Viel ist dieser Tage wieder einmal vom „Wählerwillen“ die Rede. Selbstverständlich läuft dieser Begriff ganz nach den Regeln des Kollektivismus im Sinne von abgeblichem Teamdenken und vorgeblicher Schwarmintelligenz ab – denn tatsächlich ist schlicht zu unterstellen, dass der „Wählerwille“ im eigentlichen Wortsinne nichts anderes ist als eine statistische Größe auf Grundlage von derzeit 61.688.485 wahlberechtigten Individuen beziehungsweise 49.976.341 Personen, die am Wahltag tatsächlich ihre Entscheidung per Stimmzettel getroffen haben.
Mitte-Rechts vor GroKo vor Jamaika
Auf der Grundlage dieser Zahlen darf in Verbindung mit den jeweiligen Wahlkampfaussagen der Protagonisten ein vorsichtiger Blick auf diesen „Wählerwillen“ geworfen werden. Stellen wir als erstes einmal fest: Egal, ob Union und SPD, ob Jamaika oder auch ein Mitte-Rechts-Bündnis – eine Mehrheit der entscheidungsbefugten Bürger brächte keine dieser Varianten hinter sich.
- Die schwarzrote Kooperation verträte mit 24.856.725 Wählern gerade einmal 40,29 % der Bürger.
- Jamaika hätte mit 24.475.193 Wählern die Rückendeckung von 39,68 % der Wahlberechtigten gehabt.
- Das Mitte-Rechts-Bündnis verfügte mit 26.194.908 Wählern über 42,46 %.
Fügen wir angesichts der Unwägbarkeit von Politik der Vollständigkeit halber noch als vierte Option die Volksfront hinzu: SPD, Grüne und Linkspartei kamen weit abgeschlagen zusammen auf 17.995.051 Wähler. Das sind gerade einmal 29,17 %.
Die Ampel können wir bei den Zahlenspielen außen vor lassen. Wenn schon die FDP bei Jamaika an den Grünen scheiterte, wird sie dem linksgestrickten Bündnis ohnehin schon im Vorfeld Adieu sagen.
So oder so: eine Minderheitsregierung
Setzen wir nun auf die kollektivistische Methode der Schwarmintelligenz, dann sind folgende Aussagen zutreffend:
- Egal, welche Konstellation im Ergebnis die Geschicke Deutschlands lenken wird – eine Minderheitsregierung ist es allemal. Denn nicht eine einzige der denkbaren Möglichkeiten vertritt mehr als 42,5 % der Bürger.
- Wenn es anhand von statistischen Additionen einen Wählerwillen gibt, dann wünscht sich dieser mit 42,46 % ein Mitte-Rechts-Bündnis aus Union, FDP und AfD, während der Traum von der Volksfront ausgeträumt bei 29,17 % gelandet ist.
Nun spielen aber beim Regierungsbildungspoker die realen Zahlen keine Rolle. Der Parlamentarismus blendet jene aus, die sich der Stimmabgabe verweigern – er agiert auf Grundlage der abgegebenen, gültigen Stimmen. Er tut auch noch ein weiteres: Auf Grundlage des Grundgesetzes interessiert es ihn nicht im Geringsten, ob und welche Parteien sich zusammenschließen. Ihn interessieren bei der Regierungsbildung nicht einmal die Namen und inhaltlichen Ausrichtungen der Fraktionen. Das einzige, wonach er fragt, lautet: Welche Person schafft es, bei der Kanzlerwahl eine Mehrheit der Abgeordneten hinter sich zu vereinen? Ob diese Person dann ohne Mehrheit als Minderheitsregierung regiert, interessiert das Grundgesetz nicht mehr. Die Entscheidung hierüber leitet es an den Bundespräsidenten.
Schulz liegt vorn
Wer also könnte bei einer offenen Kanzlerwahl das Rennen machen?
Schauen wir erst noch einmal auf die Wähler und die anzunehmende Entscheidung, die diese hinsichtlich der Kanzlerfigur getroffen haben mögen. Als mögliche Kanzler im Angebot standen nur zwei: Angela Merkel und Martin Schulz.
Als Stimmen für Merkel dürfen wir uneingeschränkt ausschließlich jene zählen, die eine der beiden Unionsparteien gewählt haben. Das sind – auch wenn einige Komiker ohne Clownskostüm dafür alle Stimmen zusammenrechnen, die nicht bei der AfD gelandet sind – 24,83 % der Wahlberechtigten. Also steht nicht einmal ein Viertel der Bürger ohne Wenn und Aber zu Merkel.
Hinter dem SPD-Bewerber stehen uneingeschränkt die Wähler der SPD. Da jedoch auch Grüne und PdL deutlich gemacht hatten, für die Volksfront zur Verfügung zu stehen, und Schulz diese Variante nicht ausgeschlossen hatte, können wir deren Wähler noch zu Schulz hinzu addieren. Damit kommt der EX-EP-Chef nun auf 29,17 % der Wahlberechtigten. Stellen wir also fest: Mit dem im direkten Vergleich unterlegenen Schulz hätten mehr Bürger leben können als mit Merkel.
Ein Fehler in der Rechnung? Wo bleibt die FDP? Nun – tatsächlich hatte sich die Lindner-Truppe nie ganz eindeutig erklärt. Die Affinität zur Union war unübersehbar – aber im Falle der Fälle hätten die Wiedereinrücker auch zu einem Bündnis mit Schulz nicht grundsätzlich Nein gesagt. Wir könnten folglich deren Stimmen sowohl entweder für Merkel oder für Schulz buchen – gäbe es da nicht eine Kleinigkeit zu berücksichtigen. Diese Kleinigkeit sind jene Wähler, die mit der Erststimme Union, mit der Zweitstimme jedoch FDP gewählt hatten. Diese dürfen wir eindeutig als bürgerliche Stammwähler verbuchen, die Merkel loswerden wollten. Ob diese 1,75 Millionen Menschen stattdessen lieber Schulz auf dem Chefsessel gesehen hätten, darf jedoch auch angezweifelt werden. Eines allerdings wollten sie auf keinen Fall: Eine Fortsetzung der schwarzroten Mehltau-Politik.
Insgesamt bleibt es insofern bei der Feststellung: Schulz hat mehr potentielle Fans – oder sollten wir besser von „Duldern“ sprechen? – als Merkel.
Merkel oder Schulz – wer macht das Rennen?
Das allerdings spielt nun im Parlament nur eine untergeordnete Rolle. Schauen wir also auf das, was dort geschehen könnte, wenn der Bundespräsident einen Kandidaten vorschlägt, der im ersten Wahlgang keine absolute Mehrheit findet, weil er keine mehrheitsfähige Regierungskoalition schmieden konnte.
Im Deutschen Bundestag verteilen sich die Stimmen auf die Fraktionen wie folgt: Die Union verfügt über 246 Sitze, die SPD über 153, AfD über 92 + 2 Aussteiger, FDP über 80, PdL über 69 und Grüne über 67.
Schlägt Steinmeier die bereits für mögliche Neuwahlen in absolutistischer Selbstherrlichkeit von sich selbst inthronisierte Merkel vor, so sollte diese im ersten Wahlgang auf die 246 Stimmen der Unionsfraktionen zählen können. Ob dieses tatsächlich so sein wird, lassen wir an dieser Stelle noch dahingestellt – denn da ohnehin nicht damit zu rechnen ist, dass Merkel im ersten Wahlgang die notwendige, absolute Mehrheit erhält, könnte manch Unions-Parlamentarier seinem Unmut über Merkel freien Lauf lassen und nicht für sie stimmen. Es wäre dieses sozusagen ein Weg, die ewige Kanzlerin durch die parteiinterne Hintertür zu meucheln. Denn wenn sie hierbei deutlich weniger Stimmen als die ihrer Fraktion bekäme, dann könnte sie sich selbst schon für den zweiten Wahlgang aus dem Rennen nehmen.
Doch unterstellt, der Block hält und sie hat 246 Stimmen. Das wäre weit von der absoluten 355-Stimmen-Mehrheit entfernt. Daher wäre nun der Bundestag selbst an der Reihe und könnte als Gegenkandidaten Martin Schulz ins Rennen schicken. Unterstellt, der bekäme nun die Unterstützung von SPD, Grünen und PdL, dann brächte er es auf 289 Stimmen. Damit läge er deutlich vor Merkel, wäre aber immer noch nicht Kanzler, denn ihm fehlen zur absoluten Mehrheit immer noch 66 Stimmen.
Es wäre der dritte Wahlgang angesagt. Schulz könnte auf die 289 Stimmen aus dem zweiten Wahlgang hoffen – Merkel müsste nun jedoch Stimmen aus FDP und/oder AfD gewinnen, um noch eine Chance zu haben.
Angenommen, die Aussicht auf einen Volksfront-Kanzler schreckt die bislang sich zurückhaltenden derart, dass sie doch lieber Merkel als Schulz haben möchten, dann hätte Merkel nun im besten Falle sogar 420 Stimmen – und damit die absolute Mehrheit, die sie auch ohne Zustimmung des Bundespräsidenten zum Kanzler macht.
Da es jedoch wahrscheinlicher ist, dass die AfD ihrer gepflegten Merkel-Aversion trotz Volksfront-Gefahr treu bleibt, erhielte Merkel vermutlich nur die Stimmen der FDP – läge also bei 326 Stimmen und damit vor Schulz. Aber es wäre nur die relative Mehrheit. Dann wäre es nun an Steinmeier, Merkel zu berufen – oder sie über Neuwahlen in einen erneuten, öffentlichen Schaulauf beim Bürger zu schicken. Könnte Steinmeier der Versuchung widerstehen, Merkel auf diesem Wege abzuräumen? Lassen wir diese Frage unbeantwortet, denn gegenwärtig zeichnet sich bereits eine andere Variante ab, die Steinmeier die Hände binden könnte.
Die „GroKo“ ohne Koalition?
Die Idee, dass die SPD ein Minderheitskabinett Merkel dulden könnte, ist als gesichtswahrende Alternative für die ungeliebte „GroKo“ längst im Raum. Das würde bedeuten: Im ersten Wahlgang scheitert Merkel, im zweiten ohne SPD-Gegenkandidaten ebenso – und im dritten bekäme sie ohne Gegenkandidaten ihre 246 Unionsstimmen bei Enthaltung der 153 SPD-Abgeordneten und 241 Nein-Stimmen von AfD, FDP und PdL. Das würde ganz knapp zur relativen Mehrheit reichen – Steinmeier könnte Merkel erneut zur Kanzlerin berufen.
Jedoch – so ganz ohne Risiko ist auch diese Variante nicht. Denn bei diesen knappen Zahlen reichten bereits drei Unzufriedene in der Unionsfraktion, die gegen statt für Merkel stimmen. Dann hätte das Nein-Lager plötzlich 244 Stimmen – und Merkel nur noch 243. Aus wäre es mit der Minderheits-Kanzlerin, und Neuwahlen wären unvermeidlich.
Merkel als gescheiterte Kandidatin
Ob bei einem solchen Zahlenspiel die Union bei Neuwahlen immer noch auf Merkel als gescheiterten Kanzler setzte? Der Block würde vermutlich darauf dringen – und ahnen, dass es damit in den Untergang ginge. Also könnten nun auch Überlegungen greifen, die in bayerischen CSU-Kreisen längst recht konkret gedacht werden: Ohne den Merkel-Vasallen Seehofer die Fraktionsgemeinschaft aufkündigen und mit eigenem Spitzenkandidaten und klarer Ansage, keinen Kanzler Merkel zu unterstützen, antreten. Zwar würde es der CSU organisatorisch noch nicht möglich sein, bundesweit um Stimmen zu werben – doch sollte es trotzdem gelingen können, die knapp 390.000 Wähler, die der CSU im September in Bayern ihre Zweitstimme verweigert hatten, zurück zu holen. Damit lägen die Bayern nun auch ohne bundesweite Ausdehnung bei rund sieben statt knapp über sechs Prozent.
Keine Minderheitsregierung auf Dauer
Angesichts dieser Zahlenspiele ist es nachvollziehbar, dass Merkel zu Wahlgängen, in deren Ergebnis sie vielleicht mit Glück noch als schwacher Kanzler einer Minderheitsregierung dastehen könnte, nicht das geringste Verlangen verspürt. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass sich mindestens drei Abgeordnete in Unionsreihen finden, denen es in den Fingern juckt, die ungeliebte Herrin aus dem Schloss zu jagen – die ist nicht nur recht groß, sie kann schon fast als wahrscheinlich angesehen werden.
Wie könnte Merkel dieses Desaster vermeiden? Es ginge ausschließlich darüber, dass sie genug Stimmen aus den anderen Fraktionen erhält, die ihre wankende, eigene Truppe stützen. Das könnte sie versuchen, indem hinter den Kulissen Absprachen laufen, im Minderheitskabinett Minister anderer Parteien aufzunehmen. Da käme bei notwendiger SPD-Duldung nur die SPD infrage. Also ein heimlicher Deal, der Gabriel und ein oder zwei „verdiente Genossen“ im Ministeramt lässt und dafür vielleicht zwanzig Unterstützungsstimmen aus der SPD ins Boot holt?
Taktisch denkbar wäre es – politisch sauber wäre es nicht. Aber wenn die Pfünde locken ….
Zumindest käme die SPD dann trotzdem halbwegs sauber und mit Regierungsbeteiligung ohne Fraktionszwang aus der Bredouille – denn sie könnte sich hinstellen und die Leihstimmennummer auf andere Fraktionen schieben. Da die Kanzlerabstimmung geheim ist, ließe sich nichts überprüfen.
Und Merkel? Die würde sich zurücklehnen, die überzähligen Stimmen auf ihre überragende Politik und das Vertrauen in die andere Parteien hinein zurückführen – und die GroKo ohne Koalitionsvertrag fortsetzen und den kurzen Shitstorm aussitzen.
Die eigentlichen Nutznießer eines solchen Modells wären allerdings die kleinen Parteien – voran FDP und AfD. Denn diese könnten sich nun noch deutlicher auch parlamentarisch gegen den Merkel‘schen Sozialdemokratismus positionieren. Und darauf vertrauen, dass es über kurz oder lang zum Krach zwischen den Duldungskoalitionären käme. Das wäre, blickt man auf die Geschichte der sozialdemokratischen Unionskooperationen, spätestens dann der Fall, wenn sie einem eigenen Kandidaten reelle Chancen einräumen, bei vorgezogenen Neuwahlen die Nase vorn zu haben. Und das könnte bei einer genüßlich demontierten Merkel eher früher als später der Fall sein.