Horst Köhler, deutscher Bundespräsident ab 2004, trat während seiner zweiten Amtszeit im Mai 2010 zurück. Er hatte auf dem Rückflug nach einem Besuch bei Bundeswehrsoldaten in Afghanistan einem Journalisten gegenüber erklärt, dass zur Wahrung der eigenen Interessen etwa an freien Handelswegen auch militärischer Einsatz notwendig sein könne, das müsse zumindest diskutiert werden.
Nun, es wurde nicht diskutiert. Es wurde skandalisiert. Krieg – schnöder wirtschaftlicher Interessen wegen? Also so eine Art „Blut für Öl“? Das skandierten empört die deutschen Pazifisten 1991, als eine internationale Koalition unter Führung der USA die völkerrechtswidrige Annexion Kuweits durch Iraks Saddam Hussein beendete, der zudem Israel mit der Ausradierung drohte. Ja, es ging auch um Öl – aber auch darum, keiner Macht die eigenmächtige Korrektur von Grenzen zu gestatten. Die Gegenaktion war durchaus legitim – sie beschränkte sich übrigens (damals noch) auf dieses Ziel, ohne etwa ein Ende des Diktators anzustreben, wie man sich das als Menschenfreund vielleicht wünschen mochte.
Der freie Zugang zu Ressourcen ist für alle Nationalstaaten überlebensnotwendig. Nicht ein vitales Interesse ist das Skandalon – sondern vielmehr dessen moralische Aufladung. Die aber kommt immer dann, wenn es am legitimen Interesse hapert. US-Präsident Woodrow Wilson etwa begründete die Intervention der USA im ersten Weltkrieg damit, man wolle die Welt „safe for democracy“ machen. Klingt gut, gehört aber nicht zu einem legitimen Kriegsziel: Keine der kriegsführenden Parteien ist legitimiert, der unterlegenen Seite eine wie auch immer sympathische Staats- oder Regierungsform oder ein bestimmtes Wirtschaftssystem aufzunötigen.
Meistens hat etwas zu verbergen, wer solche hohen Töne anstimmt. Dies sei ein Krieg gewesen, „um alle Kriege zu beenden“ – wieder Woodrow Wilson 1917: Ein bescheideneres, legitimeres Interesse vermochte er wahrheitsgemäß nicht zu benennen. Auch die Briten mussten 1914 den „Kampf der Zivilisation gegen die Barbarei“ bemühen, um ihr Eingreifen in einen lokalen Konflikt zu legitimieren – in Christopher Clarks Buch „Schlafwandler“ nachzulesen. Die Behauptung einer solchen moralischen Mission machte den Gegner, ganz nebenbei, zu einem „Barbaren“, demgegenüber die Gesetze der Mäßigung nicht gelten.
Je weniger „legitim“ einer demokratischen Öffentlichkeit ein Krieg erscheint, je weniger sie bereit ist, eine militärische Auseinandersetzung als Konfliktlösungsinstanz hinzunehmen, desto eher müssen Menschheitsanliegen bemüht werden, wo es doch womöglich “nur“ um die Machtbalance oder um den Zugang zu Ressourcen geht.
Moralisieren entgrenzt. Die Fiktion, es gebe eine gute, eine „richtige“ Seite macht den Gegner zum absoluten Feind. Dabei entscheidet nicht die richtige Moral über den Sieg, sondern das durchaus unzuverlässige Kriegsglück.
Auch hier wieder der hohe Ton, der im Grunde das jetzt eingetretene Desaster vorwegnimmt. Angela Merkel aber scheut sich nicht, die Anmaßung der „Mission“ auch jetzt noch hochzuhalten: „Wir wollten ein Land aufbauen mit demokratischer Struktur, das ist nicht gelungen. Es gab keine Bindung der afghanischen Streitkräfte zum Volk, es hat nicht so funktioniert, wie wir uns das gedacht haben.“ Ihre Schlussfolgerung: „Wir müssen auch woanders schauen: Was kann man erreichen durch ein solches Eingreifen? Wie können wir politische Ordnungen in anderen Ländern implementieren?“
Warum sollten „wir“ das tun? Womöglich war die Bindung der mit Millionen von (deutschen) Steuergeldern ausstaffierten afghanischen Streitkräfte ans Volk ganz im Gegenteil stärker, als man geglaubt hat – sonst hätten die Taliban nicht so locker durchmarschieren können. Ein Volk, das womöglich auch von Angela Merkel keine hierzulande bevorzugte „politische Ordnung“ verschrieben bekommen möchte.
Ja, man könnte heulen, wenn man sieht, was jetzt geschieht. Nicht nur der Frauen wegen, die ihre Freiheit nur kurz haben genießen können. Eine „Sandalenarmee“ hat den Beweis angetreten, dass Demokratieexport nicht funktioniert, „wenn hochgerüstete Armeen in fremden Kulturen einen Krieg ohne militärisches Ziel und ohne Bereitschaft zum Sieg kämpfen.“
Kriege, die nicht gewonnen werden können, sollte man gar nicht erst anfangen.
Doch wenigstens einer lacht: China. Peking erkennt die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan an, „respektiert die Entscheidung der Menschen in Afghanistan, und hofft auf einen ruhigen Übergang.“ http://www.dernewsticker.de/news.php?id=415508