Tichys Einblick
Verfassungswidrige Selbstentmachtung

Wie der Bundespräsident zum Grüßaugust wurde

Der Bundespräsident ist unnötig – er hat seine wesentliche Repräsentationsfunktion aufgegeben. Mit der Abzeichnung eines einfachen Bundesgesetzes durch Richard von Weizsäcker ist er 1985 endlich dort angekommen, wo ihn böse Zungen schon immer hinsortiert hatten: auf der Funktion des Grüßaugust.

Mit der schönen Aussicht, in Schloss Bellevue einzuziehen, könnte die CDU die Grünen doch noch für sich gewinnen.

Der Aufbau eines Staates ist eine komplizierte Angelegenheit. Soll dieser Staat den hehren Vorgaben der europäischen Denker der Aufklärung folgen, wird es richtig kompliziert. Denn nach dem US-Prinzip des „checks and balances“ – überprüfen und ausgleichen – soll sichergestellt sein, dass das Machtgefüge im demokratisch organisierten Staat nicht in die eine oder andere Richtung kopflastig wird.

Das Prinzip der Gewaltenteilung

John Locke und Montesquieu hatten deshalb das Prinzip der Gewaltenteilung entworfen. Es trennt fein säuberlich in die sogenannten Staatsgewalten:

Die Legislative als Repräsentanz der Bürger ist zuständig für die Gesetzgebung. Sie bestimmt über von ihm beschlossene Gesetze, wie der Staat agiert.

Die Exekutive als Verwaltung des Staates ist das ausführende Organ. Sein Handeln wird bestimmt durch jene Gesetze, die von der Legislative vorgegeben werden. Ein eigenständiges Handeln ohne die Kontrolle durch die Legislative und abweichend von deren Vorgaben findet nicht statt. Damit soll vermieden werden, dass kleine Machteliten auf die Idee kommen, das Organisationsinstrument der Gemeinschaft mit der Bezeichnung Staat zu vergewaltigen und nur noch den Gegenwarts- und Zukunftsvorstellungen einer kleinen, demokratisch nicht (mehr) legitimierten Kaste zu dienen. Kurz: Es soll verhindert werden, dass eine Staatsdiktatur entsteht.

Die dritte Macht ist die Judikative. Sie wird repräsentiert durch Gerichte, die in absoluter Unabhängigkeit von den beiden anderen Mächten darüber zu wachen haben, dass diese – vor allem jedoch die Exekutive – sich an die Gesetze halten. Nicht in den Aufgabenbereich der Judikative fällt das Entwickeln eigener Gesetzesinitiativen, denn dann würde diese unabhängige Instanz gleichsam über sich selbst wachen müssen. Ein Ding der Unmöglichkeit. Die Einflussnahme der Judikative auf die künftige Gesetzgebung beschränkt sich darauf, in strittigen Fällen Interpretationshilfen zum geltenden Recht zu geben – unter der Annahme, dass die Legislative als Gesetzgeber, so sie will, diese Interpretationen in sein Ansinnen, das Recht zu konkretisieren, aufnimmt. Eine entsprechende Verpflichtung der Legislative jedoch besteht nicht, denn sie würde die Unabhängigkeit der Parlamente in Frage stellen.

Der Präsident steht über allem

Es soll an dieser Stelle nicht diskutiert werden, dass und wie dieses in sich logische und sinnvolle Modell im modernen Verfassungsstaat unterlaufen werden kann und unterlaufen wird – durch die Unfähigkeit von Legislativvertretern ebenso wie durch eine sich verselbständigende Exekutive und auch durch eine Judikative, die ihren Wachauftrag mit Gestaltungsauftrag verwechselt oder eine zu große Nähe zur Exekutive entwickelt. Dazu ist bereits viel geschrieben worden – und es wird noch viel mehr zu schreiben sein.

Wichtig ist ein weiterer Aspekt. Da diese Gewalten sämtlich Bestandteile eines an gemeinsamen Zielen orientierten Staatswesens sein sollen – gemeinhin auch als „Gemeinwohl“ bezeichnet – hat der moderne Verfassungsstaat ein Organ geschaffen, welches gleichsam über allen drei Gewalten steht, ohne in deren jeweilige Autonomie aktiv eingreifen zu dürfen und ohne von diesen abhängig zu sein oder von dort gelenkt zu werden.

Dieses Organ entspricht in gewisser Weise jenem „Staatsnotar“ welchen die Republik Österreich nach dem Zusammenbruch des Habsburger Reichs kurzfristig eingeführt hatte. Der Staatsnotar ist derjenige, der als unabhängiger Sachwalter des Staates ohne eigene Interessen dafür zu sorgen hat, dass das Wollen und Handeln der drei Gewalten einer obersten Aufsicht unterliegen – und der gleichzeitig die Verantwortung dafür trägt, dass das staatliche Handeln sich an den vom Gesetzgeber als Volksvertretung und damit am Wollen des Staatsvolkes orientiert.
Da Völker – oder moderner: Nationen – offenbar das Bedürfnis haben, diese eher abstrakte Funktion eines Staatsnotars in einer Persönlichkeit wiederzufinden, verfügten die Verfassungen der deutschen Bundestaaten seit 1866 über das Amt eines Präsidenten dieses Bundes. Dieser Präsident – 1871 hieß er Deutscher Kaiser, 1919 Reichspräsident und ab 1949 Bundespräsident – sollte als neutral über den Gewalten stehende Persönlichkeit den Staat und das Volk an sich repräsentieren. Diese Repräsentanz wirkte nach innen wie nach außen. So ist es heute unter anderem seine Aufgabe, die Akteure der Exekutive zu bestellen und zu entlassen sowie den Beschlüssen der Legislative als Gesetze durch kontrollierende Gegenzeichnung ihre Wirksamkeit zu geben. Im Verhältnis zu anderen Staaten tritt der, nennen wir ihn hier neutral Staatspräsident als Repräsentant eben des von ihm repräsentierten Staates auf. Er ist de jure und im klassischen Verständnis das Staatsoberhaupt – die Person, die die Einheit von Staat und Staatsvolk repräsentiert.

Nur der Präsident ist „der Staat“

Als 1949 auf Initiative der westlichen Protektoratsmächte der Verfassungsrat für die vor der Gründung stehenden Bundesrepublik das Grundgesetz als vorläufige Verfassung formulierte, blickte es bei der Beschreibung der Funktion dieses Staatsoberhauptes auf die eigene Geschichte und auf die Fehlentwicklungen, die sich in diesem Amt gezeigt hatten. So wurden seine Aufgaben partiell eingeschränkt, gleichzeitig jedoch seine herausgehobene und über den Interessen stehende Position festgeschrieben. Vor allem im Außenverhältnis  blieb er der einzige Repräsentant der Einheit von Volk und Staat, der rechtsverbindliche Vereinbarungen treffen kann.  Artikel 59 (1) GG schreibt daher unmissverständlich fest: „Der Bundespräsident vertritt den Bund völkerrechtlich. Er schließt im Namen des Bundes die Verträge mit auswärtigen Staaten. Er beglaubigt und empfängt die Gesandten.“

Das Grundgesetz ist in seinem verfassungsgleichen Charakter das Grundgerüst des Staates Bundesrepublik Deutschland. Es zu ändern – so schreibt es dieses Gesetz in Artikel 79 fest – bedarf einer hohen Hürde: „Das Grundgesetz kann nur durch ein Gesetz geändert werden, das den Wortlaut des Grundgesetzes ausdrücklich ändert oder ergänzt. … Ein solches Gesetz bedarf der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages und zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrates.“

Auch diese Regelung ist unmissverständlich: Soll etwas an dem Grundgesetz geändert werden, so müssen zwei Drittel der Mitglieder von jeweils Bundestag und Bundesrat diesem zustimmen. Wohlbemerkt: Der Mitglieder, nicht der bei einer Sitzung anwesenden Parlamentarier oder Vertreter. Das Grundgesetz will damit sicherstellen, dass nicht etwa Regelungen, die in ihm festgeschrieben wurden, durch die Hintertür ausgehebelt werden können.

Szenenwechsel : Aachen

Am 22. Januar 2019 traten in Aachen der Präsident der Republik Frankreich, Emmanuel Macron, und der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, Angela Merkel, in einer feierlichen Stunde vor die Öffentlichkeit, um einen Vertrag über die Vertiefung der gemeinsamen Zukunft beider Länder zu unterzeichnen. Ohne jeden Zweifel: Bei dem Aachener Vertrag handelt es sich um ein völkerrechtlich verbindliches Abkommen. Oder nicht?

Tatsächlich trägt dieser Vertrag die Unterschriften von Merkel und Macron. Nur von Merkel und Macron. Damit ist er im Sinne des Grundgesetzes nicht völkerrechtsverbindlich. Denn – siehe oben – „der Bundespräsident schließt im Namen des Bundes die Verträge mit auswärtigen Staaten“.

Die Befugnisse des Bundeskanzlers als Vorsitzender der Exekutive, festgeschrieben in den Artikeln 64 und 65 GG, sehen weder ein ebensolches Recht vor, völkerrechtsverbindliche Verträge zu schließen, noch wäre er etwa gar berechtigt, in welcher Situation auch immer in Stellvertretung des Bundespräsidenten zu handeln.
Sollte der Bundespräsident aus irgendwelchen Gründen ausfallen, so regelt Artikel 57 GG seine Stellvertretung – sie liegt aus gutem Grunde beim Präsidenten des Bundesrates als obersten Vertreter der Länder, denn es sollte unbedingt verhindert werden, dass der Kanzler gleichsam die Ergebnisse seiner Tätigkeit selbst absegnen kann.

Das Grundgesetz ist folglich eindeutig, in sich schlüssig und konsequent – und nach diesem hat der Aachener Vertrag (und vermutlich noch zahlreiche andere) keine völkerrechtsrelevante Bindungswirkung, solange er nicht vom Bundespräsidenten persönlich unterzeichnet ist.

Eine auf diesen Zustand hinweisende Frage an das Präsidialamt schien unter diesen Voraussetzungen angesichts der Vertragsunterzeichnung in Aachen unvermeidbar. Wie beurteilt derjenige, der gemäß geltender Verfassung der Einzige ist, der völkerrechtsverbindliche Verträge abschließen darf, die Tatsache, dass der Bundeskanzler ihm dieses Recht nimmt und im Widerspruch zum Grundgesetz die Aufgaben des Bundespräsidenten wahrnimmt? Kann ein solcher Vertrag tatsächlich völkerrechtlich bindend sein?

Eine Antwort aus dem Bundespräsidialamt

Ester Uleer, stellvertretende Sprecherin des Bundespräsidenten, wies die aus dem Grundgesetz abgeleitete Annahme der Rechtsunwirksamkeit zurück:
„Das Bundespräsidialamt teilt Ihre Auffassung nicht. Der Aachener Vertrag ist nach hiesiger Auffassung ein völkerrechtlich verbindliches Abkommen.“

Das verblüfft. Und so folgte selbstverständlich nun auch eine Begründung – denn wenn schon etwas im offensichtlichen Widerspruch zum Wortlaut des Grundgesetzes steht und dieses seitens des Bundespräsidialamtes als unproblematisch betrachtet wird, so ist eine Begründung unvermeidbar. Sie lautete wie folgt:

„Nach Artikel 7 Absatz 2 lit. a) des Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969 werden Kraft ihres Amtes, ohne eine Vollmacht vorlegen zu müssen, als Vertreter ihres Staates angesehen Staatsoberhäupter, Regierungschefs und Außenminister zur Vornahme aller sich auf den Abschluss eines Vertrags beziehenden Handlungen (…).  Dem entspricht im Übrigen die völkerrechtliche Praxis, nach der neben dem Staatsoberhaupt auch der Regierungschef (im Fall der Bundesrepublik die Bundeskanzlerin) oder der Außenminister berechtigt sind, völkerrechtliche Verträge im Außenverhältnis wirksam zu unterzeichnen.“

Das Wiener UN-Abkommen

Bei dem angeführten „Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge“ handelt es sich um eine Übereinkunft auf Ebene der UN. Womit zuallererst festgehalten werden kann: Die Vereinten Nationen als vereinsähnliche, supranationale Regierungenorganisation mit demokratisch und totalitär organisierten Mitgliedern hat – wie jeder andere Verein auch – die Möglichkeit, sich im Umgang untereinander Geschäftsordnungen oder den Geschäftsablauf regelnde Statuten zu geben. Eines allerdings dürfen diese Statuten niemals sein: Gegen die Verfassungen souveräner, demokratisch aufgebauter Staaten gerichtet. Dieses gilt umso mehr, als die Bürger der Mitgliedsstaaten – gleich ob Demokratie oder Diktatur – nicht die geringste Möglichkeit der Mitwirkung am Zustandekommen dortiger Beschlüsse haben, die UN also ohne demokratische Legitimation Recht aus eigenem Recht schaffen.

Wenn nun das Bundespräsidialamt sich bei der Rechtfertigung eines vermuteten Verstoßes gegen die Verfassung auf Statuten einer Organisation wie die UN beruft, dann kann dieses juristisch nur dann eine Abweichung von der Verfassung heilen, wenn diese Statuten im souveränen Staat Bundesrepublik Deutschland in einem Verfassungsgebenden Akt von der Legislative beschlossen wurden und gemäß GG den Wortlaut des GG ändern oder ergänzen.

Das deutsche Gesetz zum Wiener Abkommen

Wollte der Gesetzgeber, dass der Inhalt des Wiener Übereinkommens, der im Widerspruch zum Wortlaut des Grundgesetzes steht, in der Bundesrepublik Deutschland geltendes Recht wird, so wäre dafür ein entsprechender, gesetzgeberischer Akt auf Grundlage des Grundgesetzes unverzichtbar. Und tatsächlich werden wir fündig, den Versuch eines solchen Aktes festzustellen.
Im Plenarprotokoll 10/146 des Deutschen Bundestages steht für den 20. Juni 1985 ein Gesetzgeberischer Akt mit Bezug auf das Wiener Abkommen als Tagesordnungspunkt 11 von 18 auf der Tagesordnung. Da die nachfolgenden Tagesordnungspunkte im Eiltempo abgefertigt wurden und das Sitzungsprotokoll den Sitzungsschluss mit 22.31 Uhr ausweist, dürfte diese Gesetzgebung kaum vor 22.00 Uhr zur Debatte gestanden haben. Allerdings: Eine Debatte fand nicht statt. Das jedoch ist in solchen Gesetzgebungsverfahren nichts Ungewöhnliches, da es sich hier um die bei Gesetzesvorhaben vorgeschriebene, zweite und abschließende Lesung gehandelt hat. Auseinandersetzungen über Gesetzesvorhaben finden – wenn überhaupt – zumeist bei der ersten Lesung statt.

Zitieren wir nun nach dem Plenarprotokoll die Worte des damaligen Bundestagspräsidenten Philipp Jenninger, wobei wir das Gequengel eines Abgeordneten der Grünen, der den Tagesordnungspunkt 10 offenbar verschlafen hatte und erfolglos Wiedereintritt in die Debatte forderte, ausblenden:

„Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Wiener Übereinkommen vom 23. Mai 1969 über Recht der Verträge – Drucksache 10/1004 – …[hier folgt das grüne Gequengel]
Das Wort zur Berichterstattung wird nicht gewünscht. – Das Wort zur Aussprache wird ebenfalls nicht gewünscht. Wir kommen zur Schlußabstimmung. Ich rufe das Gesetz mit seinen Art. 1 bis 3 sowie Einleitungen und Überschrift auf. Wer dem Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Das Gesetz ist angenommen.“

Das ging blitzschnell und problemlos über die Bühne.

Worauf beruft sich das Bundespräsidialamt?

Und wie nun lautet dieses Gesetz, welches der Deutsche Bundestag beschlossen hat? Zitieren wir nach dem verkündenden Bundesgesetzblatt Jahrgang 1985 Teil II:

„Der Deutsche Bundestag hat das folgende Gesetz beschlossen:
Artikel 1 – Dem in New York am 29. April 1970 von der Bundesrepublik Deutschland unterzeichneten Wiener Abkommen vom 23. Mai 1969 über das Recht der Verträge wird zugestimmt. Das Übereinkommen wird nachstehend veröffentlicht.
Artikel 2 – Dieses Gesetz gilt auch im Land Berlin, sofern das Land Berlin die Anwendung dieses Gesetzes feststellt.
Artikel 3 – (1) Dieses Gesetz tritt am Tage nach seiner Verkündung in Kraft. (2) Der Tag, an dem das Übereinkommen nach seinem Art. 84 Abs. 2 für die Bundesrepublik Deutschland in Kraft tritt, ist im Bundesgesetzblatt bekannt zu geben.
*
Die verfassungsmäßigen Rechte des Bundesrates sind gewahrt. Das vorstehende Gesetz wird hiermit ausgefertigt und wird im Bundesgesetzblatt verkündet.“

Diese Verkündung erfolgte zum 3. August 1985 und wurde gezeichnet durch den damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, den Bundesminister der Finanzen, Gerhard Stoltenberg, und den Minister des Auswärtigen, Hans-Dietrich Genscher. Es folgt der Wortlaut des besagten Abkommens im Original in englischer, französischer und als Übersetzung in deutscher Sprache.

15 Jahre auf Halde

Dieses war der Gesetzgebende Akt, auf den sich das Bundespräsidialamt in seiner Antwort beruft. Damit also alles in Ordnung? Durften Bundeskanzler und der Bundesminister des Auswärtigen von nun an für die Bundesrepublik völkerrechtsverbindliche Verträge abschließen?

Bevor wir uns dieser Frage zuwenden, soll der Blick auf einen Aspekt gerichtet werden, der unbeachtet zu bleiben schade wäre.

Schauen wir auf das Sitzungsprotokoll, so erfolgte die Verabschiedung unter der schwarzgelben Kohl-Regierung im Sommer 1985. Schauen wir auf das Gesetz selbst, so fällt auf: Dieses Abkommen stammt aus dem Jahr 1969 – und es wurde bereits im April 1970 durch die Bundesrepublik gezeichnet.

1969 und 1970 stellten in der Bundesrepublik die SPD und die FDP die Regierung. Warum haben sie das gezeichnete Abkommen nicht im Eiltempo durch den Bundestag geschoben? Warum dauerte es bis 1985 geschlagene 15 Jahre, bis das entsprechende Gesetz verabschiedet wurde – und warum musste dieses nun von einer Unions-FDP-Regierung vollzogen werden? Die Antwort auf diese Frage kann nur lauten: Vor 1985 war man sich nicht im Klaren darüber, ob diese Neuausrichtung nicht Verfassungsrang haben müsste – und über die unverzichtbare 2/3-Mehrheit verfügte die rotgelbe Bundesregierung nicht. Erst 1985 hatte offenbar die Union ihre Verfassungsbedenken überwunden – warum auch nicht: Nun war Helmut Kohl Kanzler – und die Erhöhung seines und des Koalitionspartners Genschers Bedeutungsranges in Sachen Außenpolitik auf Bundespräsidentenniveau wird beiden nicht missfallen haben.

Ein Vorgehen ohne Verfassungsgrundlage

Damit also alles im Lot? Ist es so, wie Präsidentensprecherin Uleer weiter ausführt?
„Zwar konzentriert Artikel 59 Absatz 1 Grundgesetz die völkerrechtsgeschäftliche Vertretungsbefugnis beim Bundespräsidenten. Allerdings erlaubt es die Vorschrift dem Bundespräsidenten auch, seine völkerrechtliche Vertretungsbefugnis auf andere Staatsorgane zu übertragen und dies geschieht in der Staatspraxis regelmäßig.“
Das Vorgehen nach Wiener Abkommen ist folglich Tagesgeschäft. Aber ist es rechtlich einwandfrei, nicht zu beanstanden?

Selbstverständlich nicht. Denn nach wie vor hat Artikel 59 Verfassungsrang. Daran hat sich durch den Gesetzesakt von 1985 nichts geändert. Dort aber steht nichts von „Konzentration“. Dort steht: Der Bundespräsident ist der einzige, der im Namen der Bundesrepublik Deutschland internationale Verträge unterzeichnen darf. Niemand sonst. Dort steht auch nichts von „Vertretungsbefugnis“. Ausschließlich dann, wenn der Bundespräsident ausfällt, darf ihn der Bundestagspräsident, falls unvermeidbar, in den Außenbeziehungen vertreten. Alles andere verstößt gegen den Wortlaut des Grundgesetzes.

Eine Grundgesetzänderung ohne Grundgesetzänderung

Aber hatte die Abstimmung von 1985 nicht alles geregelt? Hat sie nicht juristisch unanfechtbar das originäre Recht des Bundespräsidenten um das entsprechende von Bundeskanzler und Außenminister erweitert?

Nein, das hat sie nicht. Denn sie hat einen entscheidenden Makel.
Bundesgesetze werden durch den Bundestag mit einfacher Mehrheit beschlossen. Das bedeutet: Stimmt eine Mehrheit der anwesenden Abgeordneten für ein Gesetz und wurde nicht zuvor die Beschlussfähigkeit des Parlaments erfolgreich angezweifelt, so ist dieses Gesetz beschlossen.

Nicht nur deshalb aber haben Bundesgesetze keinen Verfassungsrang. Zitieren wir noch einmal Artikel 79 GG: „Das Grundgesetz kann nur durch ein Gesetz geändert werden, das den Wortlaut des Grundgesetzes ausdrücklich ändert oder ergänzt.“

Das Gesetz aus 1985 hat weder das eine noch das andere getan. Es hat den Wortlaut des Grundgesetzes weder verändert noch hat es ihn ergänzt. Aber es hat seinen Gehalt substantiell verändert, genau diesen Wortlaut schlicht nicht berücksichtigt, und ihn damit in seiner juristischen Eindeutigkeit außer Kraft gesetzt.
Aus dem Plenarprotokoll geht nicht hervor, wer und wie viele Abgeordnete an der Abstimmung teilgenommen hatten. Angesichts der fortgeschrittenen Zeit darf unterstellt werden: Allzu viele werden es nicht mehr gewesen sein.

Das spielt aber auch keine Rolle. Entscheidend ist: Dieses Gesetz hat in seiner Konsequenz verfassungsändernden Charakter. Es unterläuft den Artikel 59 GG, indem es die ausschließliche Befugnis des Bundespräsidenten um Kanzler und Außenminister ergänzt. Tiefgreifender kann ein Eingriff in die Verfassung kaum sein.

Wiener Abkommen nur über Verfassungsänderung

Weil dem so ist, wäre zwecks Umsetzung des Wiener Abkommens eine entsprechende Verfassungsänderung unumgänglich gewesen. Dann hätte das Parlament rechtswirksam einen neuen Rechtszustand geschaffen, der mit der Verfassung konform gewesen wäre.

Das aber hat die Zweite Lesung 1985 nicht getan. Es hätte nicht nur der verfassungsändernde Charakter in der Tagesordnung ausgewiesen werden müssen – der Bundestagspräsident hätte, um der Verfassung gerecht zu werden, zur Abstimmung eine Zweidrittelmehrheit der gewählten Anzahl der Abgeordneten abrufen müssen. Er tat es nicht – er begnügte sich mit einfacher Mehrheit. Und so haben wir nun ein Gesetz, welches die Außenvertretungsbefugnis Bundespräsident, Bundeskanzler und Bundesminister des Auswärtigen einräumt – welches aber nicht auf dem Boden der geltenden Verfassung steht.

In der Konsequenz wären folglich alle internationalen Abkommen, die nicht die Unterschrift eines Bundespräsidenten tragen, nichts anderes als Makulatur. Denn sie sind nicht auf Grundlage der geltenden Verfassung zustande gekommen.

Das Bundespräsidialamt erkennt die Problematik nicht

Wie wenig diese Erkenntnis im Bundespräsidialamt angekommen ist, zeigt der letzte Antwortsatz der Bundespräsidentensprecherin:

„Es bedarf hierzu im staatlichen Innenverhältnis bei der Unterzeichnung durch die Bundeskanzlerin und/oder den Außenminister im jeweiligen Einzelfall einer Zustimmung durch den Bundespräsidenten. Diese Zustimmung hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Falle des Aachener Vertrags am 15. Januar 2019 erteilt.“

Eine solche Zustimmung ist völkerrechtlich jedoch gänzlich überflüssig, wenn das Wiener Abkommen tatsächlich Verfassungsrang in der Bundesrepublik haben sollte. Entweder, es gilt Artikel 59 des Grundgesetzes. Dann darf nur der Bundespräsident zeichnen. Oder es gilt das Wiener Abkommen. Dann müssen weder Kanzler noch Minister den Präsidenten fragen, ob und was sie unterzeichnen dürfen.

Das erwähnte, „staatliche Innenverhältnis“ hat mit Blick auf das Wiener Abkommen bestenfalls Geschäftsordnungscharakter. Und auch dieser ist mehr als fragwürdig, wenn er im Widerspruch zum Wortlaut des Grundgesetzes steht. Vor allem hat es eines nicht: Verfassungsrang.

Es interessiert die UN-Regelung nicht im Geringsten, ob Bundespräsident Steinmeier seine Zustimmung zum Aachener Vertrag erteilt hat oder nicht. Das spielt keine Rolle. Und so hat es die Frau Bundeskanzler ja auch eindrucksvoll dokumentiert, als sie in Aachen mit Macron zur Unterzeichnung schritt und derweil den Bundespräsidenten seine Papiere im Schloß Bellevue sortieren ließ.

Der Bundespräsident wird überflüssig

Der Bundespräsident ist unnötig – er hat seine wesentliche Repräsentationsfunktion aufgegeben. Mit der Abzeichnung des besagten Bundesgesetzes durch Richard von Weizsäcker ist er 1985 endlich dort angekommen, wo ihn böse Zungen schon immer hinsortiert hatten: Auf der Funktion des Grüßaugust.

Die Verfassungsbeugung durch einen einfachen, vom Grundgesetz nicht vorgesehenen Parlamentsbeschluss ist das eine – die Selbstaufgabe der präsidialen Souveränität das andere.

So steht nun die Frage im Raum: Wozu überhaupt noch ein Bundespräsident, wenn der sich selbst überflüssig gemacht hat? Wozu ein Grundgesetz, wenn dessen Regelungen per einfacher Mehrheit über UN-Geschäftsordnungsstatuten abgeräumt werden? Und wozu noch die Behauptung von einer parlamentarischen Demokratie, wenn alle Macht bei der Exekutive liegt?

Oder – falls wir auf dem Boden der immer noch geltenden Verfassung bleiben wollen: Was ist mit all den internationalen Abkommen, die der Bundespräsident nicht gezeichnet hat? Rundablage?

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