Die Vorgeschichte ist bekannt. Italiens Parlamentswahlen hatten die noch verbliebenen, etablierten Parteien auf den Zuschauerstatus geschrumpft. Das gegen die bestehenden Parteien rebellierende MoVimento 5 Stelle (M5S) räumte ab, erhielt 32,7 % der Stimmen und damit 227 Sitze im Abgeordnetenhaus. Große Gewinne verzeichnen konnte die Lega Nord, steigerte sich um 13,2 Prozentpunkte auf nun 17,3 %. Die ursprünglich als norditalienische Protestbewegung gegründete Lega stellt damit 125 Sitze. Mit zusammen 352 Abgeordneten sollte es bei der festgeschriebenen Parlamentsgröße von 630 Mitgliedern somit für eine Regierungsmehrheit reichen.
Panik in der EU
So machte sich nach der ohnehin schon angesichts des Wahlergebnisses wirkenden Unsicherheit nun in Brüssel und anderen Hauptstädten der Euro-Zone Panik breit. Dort ahnte man, dass das Griechenland jener Taschenspieler Yanis Varoufakis und Alexis Tsipras nur eine sanfte Ouvertüre gewesen sein könnte, sollten Lega und Sterne tatsächlich Italiens Ruder in der Hand nehmen und ihrer Ablehnung der EU und im Besonderen der Bundesrepublik freien Lauf lassen. Die Finanzmärkte wurden unruhig, der Euro kam etwas ins Rutschen. Und die EU-getreuen Medien überboten sich im üblichen Rechts-Bashing, prügelten heftig auf die „rechtsextreme Lega“ und die „populistischen Fünf Sterne“ ein.
Am Sonnabend dann zog Mattarella die Notbremse. Er sei bereits gewesen, alle vorgeschlagenen Minister zu ernennen – bis auf jenen Savona. Daraufhin gab Conte seinen Regierungsauftrag zurück – Italien steht wieder auf Null. Und Europas Eliten atmen erleichtert auf, sehen sie doch in Italiens Präsidenten den Retter der europäischen Abendlandes.
Mattarella hat die Koalition nie gewollt
Gleichwohl und jenseits verfassungsrechtlicher Betrachtungen wirkt Mattarellas „No“ zu Savona vorgeschoben. Denn der mit dem Italienischen Verdienstorden ausgezeichnete Savona ist nicht nur Wirtschaftsprofessor und war über viele Jahre führend in verschiedenen Bankinstituten tätig – er kennt auch aus eigener Erfahrung im Kabinett Berlusconi die Brüsseler EU-Etagen nicht nur vom Anschauen. Sein Fehler: Er hatte sich bereits früh als Gegner der Maastricht-Verträge geoutet, weil er in den nordeuropäisch geprägten Stabilitätskriterien eine Gefahr für die italienische Wirtschaft erblickte. Ein kluger Mann also, der sehr genau wusste, dass die finanzpolitischen Uhren in den südeuropäischen Staaten schon immer anders tickten als in den fiskalpolitisch strikt orientierten Ländern des Nordens – allen voran der Bundesrepublik. Savona ahnte mit seinem wirtschaftspolitischen Sachverstand schon vor der Euro-Einführung den Weg in die hemmungslose Überschuldung, der sich zwischenzeitlich nicht nur in Griechenland und Italien als zutreffend erwiesen hat.
Nun – einmal abgesehen davon, dass sich Italien längst in einer tiefen Krise befindet, die nur noch durch die ungedeckten Schecks des italienischen Euro-Zentralbankchefs mühsam unter dem Deckel gehalten wird: Dieser Kurs wäre auch von einer Lega-Sterne-Koalition ohne Savona gefahren worden. Also hätte, wenn man der Logik Mattarellas folgt, dieser bereits den Auftrag zur Regierungsbildung an Conte verweigern müssen. Und so drängt sich der Eindruck auf, dass auf höchster Präsidentenebene sich seit geraumer Zeit ein Staatsschauspieler die Ehre gibt, dem es nur noch darum geht, eine von einer Mehrheit gewählte Protestregierung zu verhindern. Wäre es nicht Savona gewesen, hätte sich ein anderer Grund gefunden.
Ein kurzes Aufatmen
Finanzmärkte, EU-Establishment und die EU-treuen Medien atmeten auf. Die vom italienischen Bürger mehrheitlich gewollte, anti-EU-Regierung blieb vorerst aus. „Regierungsbildung gescheitert“, tönte es allenthalben – in dem unterschwelligen Versuch, die Verantwortung dafür nicht dem Präsidenten, sondern den „Rechtspopulisten“ in die Schuhe zu schieben. So freute sich dann nicht nur der Berliner „Tagesspiegel“ und wusste gleich noch zu berichten, dass Mattarella uneingeschränkt im Einklang mit der italienischen Verfassung gehandelt habe und es nicht das erste Mal gewesen sei, dass ein Präsident einen Minister abgelehnt habe.
Das genau aber gilt es zu hinterfragen: Haben die Präsidenten in der von ständigem Politchaos geschüttelten Stiefelrepublik tatsächlich das Recht, eine gewählte Parlamentsmehrheit durch Ministerablehnung an der Regierungsübernahme zu hindern? Schauen wir in die Italienische Verfassung – in der offiziellen, deutschsprachigen Version für Südtirol.
Ein Blick in die Verfassung
Auffällig ist, dass anders als im bundesdeutschen Grundgesetz die Regierungsbildung kaum eine Rolle spielt. Art. 92 lautet: „Die Regierung der Republik besteht aus dem Präsidenten des Ministerrates und den Ministern, welche zusammen den Ministerrat bilden. Der Präsident der Republik ernennt den Präsidenten des Ministerrates und auf dessen Vorschlag die Minister.“
Wenn nun aber dieser Auftrag erst einmal erteilt ist, dann müsste zwangsläufig Satz 2 des Artikels 92 gelten für den Fall, dass der Beauftragte tatsächlich mit einer Ministerriege vor dem Staatspräsidenten erscheint und die Ernennung einfordert. Denn von einem „kann“ ist in Artikel 92 nun nicht die Rede: Der Präsident ernennt auf Vorschlag des von ihm beauftragten Premier-Kandidaten die Minister. Ohne Wenn oder Aber. Will er dieses verhindern, so müsste er sofort und unmittelbar im Sinne der von ihm wahrgenommen Zuständigkeit den Regierungsbildungsauftrag zurückziehen – und hätte ihn von vornherein mit bestimmten Auflagen versehen müssen, die er als nicht erfüllt betrachtet. Dann allerdings hätte der Präsident fast schon eine diktatorische Gewalt – was in der italienischen Verfassung ebenfalls nicht vorgesehen ist, da auch dort alle Gewalt vom Volke ausgehen soll.
Ein Staatsstreich durch die Hintertür?
Conte ist seinem Auftrag durchaus gerecht geworden. Davon, dass ein Präsident einen einmal gegebenen Regierungsbildungsauftrag im Nachhinein dadurch zunichtemachen kann, indem er einzelne Minister ablehnt, steht in der italienischen Verfassung nichts. Dazu wäre erst das Parlament berufen gewesen, denn die Verfassung schreibt fest, dass die Regierung das Vertrauen beider Kammern besitzen muss. Dort aber stellen Lega und Stelle die Mehrheit, weshalb eine Ablehnung der Regierung Conte nicht zu erwarten gewesen wäre.
Es stellt sich insofern die Frage, ob das Verhalten Mattarellas nicht einem kalten Staatsstreich gleich kommt. Er hätte sich von vornherein verweigern können, einem Vertreter der Systemgegner einen Regierungsauftrag zu erteilen. Vermutlich hätte er damit unmittelbar eine Verfassungskrise heraufbeschworen. Denn die Absicht, eine ihm nicht genehme, aber von der Mehrheit gewünschte Regierung zu verhindern, wäre damit unmittelbar offenbar geworden.
Der von dem sozialistisch ausgerichteten Katholiken gewählte Weg durch die Hintertür allerdings macht es kaum besser. Nicht nur, dass sein Verfassungsverständnis tatsächlich hinterfragt werden kann, wenn eine Mehrheitsentscheidung der Wähler nicht zum Zuge kommen darf, weil deren politischen Ziele dem Präsidenten nicht gefallen – Mattarella wird damit den Siegeszug der als „Populisten“ geziehenen Protestbewegungen kaum verhindern können. Wenn den Italienern im Laufe der kommenden Wochen bewusst wird, dass den Präsidenten der Mehrheitswille dann nicht interessiert, wenn er seinen eigenen Vorstellungen nicht entspricht, dann könnte dieses dem Zulauf zu den Anti-Establishment-Parteien einen weiteren Schub geben. Wie Mattarella bei Neuwahlen eine gestärkte, aber von ihm abgelehnte Regierung noch verhindern will, das weiß er vermutlich nicht einmal selbst.
Dem Ansehen der europäischen Idee geschadet
Viel dramatischer allerdings als all diese Spielchen der Selbstvernichtung der italienischen Demokratie ist der bleibende Schaden, den Mattarella damit für die Europäische Union anrichtet. Denn tatsächlich unterstreicht er damit die Vorstellungen jener Kritiker, die in der EU längst schon ein diktatorisch regierendes Autokratensystem zu erblicken meinen: Wer nicht so will, wie die EU-Führung, der darf nicht regieren. Egal, wie viele Wähler hinter ihm stehen.
Über solche Wege unterminieren die etablierten Akteure nicht nur das Vertrauen in die Demokratie – sie schüren am Ende auch die Spaltung der Gesellschaft, wenn Wahlen nur noch als Farce wahrgenommen werden und Mehrheiten nur noch gelten, wenn sie einer von oben präferierten Linie genehm sind.
Insofern: Mattarella und seine Freunde in den europäischen Regierungsstuben mögen ein wenig Zeit gewonnen haben. Das Grundproblem des rasant schwindenden Vertrauens in die einstmals gute Idee der europäischen Einheit allerdings werden sie damit nicht in den Griff bekommen. Ganz im Gegenteil: Sie befördern es und schieben den ohnehin schon entgleisenden Zug mit noch mehr Kraft an die Stahlwand.