Als vor gut einem Jahr ein Polizist in Nanterre, einem Vorort von Paris, bei einer Verkehrskontrolle einen polizeibekannten jungen Mann namens Nahel erschoss, gab es nächtelang Krawall, Plünderungen, Brandanschläge, Angriffe auf Polizisten. In einer Woche wurden mehr als 1000 Gebäude und 200 Schulen zerstört, 5000 Autos angezündet, ganze Stadtviertel demoliert. Und für den jungen Nahel gab es eine Schweigeminute in der Nationalversammlung, Emanuelle Macron bekundete sein Beileid.
Für den 16-jährigen Thomas gab es keine Schweigeminute in der Nationalversammlung. Thomas, aus einem Dorf südlich von Valence, in Crépol, einem Ort mit 500 Einwohnern, feierte mit seinen Nachbarn am 18. November dieses Jahres im Gemeindesaal den jährlichen Winterball, bis gegen zwei Uhr morgens. Doch draußen wartete eine Bande Jugendlicher, die mit ihren Messern siebzehn Personen verletzten, zwei davon schwer, einen, den 16-jährigen Thomas, tödlich. Angeblich hätten die arabischstämmigen Jugendlichen im typischen Vorstadt-Outfit „Wir wollen Weiße abstechen“ gerufen.
Rassismus gegen Weiße? Mais non. Auf solche Ideen können nur Rechtsradikale kommen, n’est ce pas? So tönte es in den Medien, weil Marion Maréchal von Éric Zemmours rechter Reconquête genau das vermutete und dazu aufforderte, entschieden zu reagieren, „bevor das Leben in Frankreich zur Hölle wird“.
Auch für Maréchals Tante Marine Le Pen ist die Messerattacke von Crépol der Beweis dafür, dass die Gewalt aus den Banlieues die ländlichen Gebiete erreicht hat. Doch weil auch in Frankreich der Kampf gegen Rechts oberste Priorität ist, zumal Marine le Pen bereits verdächtigt wird, die nächste Präsidentin werden zu können, wird die trostlose Angelegenheit als „rixe“ (Prügelei) verharmlost. Proteste gegen den Messermord, hieß es bald, auch bei der „Zeit“ in Deutschland, spielten nur den Rechten in die Hände.
Was sagt uns das, dieses Messen mit zweierlei Maß? Haben Politik und Medien mehr Angst vor dem Zorn junger Männer mit Hintergrund, weshalb sie hier beschwichtigen und dort kleinreden?
Der Kinderpsychiater Maurice Berger kritisiert die „Unfähigkeit unserer Politiker, Gegenmaßnahmen durchzusetzen“ – und spricht von einer „Sphäre der Verleugnung“.
„Eine Reihe von Medien, Soziologen und Politikern, die sich aus ideologischen Gründen weigern, die Realität zu sehen. Sie betrachten Gewalttäter als Opfer unserer hässlichen Gesellschaft. Und sie diffamieren jene, die die Realität benennen, als Faschisten. Diese Schuldzuweisung hat während Jahren verhindert, dass die Gewalt analysiert wurde und Maßnahmen dagegen getroffen wurden. Die Realitätsverweigerer sind zum großen Teil für die heutige Situation verantwortlich.“
Die Augen feste zu. Obzwar die messernden Jugendlichen gerufen haben, sie wollten Weiße töten, will die Staatsanwaltschaft nicht von einem rassistischen Hintergrund der Tat sprechen. Die „critical white theory“ ist offenbar mittlerweile auch bei den Rechtspflegern fest verankert, wonach Weiße stets Täter und nie Opfer sind.
Berger unterscheidet mit Margaret Mead Kulturen der Schuld von denen der Scham und Ehre. „Nichts ist leichter, als einen westlichen Menschen dazu zu bringen, sich schuldig zu fühlen“, konstatiert Berger. „Je mehr sich die Mitglieder der Schuldgesellschaft schuldig fühlen und von ‚Benachteiligten‘ sprechen, desto mehr inszenieren sich die Mitglieder der Gesellschaft der Scham als Opfer. Es wird nicht aufhören, egal, wie viel Geld in diese Viertel geschüttet wird.“
Denn dort, wo der Familienclan über dem Individuum steht, ist Autonomie nicht erlaubt. Die Ehre des Clans steht über den Gesetzen des Landes. Das ist ein Problem, das man weder mit Geld noch mit Integrationskursen aus der Welt schaffen kann. Insofern ist die Erleichterung von „Familiennachzug“ keine freundliche humanitäre Geste, sondern der sichere Weg, noch mehr sozialen Sprengstoff zu importieren.
Warum tun wir uns das an? Und wann fangen die „Weißen“ an, endgültig ihr Vertrauen in den Staat zu verlieren, der sich so offenkundig darauf verlässt, dass die autochthonen Bürger nicht auch zum Messer greifen?