Tichys Einblick
Scheideweg

Von Wahrnehmungen und Wahrnehmungsverlust

Merz und Günther sind Kinder zweier CDUs: Der des größten Triumphes, als es Helmut Kohl im Tandem mit Hans-Dietrich Genscher gelang, die beiden verbliebenen Restdeutschlands unter der Fahne der Bundesrepublik zu vereinen. Und der des kontinuierlichen Niedergangs unter Merkel.

Tobias Schwarz/AFP/Getty Images

Friedrich Merz ist politisch das, was man in anderen Szenen als Gruftie bezeichnen würde. Ein Wesen aus einer anderen Zeit, als man zu Ehren des Allerhöchsten riesige Kathedralen in den Himmel wachsen ließ, bevor mit der Renaissance, der Wiedergeburt, ein fundamentaler Umbruch den Weg in die Zukunft eröffnet wurde.
Friedrich Merz, dieses 1955 geborene Wesen aus dem Zeitalter des Kohlismus, wurde von seiner Konkurrentin in die Gruft geschlagen. Nun schon zweimal. Das erste Mal im Jahr 2004, als Angela Merkel ihn letztlich veranlasst hatte, nach Zwangsaufgabe des Fraktionsvorsitzes den Bundestag zu verlassen. Das zweite Mal 2018, als eine geschickte Parteitagsregie und eine ungeschickte Bewerbungsrede den Sauerländer ein zweites Mal als Verlierer zurückließen.

Daniel Günther ist etwas anderes. Der 1973 in Kiel geborene Katholik erlebte Politik bewusst nur unter Gerhard Schröder und Merkel. Ist Merz Kohlianer, so ist Günther Merkelianer. Sie repräsentieren zwei gänzlich unterschiedliche Epochen der einst größten Volkspartei: Die des größten Triumphes, als es Helmut Kohl im Tandem mit Hans-Dietrich Genscher gelang, die beiden verbliebenen Restdeutschlands unter der Fahne der Bundesrepublik zu vereinen. Und die des kontinuierlichen Niedergangs unter Merkel.

Von Wiedergängern und Nachgeborenen

Merz ist ein Wiedergänger. Aus der politischen Gruft trat er an, Merkels Nachfolgeplan zu vereiteln. Er scheiterte. Und blieb der Wiedergänger. Knapp ein Jahr nach seiner zweiten, großen Niederlage holte er erneut aus zum Rundumschlag. Er machte seine Kritik an jener Frau fest, die ihn schon zweimal vom Hof gejagt hatte. Das Desaster der CDU liege darin, dass Merkel politische Führung und klare Aussagen vermissen lasse. Und: Das Erscheinungsbild der sogenannten Großen Koalition sei „grottenschlecht“.

Das klingt so energisch und dynamisch – und ist dennoch um Meilen zu kurz gesprungen. Es ist die Wahrnehmung eines Unionschristen, dem es nicht gelungen ist, das eigentliche Problem der CDU zu erkennen. Oder der sich nicht traut, es zu benennen, weil er sich dann mit der Parteien-Nomenklatura von Flensburg bis Konstanz überwerfen würde. Es ist die Wahrnehmung eines Phänomens, eines Polarlichts, dessen Ursache sich die Menschen nicht erklären konnten.

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Trotzdem ruft es den Merkelianer auf den Plan. Der keilt, spricht von „älteren Männern, die vielleicht nicht ihre Karriereziele erreicht haben“. Das ist persönlich – und man mag geneigt sein, es als einen Schlag unter die Gürtellinie zu betrachten, auch wenn in diesem Satz ein Kern an Wahrheit versteckt ist. Doch auch Daniel Günther bewegt sich auf einem Irrweg. Seine Bewunderung für Merkel entzieht sich jeglicher realistischen Vernunft, wenn er von einer „Lebensleistung“ spricht, von „vier Wahlen“ die sie für die CDU gewonnen habe.

Das ist die Sicht eines Nachgeborenen. Eines Menschen, der die Ära Kohl nicht mehr erlebt hat. Der die Zeit, als die Union bei den Bundestagswahlen Ergebnisse von bis zu 48,8 Prozent der Wählerstimmen einfuhr und sich so den Ehrentitel „Volkspartei“ redlich verdiente, nur aus Geschichtsbüchern kennt.

Gemessen daran hat Merkel nicht eine einzige Wahl gewonnen. Zwar reichten 2005 jene 35,2 Prozent, um den Sozialdemokraten Gerhard Schröder vom Kanzlerstuhl zu vertreiben. Das war fast exakt das Ergebnis, mittels dessen sich die Deutschen sieben Jahre zuvor ihres Langzeit-Vereinigungskanzlers entledigt hatten.

2009 wurde dann mit 33,8 Prozent der tiefste Stand nach 1949 erreicht. Einem kurzen Aufbäumen im Jahr 2013 mit immerhin noch 41,5 Prozent folgte 2017 der Absturz auf 32,9 Prozent. „Wahlen gewonnen“? Nein, Siege sehen anders aus. Mit taktischen Tricks und angesichts des noch erschreckenderen Niedergangs der ehedem großen Konkurrenz das Kanzleramt besetzt, träfe es eher.

Der Niedergang mit der Gretl von der Saar

Wahlen gewinnen wollte auch die Gretl von der Saar. Zumindest pries sich Annegret Kramp-Karrenbauer in ihrer Abwehrschlacht gegen den Wiedergänger aus der Gruft mit dem Prädikat, dass sie genau dieses könne: „Wahlen gewinnen“. Doch auch das glich wie bei Günther eher einem Wahrnehmungsverlust. Denn sie dachte dabei an jene Landtagswahl von 2017, als sie von den knapp 775.000 wahlberechtigten Saarländern 217.263 davon überzeugen konnte, sich für die CDU zu entscheiden. Das waren real 28,0 Prozent und relativ 40,7. Zur Alleinregierung reichte es dennoch nicht – und schnell verschwand die Ministerpräsidentin aus der 40.000-Seelen-Gemeinde Völklingen in den Polit-Moloch Berlin.

Wahlen gewinnen konnte das Mitglied im ZK der deutschen Katholiken seitdem nicht mehr. Am 26. Februar 2018 hatte Merkel sie zur Generalsekretärin der CDU gemacht. Am 7. Dezember des Jahres durfte sie unter Merkel die Parteiführung übernehmen. Es folgten die Stationen des Niedergangs:

– 28. Oktober 2018 Hessen: Von 38,3 auf 27,0 %.
– 1. September 2019 Brandenburg: Von 23,0 auf 15,6 %.
– 1. September 2019 Sachsen: Von 39,4 auf 32,1 %.
– 27. Oktober 2019 Thüringen: Von 33,5 auf 21,8 %.

Für die Partei und ihre Vorsitzende ist es ein Offenbarungseid. Lediglich das kleine Bremen bildete eine Ausnahme: Die dort total abgewirtschaftete SPD ermöglichte es einem energischen Unionsmann, am 26. Mai 2019 26,7 statt zuvor 22,4 Prozent einzufahren. Nützen sollte es der CDU nichts, da die Wahlverlierer sich umgehend zur rotrotgrünen Volksfront zusammenschlossen.

Wie es in den Parteiniederungen klingt

Merz, der Wiedergänger, kann angesichts der Wahlergebnisse des vergangenen Jahres nur froh sein, im Dezember 2018 in Hamburg nicht zum neuen Vorsitzenden der CDU gewählt worden zu sein. Selbst dann, wenn er die Hoffnungen seiner Unterstützer erfüllt hätte, wäre es bestenfalls gelungen, die Verluste etwas abzufedern. Denn die Unionskarre steckt mittlerweile längst viel zu tief im Schlamm, als dass allein ein Merz einen neuen Sommer einleiten könnte.

Deutlich wird das Dilemma, wenn man das Ohr in die Niederungen der Partei hält. So traf sich am letzten Dienstag des Oktobers im südhamburgischen Rönneburg die dortige, überaus bodenständige Unionsklientel wie jedes Jahr zum traditionellen Grünkohlessen. Ehrengast und Hauptredner war dieses Jahr Enak Ferlemann – ein Name, der nur wenigen geläufig sein dürfte. Unbedeutend ist dieser Ferlemann dennoch nicht. 1963 geboren im Niedersächsischen Bad Rothenfelde bei Osnabrück, lebt er seit der Schulzeit in Cuxhaven an der Elbmündung und vertritt den Nordwesten des erdverwachsenen Bundeslandes seit 2002 im Bundestag. Seit Oktober 2009 ist er Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesverkehrsministerium und seit jüngstem Beauftragter der Bundesregierung für den Schienenverkehr.

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Nicht ohne Witz und auch mit Selbstkritik verkaufte er im fast noch ländlichen Hamburg die Erfolge seines Ressorts und baut dabei durch die Hintertür all jene Positionen auf, die eine Zusammenarbeit mit den Ökoträumern aus der Grünzone annähernd unmöglich machen. Der stilisierten „Flugscham“ begegnet er mit der wissenschaftlich belegten Feststellung, dass der Flugverkehr rasant zunehmen werde: „Wir Deutschen werden noch wesentlich mehr fliegen. Der Flughafenausbau ist deshalb unverzichtbar“, stellt er fest. Gleiches gilt für den Lastkraft-Güterverkehr.

Trotz geplanter Umsteuerung auf Schiene und Wasser werde sich der Anteil der LKW am Modal Split, der die jeweilige Verteilung der Transportgüter auf unterschiedliche Verkehrsträger beschreibt, mehr als verdoppeln. „Das kriegen Sie mit Batteriebetriebenen LKW nicht hin. Denn dann fahren Sie riesige Batterien mit ein wenig Güterzuladung durch die Landschaft“, meint Ferlemann. Für den Niedersachsen, dessen Landesregierung maßgeblich im Aufsichtsrat jenes Weltunternehmens vertreten ist, das jüngst beschlossen hat, nur noch auf Batterie zu setzen, steht fest: Die Zukunft liegt bei Gas und Wasserstoff. Daran werde mit Hochdruck gearbeitet, um die Mobilität zu sichern. Batterien sind für den gelernten Bankkaufmann keine Alternative. Auch deshalb, so unterstreicht er nicht ohne Stolz, habe das Bundesministerium mit 271 Milliarden Euro für den Zeitraum 2016 bis 2030 das größte Infrastrukturprogramm der bundesdeutschen Geschichte durchgesetzt.

Stolz auf Deutschland

„Stolz“ – das ist etwas, womit Ferlemann auch die versammelten Unionschristen begeistern will. „Wir Deutschen sind Exportweltmeister! Wir sind einfach richtig gut! Wir produzieren, was alle gern wollen – und bezahlen! Seien Sie doch mal stolz auf sich!“

Das klingt nach der Union von vor 2000. Nach Helmut Kohl und 1982, als die Satire der Anarcho-Combo „Geier Sturzflug“, in der „wieder in die Hände gespuckt“ wurde, von Unionsanhänger im Schallplattenladen als „CDU-Song“ nachgefragt wurde. Und so darf es nicht verwundern, dass der Unionsmann zu einer für Regierungsmitglieder ungewohnt deutlichen Kritik ansetzt.

„Die Union leidet an einer Fehleinschätzung der Situation“, stellt er fest und zieht ein Beispiel aus dem Einzelhandel heran. „Du lernst schon als Kaufmann, dass man sich zuerst um seine Stammkunden kümmern muss, und erst dann um die Laufkundschaft.“ Das habe die CDU sträflich vernachlässigt. Ob Bundeswehr, Landwirtschaft oder Selbständige – „stattdessen kümmern wir uns um Umweltgruppen und soziale Netzwerke – da muss man sich über die Wahlergebnisse nicht wundern.“ Dann die Ankündigung, die wie ein Kampfansage klingt: „Auf dem Bundesparteitag wird das mit der notwendigen Deutlichkeit besprochen werden. So bleiben, wie es ist, kann es nicht!“

Mehr sagt Ferlemann dazu nicht. Es hat sowieso jeder verstanden: Das Problem heißt Merkel. Und es heißt seit einem Jahr auch Kramp-Karrenbauer.

Ferlemann springt zu kurz

Doch auch der Kohlianer aus Cuxhaven springt zu kurz. Was er zu ahnen scheint, wenn er das Image einer – seiner – Partei mit Zahnpasta vergleicht, die man nicht wieder in die Tube bekommt, was immer man auch anstellt. Will sagen: Es sei leicht, ein Parteiimage zu vernichten. Und es ist fast unmöglich, ein solches Image wieder zu reparieren. Und wenn er fast beschwörend meint, die Union dürfe nicht dem Schicksal der SPD folgen, die sich an „internen Castingshows“ ergötze und schon längst am Ende sei.

Ferlemanns Denkfehler wird offenbar, wenn er den Blick in die heute als „Osten“ bezeichnete, frühere Mitte der deutschen Republik lenkt. Dorthin, wo vor allem die AfD derzeit die Rolle der Volkspartei an sich reißt und die alten Westparteien zertrümmert im Staub liegen.

„Wir haben den Aufbau Ost unter Verschleiß West gemacht“, kritisiert er und betont gleichzeitig, dass der Aufbau Ost richtig und unverzichtbar war. Doch da schwingt dann auch die ewige Kritik der Etablierten aus dem Westen mit. Der Vorwurf, die Ossies seien undankbar, wo doch der Westen so viel für die neuen Bundesländer geopfert habe.

Die Arroganz der Wessies nicht erkannt

Ja, es ist richtig. Die Städte und Dörfer zwischen Rügen und Erzgebirge wurden vielfach durch die Vereinigung vor dem finalen Verfall gerettet. Binz, Meißen, Quedlinburg, Görlitz – all das gäbe es nicht mehr, wären nicht Milliarden von West nach Ost geflossen. Doch das löst das persönliche Dilemma nicht. Dieses tiefsitzende Gefühl der „Ossies“, nicht dort angekommen zu sein, wohin man mit der Wiedervereinigung wollte. Gebrochene, individuelle Lebensläufe, geplatzte Karriereträume sind das eine. Aber sie sind nicht einmal das Entscheidende.

Wenn ein Frank Plasberg hilf- und fassunglos auf die Idee einer Antje Hermenau reagiert, die die Asyl- und Zuwanderungspolitik in die Hände der Kommunen legen möchte, indem er die West-Stereotype wiederholt, dass die Ossies doch im Gegensatz zu den Wessies überhaupt keine Erfahrung im Umgang mit Zuwanderern hätten, dann schimmert dort die Arroganz des Westens durch, die ein wirkliches Zusammenwachsen nach 1990 ständig behindert hat. So, wie die Gutmenschen der Republik besser wissen als jeder „Neger“, was für die Schwarzafrikaner gut und richtig ist und wie diese als Migranten in Deutschland zu behandeln sind, so wissen die selbsternannten Westeliten eben auch, was für die Ossies richtig ist.

Die Dauerdiffamierung bewirkt das Gegenteil

Das ständige Trommelfeuer, einen jeden, der noch ein wenig national denkt und sich gegen die von ihm gefühlte Übernahme der Republik durch kulturfremde, freiheitsfeindliche Bestrebungen aus dem Morgenland wehrt, zum Faschisten, Rassisten und Rechtsextremisten zu erklären, zeigt längst Wirkung. Aber die genau gegenteilige von der gewünschten.

Als die „Ossies“ sich 1989/90 in den Westen aufmachten, war ein wesentliches Motiv auch die Überwindung der künstlichen Zwangssolidarität unter sowjetischer Hegemonie. Die zwangskollektivierten Mitteldeutschen wollten selbstbestimmte Deutsche werden. Volksdeutsche – um dieses von der politischen Linken stigmatisierte Wort zu verwenden.

Stattdessen wurden sie Mündel westdeutsch geprägter „Besserwessies“ – und sollten von Sowjetvasallen ohne die historische Zwischenstufe der nationalen Deutschen zu Europäern und Weltbürgern werden. Das aber, was mit dem Beitritt zur Bundesrepublik ihre natürliche Identität begründete, war eben dieses Deutsch-sein. Und genau das soll ihnen immer deutlicher ausgetrieben werden. Weil dieses Deutsch-sein für jene linksradikalen Internationalisten, welche die öffentliche Meinung und die Politik dominieren, immer und ohne jede Reflektion und Differenzierung durchweg „Nazi“ ist.

Umsteuern allein hilft nicht

Die Wahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen sind deshalb mehr als nur ein kurzer Fehlweg, den man, wie nicht zuletzt Ferlemann hofft, durch Umsteuern verlassen kann. Sie signalisieren einen Aufbruch, ein Zur-Wehr-Setzen gegen die aufgezwungenen, linksideologischen Gesellschaftsvorstellungen, die längst auch schon von der CDU mitgetragen werden.

Die Zukunft der CDU steht auf dem Spiel
Der „Elefant im Raum“ – besser: im Kanzleramt
Brandenburg, Sachsen, Thüringen – sie sind auch Ungarn und Polen. So, wie dort Bewegungen, die zuallererst die nationale Identität im Auge haben und erst dann den Blick nach Europa richten, die Agenda prägen und damit die Gegnerschaft der westeuropäischen Eliten provozieren, so steht hinter der Wahl von Kommunisten und mehr vor allem der AfD in den Länder der ehemaligen DDR das Verlangen nach einer eigenen, einer deutschen Identität. Wenn es sein muss, auch als eine Identität der „Ossies“, die diese deutlich und sichtbar von der „Wessie“-Identität trennt, wenn jene eben als Deutsche nicht mehr zu retten sind.

Die Spaltung, die von den westlich geprägten Eliten derzeit der AfD angelastet wird, ist im eigentlichen Sinne keine zwischen Links und Rechts. Sie ist am Ende nicht einmal eine zwischen West und Ost. Sie ist eine zwischen einer nationalen, deutschen Identität und einer antideutschen-internationalistischen. Und je mehr die Internationalisten als vorgeblich einzige echte Europäer auf die Nationalen einprügeln, sie als Nationalsozialisten diffamieren, desto mehr werden sie die Nationalen tatsächlich zu Antieuropäern machen.

Ein Ansatz von Erkenntnis

Bodo Ramelow, der vom Westen in den nahen Osten gewanderte Ministerpräsident und Kommunist hat in einem Interview mit dem russischen Propagandaorgan „Sputnik“ dazu einige bemerkenswerte und dennoch unbeachtete Sätze gesagt. „Die AfD“, so meint er, „ist nur eine Konsequenz aus einem Milieu, das gewachsen und politisch freigelassen worden ist. Franz Josef Strauß hat gesagt, rechts von der CDU/CSU ist nur die Wand. Und Frau Merkel ist in der großen Koalition so in die Sozialdemokratie rüber gewandert, dass jetzt zwischen der Union und der Wand viel Platz ist.“ Dennoch, so sagt er auch, müsse klar zwischen Rechtsterrorismus und der AfD unterschieden werden.

Das ist im Ansatz alles zutreffend, auch wenn es die gesamte Breite der Entwicklung nicht erfasst. Aber es ist eine Erkenntnis, die hilft, jene Bürger, die als frustrierte Demokraten und enttäuschte Ex-DDR-Bürger heute zur AfD stehen, auch als konservative, wertorientierte, vor allem aber deutsche Bürger in der Demokratie zu halten und sie nicht in Folge einer Dauerstigmatisierung tatsächlich an die Positionen extremistisch-totalitärer Welterklärungen zu verlieren. Es kann sogar, wenn es die Westparteien begreifen würden, ein Weg sein, an die AfD verlorene Wähler mit der Zeit zurück zu gewinnen – oder sich mit der Existenz der AfD als konservativ-nationaler Bewegung in der Demokratie zu arrangieren und jene, die derzeit dabei sind, eine eigene Nicht-Wessie-Identität zu entwickeln, als überzeugte Demokraten mit in die Zukunft zu nehmen.

„Ossies“ nicht länger als Dummerchen abtun

Das allerdings setzt voraus, real existierende Befürchtungen und Bedürfnisse nicht wie ein Plasberg als unbegründete Angstfantasien kenntnis- und erfahrungsloser Ost-Dummerchen abzutun. Vor allem aber müssten die Vertreter der West-Parteien erkennen, dass die ideologischen Augenklappen, wie sie ein Ralf Stegner – ebenfalls beim Sputnik – trägt, wenn er pauschal die AfD als „parlamentarischen Arm der rechten Gewalt“ diffamiert, davon spricht dass „dort Hass und Intoleranz gepredigt“ wird und „den Brandreden die Brandsätze von morgen folgen“, das genaue Gegenteil von dem bewirken, was der selbsternannte Antifaschist der SPD vielleicht zu erreichen sucht – vorausgesetzt, wir unterstellen ihm, dass seine eigenen Hass- und Brandreden gegen alles, was vermeintlich rechts von ihm steht, nicht ausschließlich Selbstzweck eines sich selbst verzehrenden Charakters sind.

Die Union bedarf mehr als „notwendige Deutlichkeit“

Wenn, wie Ferlemann es angekündigt hat und wie es der neue JU-Vorsitzende Tilman Kuban durch seine im CDU-Bundesvorstand vorgetragene Generalkritik ebenfalls deutlich gemacht hat, das Unions-Desaster auf dem anstehenden Bundesparteitag „mit der notwendigen Deutlichkeit besprochen“ wird und dieses dann zwangsläufig auch personelle Konsequenzen einläuten müsste, wird es nicht reichen, die Entwicklung in den jungen Bundesländern mit einer diffusen Unzufriedenheit und Undankbarkeit abzutun. Will die CDU als Partei überleben, muss sie sich die Grundsatzfrage stellen. Will sie eine Partei sein, die, wie es noch im Grundgesetz steht, die Vertretung des deutschen Volkes ist – oder will sie sich ins Lager der linken Internationalisten bewegen und damit das Feld räumen für Parteien und Bewegungen, die dann statt ihrer den Anspruch der deutschen Nation vertreten werden?

Die CDU hat die Mitte verlassen
CDU und Linke in Thüringen: Die Regierung der Rentner
Diese Frage im Sinne Ferlemanns für die Stammklientel und nicht für die Laufkundschaft zu beantworten, bedarf es in der Union offensichtlich mittlerweile eines Kraftaktes. Weil man auf die Lügenmärchen der radikalen Linken hereingefallen ist, dass das Bekenntnis zur eigenen Nation anti-europäisch und anti-globalistisch, menschenfeindlich und rassistisch sei. Weil man meint, mitheulen zu müssen, wenn die radikale Linke das Bekenntnis zur eigenen Nation ständig und ohne Unterlass als „völkisch-nationalsozialistisch“ diffamiert.

Dabei galt in der Union vor Merkel immer auch: Man kann stolzer Deutscher und guter Europäer und sogar überzeugter Internationalist sein. Man kann auf den Führungsanspruch einer deutschen Nation in einer deutschen Republik bestehen, und dennoch Migranten jede Tür in die Gesellschaft öffnen, wenn sie bereit sind, sich zu diesem Deutschland und seinen Werten zu bekennen.

Was aber nicht geht, ist ein mehr als nur ein wenig Bekenntnis zu einer deutschen Nation, wie es Ferlemann von seinen Zuhörern verlangt hat, wenn er sie auffordert, „stolz“ auf sich zu sein – und gleichzeitig der geltenden Verfassung widersprechende Formulierungen in das Grundgesetz schreiben zu wollen, wie es Merkel dokumentierte, als sie das von der Neudeutschen Aydan Özoguz verfasste „Impulspapier“ einiger maßgeblich türkisch gesteuerter Migrantenverbände feierte, in dem die Forderung steht, aus dem Land der Deutschen ein Land der Einwanderer zu machen.

Mit Kosmetik ist es nicht mehr getan

Das Grundproblem der Union ist mit ein wenig Kosmetik nicht mehr zu übertünchen. Für die Union geht es um die Grundsatzfrage ihres Selbstverständnisses. Und damit um ihre Existenz selbst. Findet sie hier am 23. November in Leipzig keine angemessene Antwort, wird sie zwangsläufig den Weg der SPD gehen und spätestens in zwei Dekaden im Nirvana verdampft sein. Findet sie eine Antwort, hat sie vielleicht noch eine Chance, die Zahnpasta zurück in die Tube zu drücken. Auch wenn – daran sollte kein Zweifel bestehen – selbst dann genug Zahnpasta außerhalb der Tube verbleiben wird, um damit einer Partei rechts von der Union die Existenz zu sichern.

Landtagswahlen im Osten
Der „Kampf gegen Rechts“ stärkt die AfD
Die jenseits der Zukunft der Union für die Republik und damit für die Demokratie relevante Frage allerdings lautet, ob der Umgang mit der AfD – und das gilt auch für den Umgang mit Personen wie Björn Höcke – dieser Partei die Möglichkeit einräumt, als rechte Partei innerhalb des breiten Spektrums des vom Grundgesetz Zugelassenen Teil dieser Republik zu sein. Oder ob die ideologische Dummheit und die Angst der Akteure um ihre eigenen Pfründe die Dämonisierung der AfD gleich einer Spirale bis zum Exzess betreiben wird, um diese Partei genau dorthin zu zwingen, wo sie aus der Sicht eines Stegners schon ist: Am rechtsextremistischen Rand, wo dann die reale Gefahr besteht, dass jene, die die junge Partei bislang immerhin dazu gebracht hat, sich wieder einem demokratischen Prozedere zu öffnen, tatsächlich in die Gewalttätigkeit abdriften. Damit sich jene, die sie dorthin gezwungen haben, dann auf die Schulter klopfen können mit der Selbstverklärung, sie hätten es ja schon immer gewusst.

Denn eines haben sie, die die Bundesrepublik kontinuierlich nach links gerückt haben, ja heute schon erreicht: Ein nicht unbedeutender Teil der Deutschen – und dabei ist nicht einmal entscheidend, ob sie über Migrationshintergrund verfügen oder nicht – wurde von ihnen aus dem demokratischen Konsens gedrängt, indem ihnen ihr Recht auf eine eigene Identität gestohlen wurde. Es sind dieses im Wesentlichen jenes Drittel, das trotz politischer Alternativen sich den Wahlen verweigert – und es sind jene, die immer noch daran glauben, über demokratische Prozesse Politik verändern zu können und die deshalb AfD und vielleicht auch die Kommunisten wählen. In Thüringen sind es zusammen bereits über 70 Prozent der Bürger. Das sollte jenen, die nur noch ein knappes Drittel vertreten und die sich dennoch als Alleinvertretungsberechtigte des deutschen Staates verstehen, mehr als nur zu denken geben.

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