Tichys Einblick
„Komm, Heiliger Geist“

Die Kirche in der selbstgewählten Konformismusfalle

Pfingsten ist das Geburtstagsfest der Kirche. Die Kirche liegt augenblicklich mit der tödlichen Krankheit Konformitis auf der Intensivstation. Sie braucht unbedingt die erneuernde Kraft des Heiligen Geistes, der sie aus den Fängen des Zeitgeistes befreit.

IMAGO / Fotostand

Die beiden großen Kirchen haben in Deutschland mit stark rückläufigen Zahlen zu kämpfen. Der Gottesdienstbesuch als ein zentraler Gradmesser der Kirchlichkeit hat in den letzten zwei Jahren in vielen Gemeinden um bis zu 40 Prozent nachgelassen. Das war in der Vergangenheit immer ein vorauslaufender und zuverlässiger Hinweis darauf, dass neue Kirchenaustrittswellen bevorstehen. Der bundesweite Katholikentag 2022 in Stuttgart hatte nur noch 28.000 Besucher, gegenüber dem vorletzten Katholikentag 2018 mit 85.000 Besuchern in Münster ein unübersehbarer Schrumpfungsprozess und Krisenindikator.

„Die Leute haben immer noch Angst vor Corona und größere Zusammenkünfte“, so beruhigen einige Kirchenfürsten. Das leuchtet mir nicht ein. Warum waren dann in Mannheim beim zeitgleichen Stadtfest über 200.000 Besucher? Warum sollte nach zwei Jahren mit kirchlichem Corona-Schrumpfangebot die Sehnsucht nach kirchlicher Gemeinschaft nicht einen ernormen Nachholbedarf haben?

„Das liegt am katholischen Missbrauchsskandal“, so haben andere ein schnelles Erklärungsmodell an der Hand. Doch auch das leuchtet mir nicht ein. Psychologen sind im Augenblick doch auch total überlaufen, obwohl in ihrem Bereich jährlich ebenfalls sexuelle Übergriffe geschehen. Wenn ein Baum gute und unverzichtbare Früchte hat, dann kann das Fallobst, und sei es noch so schrecklich, den Nutzen des Baumes nicht gänzlich infrage stellen.

Vielleicht liegt genau hier das zentrale Problem der beiden großen Kirchen: Sie bringen keine guten und unverzichtbaren Früchte mehr in unsere Gesellschaft ein, weil sie lediglich gesellschaftliche Allgemeinplätze wiederholen. Politisch ist Kirche mit EU-Zentralismus, Migrationismus, Energiewendismus, Klimakatastrophismus, Staatspaternalismus und Genderismus ganz auf Mehrheitslinie.

Dieser Konformismus erreichte beim Coronismus einen weiteren traurigen Höhepunkt: Die Kirche war vielfach bei Lockdowns, Maskenzwängen, 2G-Auflagen und Impfpropaganda ganz vorne dabei, selbst wenn sich diese Maßnahmen zum Teil als überzogen, unvernünftig und kontraproduktiv herausgestellt hatten. Doch auch wenn das Gotteslob unter einer FFP2-Maske nicht erhaben, sondern „unerheblich“ klingt, die Kirchen haben immer einwandfrei Haltung bewiesen.

Vor lauter politischem Konformismus kommt die spirituelle Botschaft der Kirchen kaum noch an. Was meine Kirche vom Gendersternchen hält, das kann ich bei ihren Veröffentlichungen sehen. Aber was sie darüber denkt, wie Menschen Frieden in Gott finden können, da bleibt sie vielfach merkwürdig blass. „Bleiben Sie gesund“, sagt der Bischof in die Kameras; doch ist das die Botschaft Jesu, der mit 30 Jahren „ungesund“ ans Kreuz gegangen ist, weil es für ihn Dinge gab, die genauso wichtig wie Gesundheit sind? Wo bleiben die kritischen Impulse gegenüber einer Gesellschaft, die die Gesundheit dermaßen verabsolutiert, dass sie darüber selbst die Gesundheit zerstört?

Auf dem Stuttgarter Kirchentag gab es eine Diskussion zum Thema „Wer braucht noch die Kirche?“ Die Antwort auf diese Frage sollte Kevin Kühnert geben, der sich offen als Atheist bekennt und für den Weihnachten eine X-mas-Feier ist. Erwartet die Kirche von Atheisten neue Impulse für ihre Spiritualität, ohne die wir wirklich keine Kirche brauchen, selbst wenn Kevin Kühnert nichts gegen eine Kirche hätte, die die SPD-Themen unterstützt?

Das Kerngeschäft der „Theologen“, die Rede von Gott, ist so verblasst, dass sie nicht mehr in die Öffentlichkeit vordringt. Und das Kerngeschäft der Kirche, die menschliche Begegnung im Horizont von Gottes Wort und Sakrament, ist durch die kirchliche Corona-Maßnahmen-Hörigkeit unter die Räder gekommen. Stattdessen propagiert die Kirche politische und sozialethische Forderungen, denen Jesus Christus eher zurückhaltend gegenüberstand: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt.“

Wenn die Kirche in ihrer Sozialethik wenigstens irgendetwas hätte, was nicht sowieso schon alle Spatzen von den Dächern pfeifen, dann würde diese öffentliche Schwerpunktlegung ja noch einen gewissen Mehrwert schaffen. Wenn aber die Kirche sich sozialethisch zum bloßen Papagei-Echo des Mainstreams macht, dann mag so ein Papagei kurzfristig einen gewissen Reiz haben. Aber langfristig können auch Mitglieder der Kerngemeinde so einer Echolalie überdrüssig werden.

Hinzu kommt seit 2021, dass die christlichen Kirchen in der Bundesrepublik mit ihren Mitgliederzahlen unter die Schwelle von 50 Prozent gefallen sind. Sie werden mehr und mehr zu einer Minderheitenkirche. Wenn aber eine Minderheitenkirche den Geist des Konformismus fördert, dann legt sie die Axt an die eigene Wurzel. „Sei ein lebendiger Fisch. Schwimme doch gegen den Strom“, so habe ich es als Jugendlicher in meiner Kirche gesungen. Nur mit diesem Geist kann eine Minderheitenkirche in einer mehrheitlich unkirchlichen Gesellschaft bestehen. Eine konformistische Kirche dagegen sollte sich nicht wundern, dass die Kirchenaustritte noch einmal richtig Fahrt aufnehmen, wenn die Schwelle zur Minderheitenkirche unterschritten ist.

Nur wenn die Kirche in diesen turbulenten Zeiten etwas einbringt, was göttlich trösten, Halt geben und einen ewigen Frieden schenken kann, wird sie unverzichtbar.

Nur wenn die Kirche etwas einbringt, an dem sich die Gesellschaft reiben kann, weil es ihr entgegensteht, macht sie sich selber interessant.

In einer säkularen Welt, die sich in abgeschlossener Diesseitigkeit eingerichtet hat, hat die Kirche etwas wahrhaft Queeres einzubringen: Die Weltrettung, die nicht ein grünes Hochleistungsprojekt ist, sondern die Weltrettung, die im menschgewordenen Gott bereits vollbracht ist. Mit dieser bereits geschehenen Erlösung im Rücken und Herzen sind Christenmenschen dazu befreit, in aller menschlichen Unvollkommenheit getrost und gelassen und gestärkt kleine Schritte zu einer hoffentlich etwas weniger schlechten Welt zu gehen.

Pfingsten ist das Geburtstagsfest der Kirche. Die Kirche liegt augenblicklich mit der tödlichen Krankheit Konformitis auf der Intensivstation. Sie braucht unbedingt die erneuernde Kraft des Heiligen Geistes, der sie aus den Fängen des Zeitgeistes befreit. Nur als eigenständige Kraft, die zwar im Zeitgeist lebt, aber immer wieder verwurzelt in Gott dem Zeitgeist kritisch gegenübersteht, hat die Kirche eine Zukunft. Dann wird sie in der Kraft Gottes zu einem hilfreichen Korrektiv in unserer Gesellschaft, sodass man ihr vielleicht sogar manches Fallobst verzeihen kann.

„O komm, du Geist der Wahrheit,
und kehre bei uns ein, (und kehre bei uns aus)
verbreite Licht und Klarheit,
verbanne Trug und Schein.
Gieß aus dein heilig Feuer,
rühr Herz und Lippen an,
dass jeglicher getreuer
den Herrn bekennen kann.“

(Philipp Spitta)

Anzeige
Die mobile Version verlassen