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Frankreich: Baguettes et cigarettes

Zu den Ergebnissen der jüngsten Parlamentswahlen und dem starken Abschneiden der Partei von Marine Le Pen wird wieder einmal sehr viel von deutschen Autoren in die französische Volksseele hinein psychologisiert. Kolumnisten Cora Stephan lebt mit und unter Franzosen und hat eine andere Sicht auf die Dinge.

IMAGO

Ach, die Provinz. So schön ist es in Frankreich – jenseits von Paris oder der Côte d’Azur! Ich weiß, wovon ich rede. Dank der Landflucht nach dem Pariser Mai 1968, dem sich mein Bruder und seine Lebensgefährtin anschlossen, kenne ich die wilden Berge der Ardèche. Die einst bitterarme Gegend bot damals jede Menge halb verfallener Bauernhäuser, ideal für die Freaks, die vom alternativen Leben träumten und das eine oder andere alte Gewerk wiederbelebten, auch wenn sie sich beim Verlegen von Elektroleitungen nicht immer sonderlich geschickt anstellten.

Meine drei Neffen, die heute in liebevoll restaurierten alten Steinhäusern leben, haben zwar deutsche Eltern, sind aber standfeste Franzosen, die im Vivarais zuhause sind, ca. 630 km entfernt von Paris. Die belgischen, niederländischen und deutschen Touristen sind in dieser Gegend beinahe beliebter als Pariser, denn sie bringen wenigstens Geld. Im übrigen spricht man hier ein Patois, dass sich vom Pariser Französisch deutlich unterscheidet.

Dass man Paris und seine Eliten nicht liebt, gilt sicherlich auch für andere Gebiete in La France profonde, der Provinz. Im Vivarais hat die Abneigung jedoch auch historische Gründe, die noch heute präsent sind. Hier war ein Zentrum des Protestantismus, also auch der Hugenottenverfolgung. Deren hinhaltender Widerstand wurde erst Anfang des 18. Jahrhunderts gebrochen.

Als Sarkozy 2007 Staatspräsident wurde, machte sich in meiner Familie so etwas wie Hoffnung breit, dass sich nun etwas ändern würde. In der Provinz hatten es viele Sarkozy keineswegs übel genommen, als er 2005 gegen zunehmende Jugendkriminalität mit dem Kärcher vorgehen wollte und die protestierenden Jugendlichen (meist nordafrikanischer Herkunft) mit wenig Zurückhaltung begegnete. Auch, dass er meinte, die Afrikaner seien für ihre Entwicklung selbst zuständig, fand man nicht skandalös, sondern lediglich zutreffend. Doch die anfängliche Euphorie verpuffte bald, Sarkozy versprach mehr, als er halten konnte.
Aber so sind die Franzosen, meine Familie nicht ausgenommen: Schnell begeistert, schnell enttäuscht.

Emanuel Macron, Staatspräsident seit 2017, einst Mitglied der Sozialistischen Partei, gehörte allerdings nicht zu den Favoriten. Das ging anderen ähnlich. Bereits im Dezember 2018 sank die Zustimmung zu ihm und seiner Politik auf 23 %. Es gab Druck von Seiten der „Gelbwestenbewegung“, der „Gilets jaunes“, die überall im Land präsent waren und vor allem gegen die Erhöhung der Benzinpreise protestierten. Aber da machte sich auch ein grollendes Unbehagen an Macrons Kurs bemerkbar. Wie konnte man den Reichen die Vermögensteuer erlassen und dabei die Steuern auf Renten erhöhen? Der Protest richtete sich gegen eine allgemein als unsozial empfundene Politik. Und womöglich auch gegen Macrons Stil – er ist „unfähig, seine Überlegenheitsgefühle jemals zu verbergen.“

Auch wenn er es nicht, wie viele der Pariser Elite, auf die École normale supérieure (ENS) geschafft hat, gehört er doch dazu. Und womöglich hat man in der französischen Provinz irgendwie nicht honoriert, dass Macron dank der Schwäche Deutschlands und seiner Regierung „europapolitisch die Führung übernommen und seinem Ziel einer immer stärkeren Ausweitung der gemeinsamen EU-Verschuldung und einer gigantischen Transferunion, finanziert vor allem von Deutschland, deutlich nähergekommen“ ist.

Die meisten Franzosen haben andere Sorgen und die lässt sie die Partei Marine Le Pens wählen, die mit Blick auf die jungen weiblichen Wähler mit Jordan Bardella in die Schlacht zieht. Die Mehrheit der französischen Wähler, die sich selbst als wirtschaftlich benachteiligt empfinden, hat am Sonntag für den Rassemblement National gestimmt. Insgesamt 54 Prozent wählten innerhalb dieser Gruppe (den sogenannten Défavorisés) rechts, wie eine Umfrage des Marktforschungsunternehmens Ipsos herausfand. Damit ist die Partei dort so fest verankert wie in keinem anderen Milieu.

Wie die Schlacht ausgehen wird? Meine Familie wettet darauf, dass sich die linke Volksfront mit den Macronisten zusammentut, um einen Sieg des Rassemblement National zu verhindern.

Und was, wenn der RN siegt? Dann gibt es spannende Zeiten. Auch für Deutschland: Jordan Bardella fordert eine Loslösung von den europäischen Strompreisregulierungen und einen „französischen Strompreis“.

Das dürfte ganz schnell nicht nur dafür sorgen, dass Deutschland als größter Nettoeinzahler in die EU wegfällt. Das wäre ein Wetterleuchten für ganz Europa.


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