„Vox populi – vox Rindvieh.“ Dieses von Franz Josef Strauß gern genutzte Zitat, das aus der deutschen Revolution des 19. Jahrhunderts stammen soll, erklärt das „populus“ für im Grundsatz ebenso dumm wie duldsam. So, wie eben das Rindvieh auf der Weide steht, wenig innovativ das Gras abkaut und zwecks Verdauung längere Phasen des Nichtstuns einlegt. Am Ende dann steht der unweigerliche Weg zum Schlachthof – widerstandslos in den Suppentopf.
Die Vorstellung der Dummheit des „populus“ ist tief verankert im Bewusstsein deutscher Politiker. Weshalb aus dem lateinischen Wort ein latinisiertes wurde, welches gleichzeitig das Gefühl von Wissenschaftlichkeit vermittelt: Populismus.
Mit Populismus diffamiert die politische Klasse all jenes, was ihr als Meinung des politischen Unverstandes scheinen will: Gleichsam die politische Methanblase des Wiederkäuers, die regelmäßig als Ergebnis eines biochemischen Zersetzungsprozesses das Rindvieh verlässt – und Dank der Erkenntnisse moderner Ökologie nun auch als ein die saubere, die erwünschte Umwelt gefährdendes Gas erkannt ist. So ist der Populist eben auch die Metapher für einen dummen Menschen, der mit seinen geistigen Blähungen die schöne neue Welt der politischen Träumer verschmutzt, wird er nicht rechtzeitig entlarvt und seine Verdauung eingestellt.
Gleichzeitig aber ist dieser Populist heute auch zu verstehen in einer Reihe der politisch korrekten Diffamierungssteigerung. Den klassischen Populisten finden wir in der öffentlichen Diskussion kaum noch. Damit der dumme Bürger – das populus – lernt, den Populisten in der politischen Gesäßgeographie richtig zu verorten, läuft uns der Populist fast nur noch als „Rechtspopulist“ über den Weg. Geht es nach seinen Begriffs-Verwendern, so wird in absehbarer Zeit das „rechts“ überflüssig – der „Populist“ soll im Allgemeinverständnis automatisch auch dann „rechts“ sein, wenn auf die Beifügung „Rechts“ verzichtet wird. Populist wird zur abgeschwächten Form von „Faschist“ oder „Nazi“: Rechter – Populist – Faschist – Nazi. Eine Steigerung des politisch korrekten Abscheus.
Populismus oder Plebsismus?
„Vox populi – vox Rindvieh“ wird heute übersetzt als „Volkes Stimme – Dummenstimme“. Das war es, was FJS uns sagen wollte – das ist es, was die Populismus-Diffamierer uns in den Kopf zu bringen suchen. Dabei startete es ursprünglich einmal ganz anders. Im antiken Rom stand das „populus“ für alles andere als für Dummheit. Als das Römische Reich noch jung war, beschrieb „populus“ den Stadtadel: die Patrizier. Populus war jener Teil der Bewohnerschaft, der im Sinne des Aristoteles das Staatsvolk war. Jene, die als Bürger des Staates dessen Geschicke bestimmten, mit seinem Reichtum ein funktionierendes Staatswesen erst ermöglichte. Populus hob sich ab vom „plebs“, von jenen niederen Schichten des Volkes, deren scheinbar natürliche Dummheit sie von der aktiven Teilhabe am Staat ausschloss. In diesem klassischen Verständnis hätten wir also bei dem heutigen Verständnis nicht von „Populismus“, sondern von „Plebsismus“ zu sprechen.
Irgendwann glitt der Begriff ab. Vielleicht, weil dann doch zu viele Plebejer Teil des Populus wurden; vielleicht auch, weil die neuen Eliten des spätantiken und frühmittelalterlichen Adels nach einer bewussten Abgrenzung gegenüber „dem Volk“ suchten – aus dem „populus“ als Prädikat wurde das „populus“ als Synonym für jene Masse der menschlichen Rindviecher, die in den Slums der überbevölkerten Städte hauste, sich unkontrolliert vermehrte und nur durch seine eigene Unhygiene dank kurzer Lebensdauer sich selbst daran hindern konnte, der neuen Elite zu energisch auf den Pelz zu rücken.
Bei diesem Verständnis ist es bis heute geblieben. Wer den Begriff „Populismus“ im Munde führt, der erhebt sich damit über die tumbe Masse der anderen, adelt sich selbst als gesellschaftliche Elite auch dann, wenn er finanziell am Hungertuch nagt – denn es ist seine gefühlte geistige Überlegenheit, die ihm diesen Begriff in den Mund legt.
„tribunus plebis“ – der Volkstribun
Neu ist diese politische Distanzierung nicht. Schon in der Antike fanden sich immer wieder charismatische Redner, die dem Volk nach dem Munde zu sprechen schienen, ihm Selbstbewusstsein einhauchte, um selbst auf der Welle der Popularität bis in höchste Staatsämter gespült zu werden. In der deutschen Sprache werden solche Emporkömmlinge als „Volkstribun“ bezeichnet. Die Lateiner waren korrekter. Sie nannten jenen, der aus der Hefe des Volkes den Weg nach Oben fand, den „tribunus plebis“ –zu übersetzen als „Sippenvorstand des niederen Volkes“.
Gleich ob „Populist“ oder „Volkstribun“ – wer einen solchen Begriff im Munde führt, der macht damit deutlich, dass er sich selbst eben diesem Volk nicht zugehörig fühlt. Er steht erhaben über der tumben Masse und ihren niederen Bedürfnissen, ist der intellektuell überlegene, dem allein es dank seiner Überlegenheit gebührt, das Staatswesen zu lenken und dem niederen Volk den Weg zu weisen. Womit wir nun auch eine nachvollziehbare und unabweisbare Beschreibung derer haben, die sich gegen die Populisten abzugrenzen suchen.
Wir wollen nicht verhehlen, dass jene Volkstribune, die wir – um im Bild zu bleiben – als führende Rindviecher betrachten können, gern selbst schnell vom Volksvertreter erst zum Volkverführer, dann zum Volksverachter mutierten, hatten sie den Schritt in die Elite erfolgreich hinter sich gebracht. Denn schnell begriffen sie nun selbst die Regeln der Mengenlehre – und so setzten sie an, dem Volk das Heu als Kaviar zu beschreiben, um letzteren für sich selbst behalten zu können. Diesen Klassiker des Populisten finden wir heute beispielsweise mit dem Blick auf den Bosporus. Aber auch die europäische Geschichte kennt ihrer nicht wenige.
Die Eigenschaften des Populisten
Damit sind wir an dem Punkt angelangt, der danach ruft, die Eigenschaften des Populismus etwas genauer zu betrachten. Da ist zum einen eine angeborene oder erlernte Redegewandtheit. Denn die Waffe des Populisten ist mangels anderer Möglichkeiten das Wort. Da der Populist darauf angewiesen ist, vom populus getragen zu werden, muss er es für sich begeistern können. Ein wahrer Populist ist in der Lage, allein mit seiner Rede das Volk zu bannen, es zu faszinieren – im optimalen Falle sogar zu euphorisieren. Ein Populist, dessen Rede bei seinen Zuhörern Glücksgefühle auslöst, reitet auf der Welle dieser Emotion dorthin, wohin ihn seine Wünsche treiben.
Neben dem sogenannten Charisma, mit dem der Populist die Glückshormone kitzelt, muss er die von ihm zu begeisternden Massen dort abholen, wo sie sich befinden. Das wiederum bedeutet: Mit Intellektualität gewinnt der Populist keinen Blumentopf. Vielmehr muss er die Ängste und Wünsche des Plebs aufnehmen und sich selbst seinen Anhängern als Projektionsfläche für deren Träume und Albträume anbieten.
Hier nun liegt die eigentliche Kunst des Populisten. Denn auch die scheinbar homogene Masse des Volkes besteht aus zahllosen Individuen, deren jedes ebenso individuelle Ängste und Sorgen wie Wünsche und Illusionen mit sich herumträgt. Der wahre Populist wird es deshalb um jeden Preis vermeiden, die von ihm projizierten Ängste und Wünsche zu konkret werden zu lassen. Er bewegt sich in massentauglichen Gemeinplätzen, in mystischen Begrifflichkeiten, in Inhalten, die jeder Einzelne individuell mit seinen ganz persönlichen Wünschen und Träumen füllen kann – ohne dass der Angesprochene sich dabei bewusst werden darf, dass der Populist ihm nur einen in Dunst gehüllten Spiegel vorhält, gefüllt mit den Schemen der Träume seines Gegenübers.
Das Risiko des Populisten
Das ist das eigentliche Risiko des Populisten: Er ist ein Gott der Masse, solange er nicht gezwungen ist, den Schemen Kontur zu geben. Er ist der klassische Oppositionelle, der die Vielzahl der Ängste, Wünsche und Träume des Volkes einzufordern scheint – der jedoch unmittelbar dann an seine Grenzen stößt, wenn er als Verantwortlicher gefordert ist, die von ihm in seinen Anhängern geweckten Wünsche in die Tat umzusetzen. Der Populist, der Volkstribun neigt daher dazu, nach dem Erringen der Macht diese totalitär zu manifestieren. Denn ihm ist nicht nur bewusst, dass er niemals in der Lage sein wird, der Individualität der Wünsche seiner Anhängerschaft auf Dauer gerecht werden zu können – er fürchtet auch den Sturz durch jene, die ihn auf den Thron gehoben haben, sollte ihnen bewusst werden, dass sie nur einer Illusion aufgesessen sind. Der Weg vom „er lebe hoch!“ zum „kreuzigt ihn!“ ist für den Populisten kurz.
Die Gemeinplätze des Populisten
Dennoch finden sich in jeder Epoche und in jeder Staatsform immer wieder Populisten, die sich zum Sprachrohr der „vox populi“ machen. Für ihren Erfolg bedürfen sie in der Idealform des populistischen Gemeinwesens – gemeinhin als „Demokratie“ bezeichnet – jener Gemeinplätze, in die hinein jedes Individuum der Masse ein Höchstmaß seiner persönlichen Träume hineindenken kann.
Ungerecht behandelt fühlt sich auch die breite Mitte einer jeden Gesellschaft. Weil es ungerecht ist, wenn Männer mehr verdienen als Frauen. Weil es ungerecht ist, dass Kinder aus bildungsaffinen Familien mehr schulischen Erfolg haben als jene aus prekären Familienverhältnissen. Weil es ungerecht ist, dass Beamte und Selbständige nicht in die staatlich verordnete Rentenversicherung einzahlen. Weil es ungerecht ist, wenn der Privatpatient vorgeblich besser behandelt wird als der mit Kassenversorgung. Umgekehrt aber auch, weil es ungerecht ist, wenn der „Faulenzer“ von der staatlichen Subventionierung, von „meinen Steuergeldern“ lebt. Weil es ungerecht ist, dass der fleißige Arbeitnehmer sich nicht mit windigen Tricks um die Steuerzahlung drücken kann. Kurz: Weil jeder irgend etwas hat, das er persönlich als ungerecht empfindet und er nicht bereit ist zu verstehen, dass die Welt noch nie gerecht war und es Ungerechtigkeit immer geben wird.
Die Gerechtigkeit ist die Urlüge des Populisten
Das weiß natürlich auch der wahre Populist – und dennoch schreibt er sich die Gerechtigkeit auf seine Fahnen, denn er weiß, dass die Inhalte dieser Gerechtigkeitstüte so vielfältig sind wie jenes berühmte Füllhorn, das niemals aufhört, Gutes über seinen Besitzer zu streuen.
Der Populist der Gerechtigkeit ist deshalb gleichermaßen erfolgreich in der Mangel- wie in der Wohlstandsgesellschaft. Denn es gibt kaum eine Eigenschaft des Menschen, die ausgeprägter ist als die Gier nach „Mehr“. Diese Gier gebiert den Neid, den der Populist braucht, um auf ihm nach oben zu kommen. Und ist der Neid nicht ausgeprägt, weil die Wohlstandsgesellschaft den meisten ihrer Mitglieder ein mehr als auskömmliches Leben gewährleistet, dann wird der wahre Populist den Neid erschaffen – was seine ständige Entdeckung neuer Ungerechtigkeiten erklärt und dann, wenn diese Entdeckungen auszugehen scheinen, sich wie einst Oskar Lafontaine in eine angebliche „Gerechtigkeitslücke“ versteigt – denn wenn es schon in einer Gesellschaft weitgehend gerecht zugeht, so wird doch jeder diese Lücke irgendwo entdecken können. Ist sie erst einmal entdeckt, dann beginnt sie wie ein Krebsgeschwür zu nagen, zersetzt die Zufriedenheit des Individuums und weckt in ihm die Gier, die der Populist benötigt, um auf ihr sein Ziel zu erreichen.
Dieser ständige Ruf nach Gerechtigkeit – er ist das Lebenselixier des wahren Populisten. Er schafft mit seinem Ruf die Unzufriedenheit der Massen, prägt aus der diffus gefühlten Ungerechtigkeit seine Legende von der Gerechtigkeit. Diese Legende von der allumfassenden Gerechtigkeit ist die Urlüge eines jeden wahren Populisten – und sie ist nicht erst seit Karl Marx die Urlüge jeder Spielart von Sozialisten.
Weshalb wir nun auch wissen, weshalb es Populisten sind, die konkurrierende Populisten mit dem Attribut des „Rechtspopulisten“ belegen, aus dem am Ende der „Populist“ als Inkarnationen des dummen, „rechten“ Unverstandes bestehen bleiben soll, während sich der wahre Populist durch die Hintertür hinausmogelt und doch nichts anderes tut, als mit seinem „Haltet-den-Dieb“-Geschrei von seinem eigenen Populismus abzulenken.