Gut, das Z ist derzeit ebenso verpönt wie das N oder M, und doch verliert seit dem russischen Angriff auf die Ukraine manch hitzige Debatte ihre angemaßte Bedeutung. Dafür kommen Worte wieder ins Spiel, die man einst ebenso wie das N- oder M-Wort in Acht und Bann gestellt hatte: Volk und Vaterland, Held und Kampf, Patriotismus und Vaterlandsliebe, kulturelle oder gar nationale Identität. Der Widerstand in der Ukraine gegen den russischen Angriff erlaubt offenbar, wieder von Dingen zu sprechen, die im Universum der medialen und politischen Eliten Deutschlands lange Zeit tabu waren.
Doch so ist es. Während der modische Tribalismus der diversen Identitäten spaltet, erlaubt erst die Vorstellung einer weit größeren Gemeinschaft jene vielberufene „Solidarität“, die uns hierzulande ständig abgefordert wird. Ein Widerspruch, wenn es doch zugleich heißt, alles müsse noch vielfältiger und noch diverser werden. Mounk: „Die meisten diversen Gesellschaften der Geschichte sind grausam gescheitert.“
Nun: Die Alternative zu einer Gesellschaft der Stammesfehden ist längst erfunden. Das Ding heißt Nationalstaat. Überall auf der Welt, nur nicht in Deutschland, erfreut er sich anhaltender Beliebtheit: Bis 1914 hat man um die 50 souveräne Staaten weltweit gezählt, 1960 gehörten den Vereinten Nationen 82 Staaten an, 2015 bereits 193. Nicht gerade selten stellte sich das nationale Zusammengehörigkeitsgefühl in kriegerischen Auseinandersetzungen her: Wofür man Opfer bringt, ist wertvoll – denn es muss es wert sein.
Kulturelle, religiöse und ethnische Nähe spielte bei den meisten Staatsbildungen der letzten Jahrzehnte eine große Rolle. Warum? Weil Ähnlichkeit das Zusammenleben erleichtert. Weil es entlastend ist, wenn man sich über die Modalitäten des ganz normalen Lebens nicht immer wieder neu verständigen muss. Zugleich aber bietet die größere nationale Einheit Wege ins Offene, über die engen Familien- und Nachbarschaftsbande und über die neuen Stämme der unendlich vielen Identitäten hinaus.
Regeln und Institutionen, Sitten und Gebräuche sind nicht nur Gefängnisse der Individuen, sie dienen vielmehr ihrer Entlastung: Nicht alles muss „ausdiskutiert“ werden, gut ist, wenn man sich auf einiges schlicht verlassen kann. Selbst Gewohnheiten können befreiend wirken.
Haben deutsche Politiker womöglich den deutschen Nationalstaat längst aufgegeben? Klassische Aufgaben des Staates – für Sicherheit sorgen, die Grenzen schützen und sich um die Wohlfahrt der eigenen Bürger kümmern – sind irgendwie in Vergessenheit geraten. Dass sich das Land schon lange nicht mehr selbst verteidigen kann, hat sich herumgesprochen. Dass die Regierungen der vergangenen Jahre nicht das mindeste unternommen haben, um im Falle des Falles – Energie- oder Lebensmittelknappheit – die eigene Bevölkerung zu schützen, sondern ganz im Gegenteil für wachsende Abhängigkeit von nicht immer friedliebenden Nachbarn wie Russland gesorgt haben, ebenfalls. Während die Ukraine zeigt, welche Kraft darin steckt, sich als Nation mit gemeinsamen Interessen zu begreifen, gibt Deutschland sich auf.
„Das einst recht homogene Volk soll sich in einen Stamm unter Stämmen verwandeln“, konstatierte Rolf Peter Sieferle. Deutschland als Siedlungsgebiet für alle möglichen Identitäten und Parallelgesellschaften oder als Ort von Menschen mit einer weitgehend gemeinsamen Vergangenheit, Kultur und Sprache? Das Gefühl für das, was uns eint – oder einen könnte – schwindet. Deutschland hat sich abgeschafft.