGRÜNDIGE MORAL
Philosophie, Kunst und auch die christliche Religion haben oftmals ein Gespür dafür bewahrt, dass diese Welt eine tragische Dimension hat und eigentümlich behindert ist. Von dieser Behinderung ist auch die Moral nicht ausgeschlossen. „Das Gute, das ich will, das tue ich nicht, sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich“ (Paulus an die Gemeinde in Rom, Römer 7,19).
Auch der Volksmund ahnt das tragische Moment der Moral, wenn er sagt: „Gut ist das Gegenteil von gut gemeint.“ Oder noch flapsiger auf neudeutsch: „Shit happens“; die Abgründe der Moral.
Das alte christliche apostolische Glaubensbekenntis kommt ohne irgendeinen moralischen Begriff aus – ohne Gerechtigkeit, ohne Liebe, ohne Helfen, ohne eine gute Tat. Damit hält das Apostolikum die Weisheit in Erinnerung, dass es Erlösung in dieser durch und durch behinderten Welt nur jenseits von Moral gibt in der Gottesbeziehung allein aus Gnaden.
Wenn aber die Machthaber dieser Welt gar kein Interesse an diesen offenen Abwägungsdiskursen haben, sondern lieber „starke Moral“ auch da wollen, wo gar keine „starke Moral“ möglich ist, und wenn sich dann noch die Kirchen dafür spirituell-moralisch einspannen lassen, dann wird die christliche Religion selber Teil der Tragik und Verlorenheit dieser Welt.