Vielleicht muss man es ihnen nachsehen, wenn sie voller Wut auf auch nur den kleinsten Einwand gegen das derzeitige Impfregime reagieren. Vielleicht muss man ihnen verzeihen, wenn sie einen enthemmt beschimpfen, nur weil man Zweifel daran äußert, dass Impfen der „Gamechanger“ sei. Vielleicht muss man es sogar ertragen, dass sie eine ganze Bevölkerungsgruppe – die Ungeimpften – einsperren oder wenigstens aussperren möchten, was unter anderen Umständen als „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ strafwürdig wäre.
Kaum noch erträglich finde ich allerdings den beliebten Verweis auf die Intensivstationen, auf denen lauter röchelnde Covidkranke lägen – und den Wunsch, man möge ungeimpft Erkrankten das Intensivbett verweigern. Das widerspricht nicht nur den Belegungszahlen auf den Intensivstationen (in diesem Jahr mit weniger Betten ausgestattet als im vergangenen Jahr), dort liegen überwiegend bedauernswerte Menschen aus ganz anderen Gründen. Es ist auch von einer Gehässigkeit, die mich langsam erschüttert.
Und ganz und gar unverständlich finde ich Meldungen wie „Die Zahlen explodieren“. Ja, welche denn? Die Zahlen positiver Tests? Die Zahlen Infizierter? Die Zahlen Erkrankter? Die Zahlen Hospitalisierter? Die Zahlen der Toten? Ohne solche Differenzierungen betreibt man, mit Verlaub, nichts als Panikmache. Es wiederholt sich der schlechte Stil von 2020: nichts dazugelernt.
Die Panikmache zeitigt üble Folgen. Den mit dem Versprechen auf Normalität Getäuschten und somit Enttäuschten wird von allen Seiten ein Sündenbock schmackhaft gemacht: die Ungeimpften. Denn Enttäuschung braucht ein Ventil.
Ich erinnere mich noch gut an die Nachricht eines Verwandten im April, seine Familie sei bereits geimpft, was viele „neidisch“ mache. Stolz darauf sein, dass man Neid erzeugt? Hm. Der Absender war ein Pfarrer.
Wenn alle geimpft sind, kehrt die Normalität zurück? Mitnichten. Das Impfen hat keine Immunität erzeugt – womit im übrigen auch nicht zu rechnen war. Doch das wurde versprochen. Die „Schutzwirkung“ lässt rasant nach. Auch das widerspricht der anfänglichen Euphorie. Selbst doppelt und dreifach Geimpfte können infiziert und ansteckend sein, und wer sich endlich frei gefühlt hat, sein Leben wieder ungehindert und in vollen Zügen auskosten zu dürfen, ohne Rücksicht nehmen zu müssen, erweist sich nun womöglich als weit gefährlicher als ein regelmäßig getesteter gesunder Ungeimpfter.
Wie soll man da die Frustration der Geimpften nicht verstehen, jener tapferen Versuchskaninchen, wie Olaf Scholz sie getauft hat? Doch ihr Zorn entlädt sich über den Falschen. Der „Solidarität“, die es gebiete, sich impfen zu lassen, wäre womöglich schon genüge getan, wenn sich wenigstens alle testen lassen – obwohl, da hat Jens Spahn wohl recht, die Pandemie dann niemals aufhören würde…
Und da befinden wir uns nun: In einer Endlosspirale, aus der niemand mehr herausfindet. Eine sachliche Ebene des Austauschs existiert nicht. Stattdessen greift zum stets beliebten Mittel der Moralisierung, wer zum Halali auf den Sündenbock bläst: Egoistisch sei der „Impfverweigerer“, der womöglich einfach nur ein Skeptiker ist, unsolidarisch, er gefährde das Leben aller, sorge für volle Intensivstationen und dafür, „dass unsere Angehörigen auf ihre Krebsoperationen warten müssen“.
Wie macht er das nur, der gesunde, mehrfach getestete Mensch, der doch im übrigen von allen Angelegenheiten ausgeschlossen ist, bei denen er auf gute, solidarisch Geimpfte treffen könnte? Warum muss ein Geimpfter Angst haben vor einem Ungeimpften, wenn die Impfung doch Schutz verheißt? Und wie kann es sein, dass sogar der Aufenthalt ausschließlich unter Geimpften zur Infektion führen kann?
Kurz: Es impfe sich, wer will. Das Versprechen aber, damit aus dem Schneider zu sein, ist eine womöglich noch nicht einmal bewusste Täuschung gewesen. So verständlich der Frust darüber ist: man sollte ihn nicht an den Falschen auslassen.