Tichys Einblick
Vorwort zum Sonntag

Demokratische Gedankensplitter in demokratievergessenden Zeiten

Wer die Axt an die Vielfalt der Bürgermeinungen legt, wie es die Zensuraufforderungen „Netzwerkdurchsetzungsgesetz“ und der europäische „Digital-Services-Act“ tun, der legt die Axt an die Demokratie.

Demokratie ist nicht, wenn der Bundespräsident sich behaglich und selbstzufrieden „im besten Deutschland aller Zeiten“ zurücklehnt, weil die Regierung die parteipolitische Agenda des Bundespräsidenten umsetzt.

Demokratie ist nicht, wenn du zwischen Fanta, Sprite, Mezzo-Mix und Coca-Cola wählen darfst, um dann erstaunt festzustellen, dass alle vier Marken zu Coca-Cola gehören.

In einer Demokratie geben die gewählten Repräsentanten des Volkes die Macht nicht an einen undemokratischen Verein wie die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ab.

Demokratie ist nicht überall da, wo man vorlaut von „Demokratie“ plappert; das lehrt die undemokratische Deutsche Demokratische Republik.

Demokratie ist die Herrschaft der Bürger. Bürger sind eine Vielzahl von Menschen mit großen individuellen politischen Unterschieden. „Bürgerherrschaft“ gibt es nur in der Kontroverse. Wer den politischen Streit innerhalb der Gesellschaft beklagt, beklagt Demokratie. Nur auf Kuba und im deutschen öffentlich-„rechtlichen“-Rundfunk gibt es bei vielen Themen keine gespaltene Gesellschaft.

Demokratie ist da, wo die politische Spitze gespalten ist in Regierung und Opposition. Die Kernaufgabe der Opposition ist es, die Regierung zu kritisieren und mit demokratischen und friedlichen Mitteln abzulösen.

Das zerstört die Demokratie, wenn sich die Mehrheitsgesellschaft für moralisch überlegen, unfehlbar, heilig hält und sich dann anmaßt, mit allen ihr zur Verfügung stehenden Machtmitteln oppositionelle Kräfte zu diffamieren.

Demokratie ist nicht die Tyrannei der Mehrheit über die Minderheit. Demokratie ist auch nicht die Tyrannei der Minderheit über die Mehrheit. Demokratie ist ein rechtsstaatlich geregeltes diskursives Verfahren zum möglichst fairen Umgang zwischen Mehrheiten und Minderheiten.

Demokratie basiert auf einer Verfassung, die das für den Staat gültige politische Spielfeld absteckt. Unsere Verfassung steckt aus guten Gründen ein weites Spielfeld ab. Wenn der Staat Menschen vom Spiel ausschließt, die sich innerhalb des Spielfeldes befinden, wird der Staat zum Totengräber von Verfassung und Demokratie.

Im Unterschied zur Weimarer Republik kennt die Bundesrepublik das Parteienverbot. Wenn jemand denkt, dass eine Partei außerhalb des freiheitlich-demokratischen Spielfeldes steht, sollte er nicht lamentieren oder schikanieren. Es wäre vielmehr seine demokratisch-rechtsstaatliche Pflicht, mit seinen Beweisen das Verbot dieser Partei beim Bundesverfassungsgericht zu beantragen. Sollte das Gericht zu einem anderen Ergebnis kommen, bleibt dem Demokraten nur die argumentative Auseinandersetzung.

Das Verhältnis von Demokratie zur Diktatur ist nicht schwarz-weiß. Es gibt viele Grautöne. Darum ist Kritik zugunsten einer Verbesserung der Demokratie nicht nur erlaubt, sondern sogar notwendig. Die Frage nach der Qualität einer Demokratie ist keine Blasphemie außerhalb des demokratischen Diskurses.

Demokratie ist, wenn man „der Kaiser ist nackt“ rufen darf und dafür nicht wegen „Hass und Hetze“ verklagt wird.

In einer Demokratie darf man die Demokratie eine „Diktatur“ nennen, zumal wenn man mehr Demokratie wagen möchte. In einer Diktatur wird man sanktioniert, wenn man eine Diktatur „Diktatur“ nennt.

In einer Demokratie ist eine Frage niemals endgültig entschieden, solange es noch unterschiedliche Interessengruppen und Meinungen gibt. Entscheidungen sind nur so lange entschieden, bis sich der politische Wind dreht. Warum sollte es zum Beispiel in einer Demokratie beim Thema Atomkraft nicht noch fünf weitere 180-Grad-Wendungen geben können?

Demokratie ist gefährdet durch Zuwanderung. Zuwanderung erhöht den Pluralismus in einem Land, weil noch ganz neue Mentalitäten, Religionen und Denkweisen hinzukommen. Der damit erhöhte Pluralismus kann demokratisch funktionieren, wenn alle noch intensiver an der rechtsstaatlichen Regelung des Pluralismus festhalten. Ein Land wie die Schweiz hält problemlos drei unterschiedliche Landessprachen aus, weil die rechtsstaatliche Regelung der Vielfalt funktioniert. Wenn aber Teile der einheimischen Bevölkerung den demokratischen Rechtsstaat nicht mehr verstehen und dann zusätzlich noch autoritär denkende Menschen einwandern, beschleunigt Zuwanderung den Verfall der Demokratie.

Demokratie ist gefährdet durch Unterdrückung des demokratischen Kerngedankens „Bürgerherrschaft geht nur pluralistisch“. Diese Unterdrückung geschieht auf mannigfache Weise:

Wer die Axt an die Vielfalt der Bürgermeinungen legt, wie es die Zensuraufforderungen „Netzwerkdurchsetzungsgesetz“ und der europäische „Digital-Services-Act“ tun, der legt die Axt an die Demokratie. Auch Regenbogenfahnen auf dem Reichstag, wodurch einseitig eine partielle Bürgerideologie staatlich verabsolutiert wird, sind Krankheitssymptome einer pluralismusaushebelnden Regierung und einer demokratievergessenden Bevölkerung.

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