Ich mag Kants berühmte Definition von Aufklärung, ich kann sie nicht oft genug lesen:
„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.
Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.
Selbstverschuldet ist die Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen.
Sapere aude!
Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Das ist der Wahlspruch der Aufklärung.“
Was für großartige Worte!
Und doch hat dieser Aufruf auch etwas Irritierendes. Das Genie Kant ruft den Menschen dazu auf, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Das ist genauso paradox wie der „Sei-jetzt-mal-endlich-spontan-Befehl“. Kant macht sich mit seinem Aufruf ungewollt zum Vormund der Menschen.
Genau hier setzt meine Kritik an:
Aufklärung ist für mich kein Selberdenken mit sauberer Sprache im sterilen Reinraum, so wie es das Schweizer Uhrwerk Kant gemacht hat. Kant hat niemals Königsberg verlassen, obwohl er mit dreifachem Gehalt an die damals führende Universität Halle hätte wechseln können. „Alle Veränderungen machen mich bange“. Welterfahrung war Kant nicht wichtig. Für Kant geschieht Aufklärung in der Emanzipation des reinen, vom anderen isolierten Verstandes. Kant steht für autonomes Denken im erhabenen Elfenbeinturm.
Mit dem christlichen Glauben an den heruntergekommenen Gott möchte ich dagegenhalten: Aufklärung ist ein hochstrittiges Kommunikationsgeschehen mit unzähligen Akteuren, mit Kräften aus der Höhe und aus der Tiefe, ein Kampf mit Machtmitteln und Machtmissbrauch, ein Streit mit Verdrehungen und Manipulationen. In diesem Irrsal und Wirrsal der Aufklärung bediene ich mich gerne der (An)Leitung von anderen, die erfahrener und kleverer sind und die mir Wissen voraushaben. Jesus der „Rabbi“, der Meister, der Lehrer, der Anleiter ist einer seiner Hoheitstitel in den Evangelien. Aufklärung ist Dialog. Auch der Dialog unter Ungleichen, zwischen Lehrern und Schülern.
Das hat nichts mit Habermas’ „idealer Sprechsituation“ zu tun, in der alle ohne Ansehen von Namen, Rang und Status durch den freien Austausch von Argumenten auf Augenhöhe miteinander kommunizieren. Solche weltfremden Kommunikationsvorstellungen nach dem Reinheitsgebot können nur im Elfenbeinturm konstruiert werden. Die Realität der Aufklärung sieht anders aus als die wohltemperierte Debattierkultur des Kaffeehauses. Bei Jesus geschieht aufklärerische Kommunikation bis in die tiefsten Tiefen des Kreuzes hinein: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“ (Lukas 23,34). „Der Hauptmann aber, der dabeistand und sah, dass er so verschied, sprach: Wahrlich, dieser Mensch ist Gottes Sohn gewesen“ (Markus 15,39). Die Aufklärung Gottes ist Mitteilung unter Einsatz des eigenen Herzblutes.
Ich freue mich, dass Tichys Einblick sich nicht zu schade ist für den Schmutz der Niederungen der aufklärerischen politischen Kommunikation. Im Haifischbecken der Medien, wo anhand von Namen, Rang, Status und politischer Ausrichtung gnadenlos diskriminiert wird, bringt man sich mit seinen Kräften ein; mit frecher Nüchternheit und frischem Mut, aber auch mit Spott, Ironie und Provokation. Politische Machtbegriffe und Ideologien können wie winzig kleine Arsendosen sein, die in der Gesellschaft unbemerkt eingenommen werden und die dann mit der Zeit ihre giftige Wirkung entfalten. Entgiftung mithilfe der vierten Gewalt braucht mehr als die liebliche Rhetorik eines Kosmetik-Studios, zumal die Machthabenden ihre Deutungshoheit mit Hauen und Stechen und Wahnseh-Propaganda verteidigen.
Aufklärung ist Kommunikation mit all ihren Tücken.
Aufklärung ist ein leidenschaftliches Hin und Her.
Aufklärung ist ein dialogischer Prozess, in dem man nicht als Sieger vom Platz gehen will, sondern in dem man zur Erkenntnissteigerung und zu Verbesserung der Lage beitragen möchte.
Meine Hochachtung gilt dem großen deutschen Denker im Elfenbeinturm aus Königsberg, von dem ich mich gerne als Vormund anleiten lasse, selbständiger zu denken. Kant als Meister der reinen Vernunft macht mir Mut, mit meiner unreinen Vernunft sogar ein Genie wie ihn kritisieren zu dürfen.