Tichys Einblick
Zieh dich warm an!

„Den Mantel bringe mit und die Bücher“

Es ist November. Die Tage werden kälter. Die Temperaturen um uns können wir nicht beeinflussen. Aber die Temperaturen in uns. Wir können uns wärmen mit einem Mantel.

Auch in unserer Gesellschaft wird es kälter. Die Säulen des Wohlstandes wanken; liberale und rechtsstaatliche Errungenschaften verdunsten im alternativlosen Welt-Transformations-Wahn. Niemand kann seiner Epoche entfliehen. Wohl dem, der kritische und kluge Nachrichtenquellen hat, mit denen er zumindest in seinem Inneren das zivilisierte Universum wieder aufbauen kann, das heute allzu leichtfertig niedergerissen wird. Eine intelligente Meinung zu hören, versöhnt mit dem Leben und ist wie ein wärmender Mantel in fröstelnden Zeiten.

Das Martinsfest erinnert im November das ganze Land daran, dass wir für die Winterzeiten einen Mantel brauchen. Gut, wenn wir dabei die frierenden Menschen an unserer Seite im Blick haben, die zuweilen auch in einem heißen Porsche sitzen können. Ein wärmender Mantel ist in Winterzeiten überlebensnotwendig. Das wissen alle Menschen, egal ob atheistisch, muslimisch oder christlich. Nur Kulturbanausen und Menschenverächter halten das menschliche-allzumenschliche Martinsfest für ein spezifisch christliches Fest. Sich wärmen lassen und von seiner Wärme weitergeben, ohne sich dabei selber zu verausgaben, ist für alle Menschen Grund zum feiernden Erinnern.

Im Lateinischen heißt der Mantel „pallium“. Ist ein Mensch unheilbar krank, hält ihm die „palliative“ Medizin den Mantel hin. Wenn körperliche Heilung nicht mehr möglich ist, gibt es noch den Mantel: die Schmerzstillung, die Berührung, das wärmende Schweigen und Gespräch, den Zeigefinger zum Himmel.

Das lateinische Wort „capella“ heißt „Mäntelchen“. Die kleine „Kapelle“ am Wegrand oder vor Ort kann zum „Mäntelchen“ für die Seele werden. Das Mauerwerk angefüllt mit Lebensfeiern und Danksagungen, aber auch mit Klagen und Tränen machen diesen Raum zu einem besonderen. Die Einsamkeit, in der man zutiefst friert, ist nicht jene, in der man den Nachbarn entbehrt, sondern die gottverlassene. In der Kapelle leuchtet das Kreuz Jesu, der göttliche Mantel selbst in den Zeiten größter Gottverlassenheit.

Paulus sitzt im Gefängnis. Wegen seines christlichen Glaubens haben ihn die Römer verhaftet. Er schreibt an seinen Freund Timotheus: „Meinen Mantel bringe mit, wenn du kommst, und die Bücher“ (2. Timotheus 4,13). Paulus weiß, was er zum Überleben braucht; den Freund, den Mantel und das gute Wort. Die Seele reinigt sich in den stillen Gewässern, in denen sich der Schlamm absetzen kann.

„Zieh dich warm an!“ Dieses Wort meiner Mutter habe ich im Winter immer noch im Ohr. Ihr wurde als Jugendliche auf der Flucht aus Pommern der Mantel von einem Polen abgenommen. Als Mädchen wurde sie auf dem Schulhof vor den Augen des Lehrers von einigen Jungens verprügelt, weil sie gesagt hatte, dass die Sonne größer wäre als Adolf Hitler. Später musste sie für die Gräueltaten der Deutschen büßen. Es wäre zu schön, wenn nur die Wähler für ihren eigenen gewählten Irrsinn büßen müssten. Doch es gibt leider keine irdische Gerechtigkeit. Das Kreuz Jesu lehrt: Es trifft gerade die Besten. Unendliche viele Blasenentzündungen erinnerten meine Mutter das ganze Leben an den fehlenden Mantel.

„Zieh dich warm an!“ Zu oft war ich als Jugendlicher mit kurzen Hosen noch im November mit dem Fahrrad zur Schule gefahren. Manche Erkältung brachte mir dieses pubertäre Spielen des starken Mannes ein. Es braucht Gespür und Lebenserfahrung, um herauszubekommen, wie viel an Mantel ich wirklich brauche und wo ich den passenden Mantel finden kann.

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