Tichys Einblick
Kehrtwende um 180 Grad

Die evangelische Kirche beim Tanz um den goldenen Zeitgeist

2018 war sich die Mehrheit der Pfarrer und kirchlichen Funktionsträger einig: Ein radikaler Pazifismus ist der einzig christliche Weg ins Licht. Der Ukraine-Krieg hat alles verändert. Nicht nur der bayrische Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm vollzieht nun eine Kehrtwende um 180 Grad.

IMAGO/photothek

Zum 100-jährigen Ende des ersten Weltkrieges wurde 2018 in der evangelischen Kirche intensiv über Fragen von Krieg und Frieden nachgedacht. Dabei gab es erstaunlich wenige Diskussionen. Die übergroße Mehrheit der Pfarrer und kirchlichen Funktionsträger war sich einig: Ein radikaler Pazifismus ist der einzig christliche Weg ins Licht. „Mit dem Leitbild des gerechten Friedens verbindet sich der Auftrag, Krieg und Gewalt zu überwinden … dass Menschen frei von Angst und Not leben können“ („Friedenswort 2018“). Wow! Was für große Worte – die Kirche als Besitzerin der Rezepte für den Himmel auf Erden, für ein Leben ohne Krieg, Gewalt, Angst und Not.

Viele kirchliche Verlautbarungen von „damals“ klingen heute im Angesicht des Ukraine-Krieges wie eine Märchenstunde für Erwachsene. Klerikaler Pazifismus als Opium für die gutmenschliche Welt-Retter-Seele.

Logischerweise hatte im Umfeld dieser Heile-Welt-Allmachtsphantasien folgender Antrag keinerlei Chance, den ich „damals“ auf der Kreissynode des evangelischen Kirchenkreises in Mülheim an der Ruhr eingebracht hatte:

„Als Christen sind wir begeistert von dem Weg des gerechten Friedens in der Nachfolge Jesu. Als ev. Kirchenkreis an der Ruhr wollen wir diesen Weg mit aller Kraft, mit allen Mitteln und in allen Krisen unterstützen.

Auf der anderen Seite danken wir aber auch allen Soldaten in der Nachfolge Jesu,
die sich mit ihrem Leben dafür einsetzen, dass in dieser gebrochenen Welt Frieden durch Abschreckung ermöglicht wird und dass in dieser gebrochenen Welt die Option für einen gerechtfertigten Krieg als ultima ratio der Liebe erhalten bleibt.“

Ja, es gibt die gute Tradition der evangelischen Friedenskirchen, die mit Teilen der Bergpredigt jeglichen Militärdienst ablehnen (zum Beispiel die Mennoniten); doch es gibt nun mal auch die gute evangelische Tradition, die betont, dass auch ein Soldat Christ sein kann, wenn er seinen Kopf hinhält, um das Böse einzudämmen; so betont es etwa Martin Luther in seiner mit der Bibel argumentierenden und heute wieder aktuellen Schrift „Ob Kriegsleute in seligem Stande sein können“.

Eine liberale Ethik, der ich mich verbunden fühle, weiß, dass zwischen Situation und ethischer Reaktion ein großer Raum ist: der Raum, dass man die Situation ganz unterschiedlich wahrnehmen und einschätzen kann; der Raum, dass biblische Texte ganz unterschiedlich interpretiert werden können; der Raum unterschiedlicher Schulen und Denkrichtungen; der Raum, dass Abwägungsprozesse sehr individuell ausfallen können; der Raum der Diskussion und Debatte, der immer offen bleiben muss.

Für mich war es erstaunlich zu sehen, wie radikal die evangelischen Synoden im Jahr 2018 sich von ihren eigenen biblischen und reformatorischen Wurzeln abgeschnitten hatten. Die christlichen Traditionen der Vorfahren wurden nicht mehr als Bereicherung angesehen, die einen großen Raum eröffnen, innerhalb dessen Christen mit ihrem Gewissen zu unterschiedlichen ethischen Einsichten kommen dürfen. Aus dem christlichen Raum ethischer Orientierung war auf Synoden mit vermeintlichen „Friedenswörtern“ ein moralinsaurer allzu enger Pazifismus-Korridor geworden.

Ein nicht zu unterschätzender Nebeneffekt dieser einseitigen Ausrichtung war, dass die Kirche manche Soldaten der Bundeswehr als Mitglied verloren hat. „Ich bin eigentlich ein sehr gläubiger und traditionsgebundener Mensch, aber ich habe es satt, eine Kirche zu unterstützen, die mich als Gläubigen zweiter Klasse behandelt, weil ich mit der Waffe dem Frieden diene“, so schrieb mir ein Bundeswehrsoldat. Doch auch das schien meine Kirche überhaupt nicht zu beunruhigen; vielleicht hat sie es sogar insgeheim begrüßt, dass sie durch solche Austritte vom vermeintlichen Schmutz der Bundeswehr gereinigt wurde.

Der Ukraine-Krieg hat nun plötzlich alles verändert. Die evangelische Kirche merkt in ihrer ideologischen Blase, dass es da dummerweise noch eine Realität gibt. Mit ein bisschen mehr Geschichtsbewusstsein hätte ihr diese Überraschung erspart bleiben können, denn Putin war nun wahrlich nicht der erste Machthaber in der Geschichte der Menschheit, der aggressiv und skrupellos ein anderes Land überfällt.

Die neuen Töne der evangelischen Kirche klangen am 25. April 2022 in der Tagesschau so: „Der bayrische Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm spricht sich für Waffenlieferungen an die Ukraine aus. Er sieht angesichts des russischen Angriffskriegs einen Reformbedarf der evangelischen Friedensethik.“ Und dann wurde Bedford-Strohm direkt zitiert: Die „Reflektion des Umgangs mit faktischer militärischer Aggression bedarf der Weiterentwicklung“.

Erstaunt frage ich mich: Hat dieser Bischof und Theologieprofessor bis Februar 2022 friedensethische Fragen reflektiert, ohne „faktische militärische Aggression“ zu bedenken?

Bedford-Strohms Ruf nach Waffenlieferungen in ein Krisengebiet ist eine Kehrtwende um 180 Grad. Auch Anna-Nicole Heinrich, die 26-jährige Philosophiestudentin, die als Präses der EKD-Synode eines der höchsten evangelischen Ämter innehat, sieht deutsche Waffenlieferungen in die Ukraine als gerechtfertigt an.

Erstaunlich viele evangelische Kirchenfunktionäre haben in kürzester Zeit ihre Kehrtwende von Pazifisten zu Waffenexport-Experten im Echo mit Annalena Baerbock und Anton Hofreiter von den Grünen vollzogen, allerdings ohne dass sich in den letzten drei Monaten irgendetwas an der Heiligen Schrift oder an den christlichen Bekenntnisschriften geändert hätte.

Diese politisierte Wendehalsigkeit der evangelischen Kirche bringt unverblümt ihre „Krankheit zum Tode“ (Sören Kierkegaard) ans Tageslicht; die evangelische Kirche hat ihre vier spirituellen Grundpfeiler vernachlässigt und ist damit zum Spielball von Tagespolitik und Tagesemotionen geworden:

Aus „allein die Schrift“ wurde „vor allem der Zeitgeist“.
Aus „allein Christus“ wurde „besonders links-grün“.
Aus „allein die Gnade“ wurde „vorzugsweise politische Moral“.
Und aus „allein der Glaube“ wurde „die Sorge um das Ansehen im Mainstream“.

Bei so grundlegender Selbstzerstörung der Kirche und ihrer eigenen Wurzeln reichen leider ein paar intellektuelle Klimmzüge zur Neuorientierung in der Friedensethik angesichts „faktischer militärischer Aggression“ nicht aus.

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