Ein Arzt bietet in einer Kleinstadt einen „Offenen Impftag“ an, mit 1000 Impfdosen, die man sich ohne vorherige Anmeldung injizieren lassen kann. Über diese einigermaßen spektakuläre Aktion berichtet der Münchner Merkur mit dem Untertitel: „Verzweifelte campieren sogar vor seiner Tür“. An die 1500 bis 2000 Verzweifelte? Die so sehr um ihr Leben fürchteten, dass sie auch von weither schon am Tag zuvor angereist kamen?
Von ähnlichen Massen Verzweifelter berichten derzeit auch Apotheken, die eine Digitalisierung des Impfpasses anbieten: Überlastete Telefonzentralen und Warteschlangen wie einst in der DDR.
Kurz: Haben wir es wirklich mit einer vom täglichen Inzidenzbericht in Panik versetzten Masse zu tun, die alles glaubt, was Politik und Medien ihr einbleut? Das ließe auf eine geradezu untertänige Regierungsgläubigkeit schließen. Wie sagte Jan-Josef Liefers in bewusster Anspielung auf die DDR: „Verzweifeln Sie! Aber zweifeln Sie nicht“.
Gesundheitsminister Spahn vermutete zu Beginn der Panikpandemie, man werde einander am Ende vieles zu verzeihen haben.
In der Tat: Nicht nur, dass die Regierung auf die behauptete nationale Notlage erschreckend wenig vorbereitet war, und dass man stets mit unbrauchbaren Daten und Zahlen operierte. Die Zahl positiv Getesteter entsprach nie der Zahl tatsächlich Infizierter oder Infektiöser. Wer an Corona starb, starb meistens eher mit. Ein Wert wie „Inzidenz“ ist unbrauchbar für die Bestimmung des tatsächlichen Risikos einer Infektion. Der größte Skandal war die Behauptung, die Intensivstationen gerieten an ihr Limit. Eine Meldung, die strengste „Maßnahmen“ zu rechtfertigen schien. Tatsächlich waren sie so ausgelastet wie bei jeder Grippeepidemie auch und dank der Politik falscher Anreize ließen sich Krankenhäuser für Intensivbetten bezahlen, die sie gar nicht vorhielten. Der vorerst letzte Witz ist der Betrug durch aus dem Boden gestampfte Testzentren, wo die Cleveren weit mehr abrechneten, als sie tatsächlich testeten.
Irgend jemand wird sich einmal hinsetzen und ausrechnen, was allein der Markt für Schutzmasken, Testkits und nicht zuletzt Impfdosen für unfassbare Umsätze generiert hat.
Doch mehr noch werden die Medien um Verzeihung bitten müssen, die das Spiel nicht nur gläubig mitspielten, sondern fleißig dafür sorgten, dass die Verzweifelten nicht zu zweifeln wagten. Als Aluhutträger, Schwurbler, Verschwörungsgläubige und andere Staatsfeinde wurden alle ausgedeutet, die infrage zu stellen wagten, was doch „die Wissenschaft“ erwiesen habe. Das ist, wie der Sozialwissenschaftler Wolfgang Merkel schreibt, der erschreckende Erfolg einer Moralisierung der Politik, die „der Wissenschaft eine wesensfremde Immunisierung“ andient, wissenschaftliche Erkenntnisse absolut setzt „und als moralischen Imperativ der Politik suggerieren (will): ‚follow the science‘.“
Doch Zweifel ist das Grundprinzip aller Wissenschaft – und gehörte einst zur Grundausrüstung von Journalisten, die sich als „kritisch“ begriffen. Doch viel zu viele ersetzten (nicht erst) in den letzten Monaten investigative Neugier durch lustvolles Warnen und Mahnen, kurz: durch Panikmache, verbunden mit dem Anprangern abweichender Meinungen.
Wiesendanger erntete einen teils verleumderischen Proteststurm. Keinen Proteststurm erntete dagegen Renate Künast, als sie die Landwirtschaft zum Schuldigen ausrief: Der Grund für Corona sei „die falsche Art und Weise, wie wir unsere Nahrungsmittel produzieren, Landwirtschaft betreiben und mit der Umwelt umgehen“. Schuldige Bauern passen halt besser zur grünen Agenda.
Man wird also viel zu verzeihen haben – auch den Medien. Es ist ein Trauerspiel, „dass nicht nur Aluhutträger und Verschwörungstheoretiker, sondern auch Journalisten ihr Geschäft mit der Angst betreiben und dabei auch immer wieder dem journalistischen Herdentrieb folgen“, schließt der Medienforscher Stephan Russ-Mohl. Es könnte sein, dass sich auch der Journalismus mit dem Ende der Panikpandemie neu erfinden muss.