Es ist schon erstaunlich, wenn ausgerechnet jemand, dem das Amt gegeben ist, eine Institution zu vertreten, sich selbst zum Totengräber eben dieser Institution macht.
Das aktuelle Beispiel eines solchen Vorgehens liefert der Republik nun der amtierende Präsident des Deutschen Bundestags. Weil er unter Merkel nicht mehr Minister sein durfte, wechselte der am 18. September 1942 in Freiburg im Breisgau geborene Berufspolitiker zu Beginn der Legislaturperiode vom Amt des mächtigen Finanzministers auf das des ohnmächtigen Parlamentspräsidenten.
Doch ob es nun einfach nur das Bedürfnis ist, immer noch einmal einen gefühlten Impuls in die ohnehin einseitig gewordene politische Debatte zu werfen, oder ob der 77-jähige einfach nur noch hin und wieder seinen Namen in der Zeitung lesen will – er kann es nicht lassen. Dabei werden seine Vorschläge nicht nur ständig absurder – erinnert sei an die Idee, die Schulkinder könnten doch auf ihre Ferien verzichten, weil sie Dank Corona ohnehin schon dauerhaft schulfrei gehabt hätten -, sie steigern sich auch in eine Kakophonie des Antiparlamentarismus, die ihresgleichen sucht und in einen kaum krasser zu denkenden Gegensatz zu dem ihm aufgetragenen Abschiedsamt steht.
Offensichtlich wird dieses nun einmal mehr bei des Wolfgangs Schäubles Vorschlägen zu mehr parlamentarischer Bürgernähe eines Parlaments, mit dem dieser Mann seit 1972 durchgehend seinen Lebensunterhalt auf höchster Ebene bestritten hat. Schäuble ist ein Relikt, ein Dinosaurier der Politik. Was, wie wir lernen müssen, leider keine Garantie für politische Vernunft ist, auch wenn dieses 1972 in jene Zeit fiel, als man noch ungegendert und gleichberechtigt angstfrei und political unkorrekt von Sex, Drugs und Rock’n‘Roll träumen durfte und der Meinung war, nicht nur die Freiheit der Meinung sei ewig und unantastbar.
Vom Regierungsrat zum Berufspolitiker
Bereits am 19. November jenes Jahres 1972 zog der Jurist mit Zweitem Staatsexamen erstmals in das damals noch in Bonn am Rhein ansässige Hohe Haus der Parlamentarischen Demokratie. Damit war es vorbei mit seiner jungen beruflichen Karriere in den Niederungen des gemeinen Volkes: Nicht einmal ein Jahr hatte der Freiburger als Regierungsrat in der Steuerverwaltung im Ländle damals hinter sich – ein Job, in dem er sich nun bis zum Eintritt in das Rentenalter beurlauben ließ. Was, auch wenn es hier nicht unmittelbar hingehört, durchaus die Frage zulässt, welch ein Rundum-Sorglos-Paket sich eigentlich jemand einkauft, der aus dem Beamtenstand in Bundestag und Bundesregierung wechselt.
Neun Jahre sorgte er als Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion dafür, dass die gewählten Volksvertreter auf Regierungslinie blieben. Dann gab es für den Mann, der immer wieder als erfolgloser Aspirant für höchste Staatsämter – die Rede war von Bundeskanzler, Bundespräsident, EU-Kommissar – gehandelt wurde, eine kurze Pause. Die Wirren um den Rückzug Kohls von der Unionsspitze und ungeklärte Spendenprobleme schienen bereits auf ein Karriereende des Mannes hinzudeuten, der nach dem Zusammenbruch des SED-Regimes maßgeblich den Beitrittsvertrag der neuen Bundesländer verhandelt hatte.
Vom Minister zum Parlamentspräsidenten
Wiederum in einem November, nun des Jahres 2005, erbarmte jene Angela Merkel, die den Langzeitvorsitzenden Kohl in die Unionswüste geschickt hatte, um dann die CDU im Sinne Honeckers zur sozialistischen Partei umzubauen, sich des Geschassten. Schäuble wurde erneut in das Amt des Bundesministers des Inneren berufen, übernahm 2009 das Amt des Bundesministers der Finanzen vom als Kanzlerkandidat der SPD an der SPD gescheiterten Peer Steinbrück. Diesen Job – immer noch als Doppelfunktionär in Legislative und Exekutive – füllte der als Steuerbeamter gestartete Mann bis zum Oktober 2017 aus. Nun benötigte die ewige Merkel Schäubles Arbeitsplatz jedoch für den neuen Star der Sozialdemokratie. Olaf Scholz übernahm den Staatsschatz – Schäuble wurde mit dem ehrenvollen, aber einflussleeren Amt des Bundestagspräsidenten abgefunden.
Schäubles Irrwege des Parlamentarismus
Nun sollte man meinen, dass jemand, der mittlerweile fast 50 Jahre Abgeordneter ist, sich der Funktion und der Bedeutung eines Parlaments in einer repräsentativen Demokratie bewusst ist. Nicht so aber Schäuble. Offenbar der Welt des Realen entrückt, glänzte er bereits in der Debatte über eine Änderung des Wahlrechts – denn selbst das neue Parlament im Berliner Reichstagsgebäude platzte Dank Überhang- und Ausgleichsmandaten aus allen Nähten – mit der Idee, die ohnehin geringe Chance des Bürgers, dem das deutsche Grundgesetz die Ehre des Souveräns zuspricht, weiter zu schmälern.
Um den ständigen Zuwachs an Plenarsitzbesetzenden einzudämmen, kam er nicht etwa auf die Idee, den längst unerträglich gewordenen Einfluss der Parteiführungen zu schmälern, indem die von den Parteien ausgekungelten Listenplätze verringert würden – nein, der Präsident des Parlaments, das der ausschließlichen Aufgabe dienen soll, den Bürger als Souverän zu repräsentieren, empfahl, den ohnehin infolge Ausgleich und Überhang vom ursprünglich mit 50 Prozent vorgesehenen Anteil der direkt gewählten Bürgervertreter an den Sitzen durch eine Verringerung der Direktwahlkreise weiter einzudampfen.
Vom Parteimann zum Reconsilianer
Schien dieser Vorschlag noch ganz auf der Linie eines altgedienten Parteifunktionärs zu liegen, dem jegliche Mitsprache des Bürgers in die gedachten Obliegenheiten der Parteien ein Graus ist, so folgte nun die 180-Grad-Wende. Nicht aber hin zu dem, was das Grundgesetz im Sinne einer funktions- und bürgergerechten Repräsentation dem Parlament zugewiesen hat – nein, der einst als Etatist und Vertreter eines bürgerlichen Pragmatismus gestartete JU-Mann legt gleichsam eine doppelte Volte hin und perfektioniert die Überwindung des Repräsentativgedanken durch sein Einschwenken in die Vorstellung einer sogenannten Räterepublik – sogenannt deshalb, weil eine Sache der Räte eben keine Sache des Volkes sein kann. Im Sinne dieser Res consilio nun schlägt ausgerechnet der Parlamentspräsident vor, den als Repräsentanten des Volkes gewählten Abgeordneten mögen künftig nach dem Zufallsprinzip besetzte Räte als sinngebende Versammlungen beiwohnen.
Schäuble denkt sich das so, dass nach dem Los beliebige Bürger über Zufallsprinzip in derzeit noch nicht näher beschriebene Räte gesetzt werden, in welchen dann die aktuellen Themen der Politik diskutiert werden sollen. Die jeweilige Zufallsmehrheit soll dann irgendwann zu einer Ratsempfehlung gelangen, welche wiederum nun die Abgeordneten in ihrer allumfassenden Weisheit in ihre Entscheidungsprozesse einfließen lassen können. Oder auch nicht, denn wie wäre beispielsweise dann zu verfahren, wenn diese Zufallsräte zu genau gegensätzlichen Ergebnissen kämen zu jenen, die die bezahlten und trotz allem immer noch demokratisch legitimierten Abgeordneten für sinn- und zweckmäßig erachten?
Demokratiefeindlich und verfassungswidrig
Doch blenden wir diese Ungeklärtheiten des Unzulänglichen aus und konzentrieren wir uns auf den demokratievernichtenden und verfassungswidrigen Inhalt dessen, was ein offenbar seiner demokratischen Sinne nur noch mäßig mächtiger Mann sich nun erdacht hat. Dazu gibt es mehrerlei zu sagen.
Noch geht unser Grundgesetz davon aus, dass Teilnehmer am parlamentarischen Prozess einer demokratischen Legitimation bedürfen. Das bedeutet: Wer über Gesetze und Haushalte entscheiden will, muss durch einen freien und geheimen Wahlgang gegangen sein.
Nun ist es – das wollen wir Schäuble zugutehalten – ohnehin längst so, dass die gewählten Abgeordneten sich willenlos der Kastration ihrer Verfassungsrechte gebeugt haben. Sei es das Diktat einer übermächtigen Mutter, sei es die Angst vor fraktionskollektiver Abstrafung, sei es die Furcht davor, sich die Chance auf den Umstieg in die spannenderen Regionen der Exekutive zu verbauen – Entscheidungen, wie das Durchwinken von verfassungsfeindlichen Gesetzen wie jenem mit dem eleganten Titel „Netzwerkdurchsetzungsgesetz“ laufen längst häufig ohne geistige Teilhabe der Abgeordneten. Die Regierung gibt in Abstimmung mit der Fraktionsführung die Richtung vor – die Herde folgt willen- und widerstandslos.
Längst benehmen sich irgendwelche Vereine, hochtrabend als Nichtregierungsorganisationen (NGO) einer überhaupt nicht zivilen, heißt bürgerlichen Zivilgesellschaft als die Herren über Staat und Politik. So, als gehöre ihnen nicht nur die unendliche Weisheit, sondern auch der Staat und seine Bürger. Was Studienabbrecher und andere Verbandsfunktionäre als ihre unumstößliche Weisheit herausposaunen, entfaltet seine gefährliche Wirkung nicht nur in der medialen Darstellung rätestaatlicher Medienvertreter, sondern unmittelbar in die Politik hinein.
Die Selbstreferenzierung institutionalisieren
Was auf kommunaler Ebene als Bürgerbeiräte und ähnlichem begann und dort nicht selten durch Lobbyisten aus eben jenen NGO im Sinne der linken politischen Lehre bestückt wird, ist unter Merkel längst zum Unwesen auf höchster Ebene geworden. Ob Migrantenräte, ob Kohle- oder Agrarkommissionen – in all diesen Gremien, die die Legislative einsetzt, führen Personen und Gruppen das Wort, die ausschließlich aus Selbstreferenzierung heraus agieren und von niemandem, vor allem aber nicht von dem Bürger als Souverän, dafür irgendeinen Auftrag erhalten hätten, geschweige denn, dass sie sich mit ihren nicht selten schrägen und radikalen Vorstellungen jemals dem Bürger zu Wahl gestellt hätten.
Ist also der Ratestaat auf exekutiver Ebene längst auf dem Weg in die Vollendung, so will ausgerechnet der Präsident des Parlaments nun auch die Legislative unter rätestaatliches Kuratell stellen. Er schreibt damit nicht nur sich selbst ein Armutszeugnis aus, das deutlicher nicht hätte ausfallen können – er erklärt damit auch dem Bürger die offenbare Unfähigkeit der gewählten Parlamentarier zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben. Der nächst-logische Schritt wäre es nun, auf die Wahl von Abgeordneten künftig gänzlich zu verzichten. Stattdessen werden – zumindest in der Startphase noch nach Zufallsprinzip besetzt – Volksräte benannt, die ihre Beschlüsse unmittelbar an die jeweils zuständigen Ministerien der Exekutive weiterleiten. Wird dort nicht exekutiert, droht der Rat mit Anzeige beim Rat der Exekutivbesetzung, welcher wiederum mit der Amtsenthebung drohen und diese bei Bedarf beschließen kann.
Die Kluft zwischen Politik und Bürger
Man muss sich fragen, was diesen Präsidenten reitet, sich selbst an die Spitze jener zu stellen, die die bürgerliche Idee der parlamentarischen Repräsentation im Sinne des sozialistischen Rätekollektivismus‘ überwinden und zunehmend erfolgreich zur Farce machen wollen. Ist es das Alter – oder ist es die blanke Panik in der Erkenntnis, dass das zur Echokammer der Bürgerferne verkommene Parteienparlament jeglichen Kontakt zum Volk verloren hat? Vermutlich letzteres, denn hier scheint die Erklärung dafür zu finden zu sein, dass Schäuble allen Ernstes glaubt, mit Zufallsräten die Kluft zwischen Politik und Bürger überwinden zu können.
Nun, sollte sich Heintze diese kleine Geschichte nicht ausgedacht haben – und warum sollte er solches tun -, so kann der absolute Realitätsverlust in der Berliner Waschmaschine, wie das Kanzleramt im Volksmund genannt wird, nicht deutlicher beschrieben werden. Da liegt es denn auch nahe, dass es sich bei Schäubles Visionen tatsächlich um einen Kurzschluss, der irgendwelche locker gewordenen Drähte der Staatslehre und des Grundgesetzes falsch verkettet hat, handelt.
Als Parlamentspräsident hat sich der Freiburger damit abschließend nicht nur unmöglich gemacht – er müsste, hätte er einen Rest repräsentativ-demokratischen Gedankengutes, umgehend sein Amt niederlegen. Doch das wird nicht geschehen – so wie auch die Abgeordneten, an deren Ehre und grundgesetzlichem Auftrag der Präsident in ungeahnter Abgründigkeit gerüttelt hat, den Affront vermutlich nicht einmal als solchen realisieren werden. Womit es ihnen dann auch wiederum recht geschieht, wenn sich ihr Präsident an die Spitze der rätestaatlichen Systemüberwindung stellt.
Es gibt noch Wege der Partizipation
Wenn nun schon das Parlament, dokumentiert durch seinen obersten Repräsentanten, seine eigene Volksferne als unüberwindlich erkennt, so soll gleichwohl darauf hingewiesen werden, dass es durchaus noch Wege geben kann, wie des Bürger Partizipation am politischen Geschehen möglich gemacht werden kann.
Ein gutes und ohne Zweifel ausbaufähiges Beispiel lieferte an besagtem Wochenende die bayerische CSU. Sieht man von der Eröffnungsrede eines zunehmend haltungsgerechten Marcus Söder einmal ab, hatte die bayerische CDU-Schwester den Mut, nicht nur ihren Parteitag virtuell, also über Laptop statt Lederhose, abzuhalten. Die vom Parteisekretär souverän und locker geleitete Veranstaltung wurde auch in großen Teilen live via Phoenix übertragen. Hier konnte, wer wollte, live erleben nicht nur, dass es in Parteien tatsächlich Entscheidungsprozesse gibt, an denen sich die Mitglieder beteiligen können – der Zuschauer erlebte auch einen bunten Querschnitt durch die Partei, der von unten nach oben und kreuz und quer thematisch diskutierte.
Da wurde Politik plötzlich menschlich ohne Schaufensterreden, als eine pfiffige junge Frau mit Strauß-Warhol im Hintergrund voller Überzeugung gegen das Votum der Antragskommission argumentierte. Als Markus Blume nun, wie es ihm die Parteitagsregie offenbar aufgegeben hatte, die fachlich zuständige Landesministerin zuschalten wollte, blieb der kleine Laptop-Monitor erst einmal schwarz – und Blume etwas verwundert im Bild. Bis sich dann die Dame doch noch zuschaltete und kurz und knapp mitteilte, dass sie vermutlich aufgefordert worden sei, dazu Stellung zu nehmen, aber sie es sich zum Prinzip gemacht habe, nur dann etwas zu sagen, wenn sie auch wirklich etwas zu sagen hätte. Das sei hier nicht der Fall – und insofern war der Monitor schwarz.
Politik mit neuen Medien transparent machen
Solche, nun durch Corona angeschobenen Wege der Transparentmachung von Politik könnten ein Schritt sein, die Volksferne der Politik wieder ein wenig mehr zu erden. Der nächste Schritt könnte es sein, dass Parteien ähnliche Formate der Diskussion auf kommunaler Ebene anbieten. Daran kann sich dann beteiligen, wer möchte. Nur nicht die Berufsfunktionäre der NGO und andere Rätestaatsvertreter. Es sei denn, auch diese erden sich wieder und werden zu Civis, zu Bürgern, womit dann der Begriff der Zivilgesellschaft vielleicht sogar das beschreiben könnte, was er ursprünglich beschreiben sollte: Eine Gesellschaft aus gleichberechtigten, informierten und am politischen Geschehen interessierten Bürgern – keine Diktatur selbsternannter Verbandseliten und Funktionärs-Kommissare.
Einem Schäuble allerdings werden solche Formate, wie die CSU sie nun erstmals gewagt hat, mental wie in der Sache verschlossen bleiben. Was einmal mehr die Frage erlaubt, ob nicht auch für Berufspolitiker eine gesetzliche Altersgrenze eingeführt werden sollte. Was für normale Arbeitnehmer gilt, sollte schließlich auch für jene gelten, die ihren Arbeitsauftrag vom Volk bekommen. Ein unverkennbar zu langer Aufenthalt in den Echokammern der Macht wirkt sich offenbar schädlich auf Sinn und Verstand aus – Schäuble hätte sich und dem Volk und den Parlamentariern manchen Unsinn erspart, wäre er einfach mit 66 in den verdienten Ruhestand gegangen. Aber manche können halt nicht loslassen – offenbar haben sie nichts anderes, an dem sie sich erfreuen können.