Unstrittig: Vieles am Wirken des sogenannten „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) ist bis heute unklar. Spielte der Bundesnachrichtendienst eine Rolle – und wenn ja, welche? Agierten die Täter als Einzelzelle oder waren sie Teil eines Netzwerkes? Hatten – wie durch manche Foren im Internet geistert – vielleicht sogar ausländische Geheimdienste ihre Finger im Spiel? Dieses und vieles mehr scheint nach wie vor unaufgeklärt im Verfahren gegen Beate Zschäpe. Nicht zuletzt deshalb ist nachvollziehbar, dass die Angehörigen der Opfer der Mörderbande unzufrieden sind mit den Ergebnissen von Ermittlungsbehörden und Justiz.
All das aber stand in dem langjährigen Verfahren nicht vor Gericht. Oder besser: All das hätte nicht vor Gericht stehen dürfen, wenn es darum geht, einen fairen Prozess gegen Zschäpe zu gewährleisten. Vor Gericht stand die individuelle Schuld der Angeklagten – nicht die Aufklärung des NSU-Komplexes. Dennoch mochte man als Beobachter durchaus zu der Überzeugung gelangen, dass es hier eben nicht um die Feststellung individueller Schuld ging, sondern um einen politischen Prozess. Nicht Zschäpe, diese sich weitgehend in Schweigen hüllende Person, stand vor Gericht, sondern jene NSU. Mangels der Haupttäter stellvertretend repräsentiert durch diese eine Frau. So vermittelte dann auch spätestens das Urteil den Eindruck, dass es nicht um die Verurteilung Zschäpes ging, sondern ein Exempel gegen das statuiert werden sollte, was als Rechtsextremismus bezeichnet wird.
Keine eindeutigen Beweise
Wenn Zschäpe sich äußerte, dann versuchte sie sich reinzuwaschen. Was ihr im Prozess jenseits einer möglichen Wahrheit selbstverständlich zusteht. Sie habe von den jeweiligen Taten nichts gewusst und von ihnen immer erst hinterher erfahren. Immerhin – sie wusste von den Morden. Ihre Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung – unstrittig. Eine Verurteilung nach § 129 StGB (Bildung einer kriminellen Vereinigung) – selbstverständlich. Auch die besondere Schwere der Fälle nach Absatz 5 dieses Paragraphen – unstrittig. Fünf Jahre Haft sieht das Strafgesetzbuch dafür vor.
Unstrittig weiterhin die Anwendung von Artikel § 258 StGB. Zschäpe hat sich unzweifelhaft der Strafvereitelung schuldig gemacht. Auch darauf stehen bis zu fünf Jahre.
Nun aber wird es fragwürdig. Um, wie Richter Manfred Götzl es getan hat, das Ex-NSU-Mitglied Zschäpe wegen Mittäterschaft zu lebenslanger Haft zu verurteilen und die besondere Schwere der Schuld festzustellen, muss diese Mittäterschaft einwandfrei bewiesen sein. Mittäterschaft bedeutet nach 25 StGB, dass die Tat gemeinschaftlich und aufgrund eines gemeinsamen Tatplanes begangen wurde. Der Mittäter musste von der Absicht der Tat gewusst und diese von ihm bewusst und mit Vorsatz gebilligt worden sein. Das aber genau hat Zschäpe bestritten.
Götzl begründete sein Urteil damit, dass er Zschäpe deren Einlassungen nicht glaube. Das muss er auch nicht. Doch reicht das für eine Verurteilung zu lebenslanger Haft, wenn die Beweislage dieses nicht einwandfrei hergibt?
Es ging um viel in diesem Prozess. Um eine rational nicht nachvollziehbare Mordserie. Um ein möglicherweise gegen den Staat gerichtetes, kriminelles Netzwerk. Um Teilhabe oder Versagen von Staatsorganen. Und um die Rolle einer unscheinbaren Frau bei all diesem. Um die psychologischen Hintergründe einer offensichtlichen Abhängigkeit von Tätern, die sich am Ende nach Stand der Erkenntnis selbst zu Tode brachten.
Für die Angeklagte ging es um alles. Ihre Zukunft hatte sie sich ohnehin bereits zerstört. Die Frage, die im Raum stand: Wird sie diese Zukunft vielleicht bis zum Lebensende hinter Gittern verbringen müssen?
In dubio pro reo
Für eine Verurteilung, die keine Zweifel hinterlässt, muss der Tatvorwurf bewiesen sein. Der Ankläger hatte den Nachweis zu erbringen, dass Zschäpe – wider ihre eigene Einlassung – im Vorfeld an den Taten beteiligt gewesen war und diese gebilligt hat. Wäre es so, wäre die Mittäterschaft belegt. In diesem Falle sieht das Strafgesetzbuch eine Bestrafung vor, die im Strafmaß für die Begehung der Straftat selbst zu verhängen wäre.
Reicht des Richters Glaube zur Verurteilung?
Reicht es, wenn Götzl mangels Beweises feststellt, er glaube Zschäpe nicht? Für ihn selbst scheinbar ja. Nach § 261 Strafprozessordnung entscheidet das Gericht „über das Ergebnis der Beweisaufnahme nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung“. Dieser Rechtssatz allerdings sollte eher dem „pro reo“ dienen. Ist der Richter von den Ergebnissen der Beweisaufnahme nicht völlig überzeugt, obliegt ihm dieses „pro reo“. Götzl jedoch legte es als „anti reo“ aus – gegen die Angeklagte. Dass ihn die Beweisaufnahme nicht überzeugt hat – das belegt er selbst durch diese Feststellung, den Einlassungen Zschäpes nicht zu glauben.
Damit wird sein Urteil fragwürdig. Denn es basiert nicht auf Beweisen. Es basiert auf Glauben. Glauben aber ist Sache der Kirche – nicht der Rechtsprechung. Und damit steht die Frage im Raum, ob nicht das Gericht ein politisches Urteil gefällt hat. Das wiederum wäre ein Schaden für das deutsche Rechtssystem. Die Revision der Verteidigung ist insofern zwingend, wenn nicht der Eindruck im Raum stehen bleiben soll, dass hier ein politisches und kein rechtsstaatliches Urteil gefällt wurde.
War der NSU eine terroristische Vereinigung?
Auch eine andere Frage ist nach wie vor ungeklärt. Nicht nur in den Medien wird im Zusammenhang mit dem NSU von einer „terroristischen Vereinigung“ gesprochen. In hohem Maße kriminell – ohne jede Frage. Terrorismus aber setzt voraus, dass durch die Handlungen ein Effekt allgemeiner Verunsicherung verursacht werden soll. Wie „terroristisch“ sind Kriminelle, die scheinbar wahllos morden – damit aber über Jahre nicht das geringste, öffentliche Signal verbinden, sondern alles daran setzen, dass ihre Täterschaft nicht öffentlich wird? Auch hier ist der Rechtsstaat gefragt, soll der Eindruck eines politisch motivierten Verfahrens vermieden werden.
Zweifel an den RAF-Urteilen sind Zweifel am NSU-Urteil
Als einst die Taten der bewusst terroristisch agierenden RAF abgeurteilt wurden, erhoben die Medien den Vorwurf, dass die persönliche Beteiligung der Mitglieder dieser kriminellen Vereinigung nicht ausreichend geklärt wurde. Noch 2010 stellte DER SPIEGEL in einer Artikelreihe „Die zweifelhaften Urteile der RAF-Tribunale“ in den Mittelpunkt seiner Berichte. Auch dieses geschah – trotz der Fragwürdigkeit der Verwendung des Begriffs „Tribunale“ bei rechtsstaatlichen Verfahren – nicht ohne Grund. Denn tatsächlich war die Beweisführung in manchen Fällen nicht weniger fragwürdig und unvollständig als im NSU-Prozess.
Keine Zweifel an rechtsstaatlichem Vorgehen sollte jedoch die Revisionsinstanz lassen. Nicht, weil Zschäpe unschuldig ist – was sie ohne jeden Zweifel nicht ist. Aber weil das Rechtssystem dieser Republik politisch motivierte Prozesse nicht zulassen darf, will es sich nicht selbst in Frage stellen. Gleich, wie hoch der öffentliche Druck sein wird – und unabhängig vom Leid, das die Morde der Gruppe, die sich NSU nannte, den Hinterbliebenen der scheinbar wahllos Ermordeten zugefügt hat.
Die Reaktionen bestätigen den politischen Charakter
Lauscht man den Reaktionen auf das Urteil, so sind Zweifel berechtigt, ob der objektive Rechtsstaat zu seinem Recht kommen wird. Und lauscht man den Worten des alten und neuen Außenministers des Neuosmanischen Reichs, dann saß ohnehin die Falsche auf der Anklagebank.
Mevlüt Cavusoglu befand gegenüber dem türkischen Staatssender TRT, obgleich die Angeklagten „Unterstützung speziell vom Geheimdienst und von Staat im Staate erhalten“ hätten, sei nicht aufgeklärt worden, wer „diese Personen oder Institutionen“ seien. Als jemand, der sich mit Geheimdienst und „Staat im Staate“ ebenso auskennt wie mit politisch motivierten Tribunalen, forderte er weitere Ermittlungen: „Wer steckt hinter diesen Morden? Wer vom Geheimdienst steckt dahinter? Wer vom Staat im Staate steckt dahinter?“
Cavusoglu hat in Einem recht: Wenn tatsächlich hinter den Morden nicht der Irrsinn einer kleinen, kriminellen Gruppe stehen sollte – dann dienten Verfahren und Urteil lediglich der Ablenkung. Dann wurde Zschäpe trotz mangelhafter Beweisführung auf dem Altar politisch gewollter Ziele geopfert – und damit der Rechtsstaat beschädigt. Dem Bundesgerichtshof fällt nun die Aufgabe zu, diese Beschädigung zu heilen. Nach geltendem Recht – nicht nach Glauben und politischem Wollen.