Tichys Einblick
1945, genau betrachtet

Vom Untergang des Deutschen Reichs

Was sich völkerrechtlich tatsächlich im Jahr 1945 abgespielt hat und wie die daraus erwachsenden Konsequenzen zu beurteilen sind, soll hier beleuchtet werden.

Field Marshal Wilhelm Keitel (1882-1946) signing the ratified surrender terms for the German military in Berlin. Dated 1945.

Photo12/UIG via Getty Images

In Kreisen sogenannter Verschwörungstheoretiker ebenso wie bei jenen als Rechtsextremisten bezeichneten „Reichsbürgern“ taucht regelmäßig die Behauptung auf, die Bundesrepublik Deutschland bestünde nicht, da sie über keine Verfassung verfüge. Auch sei das 1871 als demokratischer Bundesstaat deutscher Länder gegründete Reich 1945 nicht untergegangen, die Bundesrepublik stehe nicht in dessen Rechtsnachfolge, weil das Reich weiterhin bestehe. Manche ziehen daraus den Schluss, die Bundesrepublik als illegitim zu betrachten, eigene Phantasieausweise zu produzieren – einige gehen sogar so weit, Karl Dönitz als letzten legitimen Präsidenten und Reichskanzler zu bezeichnen.

Was sich tatsächlich im Jahr 1945 abgespielt hat und wie die daraus erwachsenden Konsequenzen  zu beurteilen sind, soll  hier beleuchtet werden.

Die bedingungslose Kapitulation

In den frühen Morgenstunden des 7. Mai 1945 hatte Karl Dönitz als Chef der Obersten Heeresleitung im Range eines Reichsministers den Generaloberst der deutschen Wehrmacht, Alfred Jodl, bevollmächtigt und beauftragt, gegenüber den Alliierten die „bedingungslose Kapitulation der Deutschen Truppen“ mit Inkrafttreten am 8. Mai um 23.01 Uhr  zu erklären.

Jodl befand sich zu diesem Zeitpunkt als Chef des Wehrmachtsführungsstabes im Obersten Hauptquartier der Alliierten Expeditionsstreitkräfte im lothringischen Reims beim Supreme Commander und späteren US-Präsidenten General Dwight David Eisenhower, um dort – so sein Auftrag – über die Bedingungen eines Waffenstillstandes zu verhandeln. Die alliierte Führung bestand jedoch auf bedingungsloser Kapitulation, weshalb Dönitz gegen 2.40 Uhr den entsprechenden Unterzeichnungsbefehl an Jodl ergehen ließ.

Tatsächlich – und dieses ist von entscheidender Bedeutung – unterzeichnete der Militär Jodl die bedingungslose Kapitulation nicht im Namen des Völkerrechtsobjekts „Deutsches Reich“, sondern ausschließlich im Namen des Oberkommandos der Wehrmacht, die sich damit verpflichtete, jegliche Kampfhandlungen gegen alliierte Einheiten mit Wirksamwerden der Kapitulation absolut und bedingungslos einzustellen. Damit hätte nunmehr eine Vereinbarung zwischen den Völkerrechtsobjekten der Sieger mit dem Verliererstaat als ebensolches folgen müssen. Erst daraus hätte auf Grundlage der militärischen Kapitulation, mit welcher der Kriegszustand in Europa mangels kriegsführender Parteien de facto beendet war, eine völkerrechtsverbindliche Machtübergabe und Nachkriegsordnung  entwickelt werden können.

Dieses war die Position der deutschen Militärführung ebenso wie der deutschen Reichsregierung; deshalb wurde es in der Kapitulationserklärung der Deutschen Wehrmacht in Position 4 ausdrücklich festgelegt: Durch diese Kapitulationsurkunde werden „an ihre Stelle tretende, allgemeine Kapitulationsbedingungen, die durch die Vereinten Nationen und in deren Namen Deutschland und der Deutschen Wehrmacht auferlegt werden mögen“, nicht präjudiziert.

Der Fortbestand des Reichs

Nicht nur trotz, sondern insbesondere aufgrund der Kapitulationsurkunde der Wehrmacht bestand das Völkerrechtsobjekt Deutsches Reich zu diesem Zeitpunkt fort. Bemerkenswert ist darüber hinaus, dass die aus deutscher Sicht anstehenden Kapitulationsbedingungen nicht explizit durch die Siegermächte, sondern „durch die Vereinten Nationen und in deren Namen“ dem Verlierer auferlegt werden sollten. Das Reich unterwarf sich damit einer ausdrücklich gegen das Reich gegründeten Organisation unter Führung der Vereinigten Staaten – ein offensichtlicher Versuch, die in besonderem Maße von deutschen Kriegshandlungen betroffenen Länder Frankreich, Großbritannien und Sowjetunion in ihren Möglichkeiten einzudämmen.

Dieses wird auch deutlich in Position 1 der Erklärung, wonach die Kapitulation nicht gegenüber den Siegermächten beziehungsweise deren Armeeführungen erklärt wurde, sondern diesen lediglich „alle gegenwärtig unter deutschem Befehl stehenden Streitkräfte zu Lande, zu Wasser und in der Luft … bedingungslos dem Obersten Befehlshaber der Alliierten Streitkräfte … übergeben“ wurden. Dieses war zu diesem Zeitpunkt Eisenhower – eine entsprechende Ergänzung um den Oberbefehlshaber der Sowjettruppen sollte erst Tags darauf in Karlshorst erfolgen.

Insofern ist festzustellen: Weder hatte das Deutsche Reich eine „bedingungslose Kapitulation“ erklärt, noch wurde durch diese Erklärung die Verfügungsgewalt über Deutschland an die Siegermächte abgetreten. Tatsächlich übergab lediglich das Oberkommando der Wehrmacht seine Befehlsgewalt an die Führung der alliierten Streitkräfte.

Die Tatsache, dass dem Reich zum Führen eines Krieges nunmehr die Streitkräfte fehlten, ändert nichts daran, dass das Deutsche Reich als Völkerrechtsobjekt weder eine Waffenstillstandsvereinbarung noch eine Kapitulation erklärt hatte. Insofern ergab sich eine in vielerlei Hinsicht fragwürdige Gemengelage: Zwar verfügten die Alliierten nunmehr über die Befehlsgewalt über die militärischen  Einheiten des Reichs – gleichzeitig wirkte der Kriegszustand mangels entsprechender, vom Völkerrecht vorgesehenen Maßnahmen fort.

Offiziell beendet wurden lediglich die Kampfhandlungen – wenngleich auch der nunmehr legitime Vertreter des Reichs, Lutz Graf Schwerin von Krosigk, in seiner bereits am 7. Mai gehaltenen Rundfunkansprache an das deutsche Volk den Krieg mit der Kapitulationserklärung als beendet bezeichnet hatte. Das wiederum lässt – obgleich nicht in dieser Form erklärt – die Interpretation zu, dass die Kapitulationserklärung der Wehrmacht durch die Reichsregierung als Kapitulation des Völkerrechtsobjektes Deutsches Reich verstanden wurde. Tatsächlich jedoch ging die Reichsregierung davon aus, dass mit der entsprechenden Erklärung durch Jodl lediglich ein Waffenstillstand vereinbart worden war – während die Alliierten diese als Kapitulationserklärung des Reichs interpretierten.

Nicht Krieg noch Frieden

Die Situation nach dem 8. Mai 1945 darf insofern als Kuriosum bezeichnet werden, als es dafür in der Haager Landkriegsordnung von 1907 keine definierten Regeln gibt. Die Frage der Kapitulation spielt dort nur eine untergeordnete Rolle, indem Artikel 35 festlegt: „Die zwischen den abschließenden Parteien vereinbarten Kapitulationen sollen den Forderungen der militärischen Ehre Rechnung tragen. Einmal abgeschlossen, sollen sie von beiden Parteien gewissenhaft beobachtet werden.“

Es ist offensichtlich, dass diese internationale Vereinbarung, die auch 1945 für den Konflikt der kriegführenden Parteien anzuwenden ist, die Kapitulation lediglich auf die Streitkräfte des Gegners erstreckt. Kapitulieren konnten demnach Truppenteile, aber auch Städte oder Landesteile, so die dortige, militärische Besatzung eben diese Kapitulation erklärte. Insofern ist es im Sinne der Landkriegsordnung auch vorstellbar, die Kapitulation einer kompletten Militärmaschinerie auszusprechen – wie dieses im Auftrag des Oberbefehlshabers der Wehrmacht geschehen ist.

Mit dieser Kapitulationserklärung endete die Verteidigungsfähigkeit deutschen Territoriums nun auch offiziell, was wiederum die Anwendung des Artikels 25 der Landkriegsordnung wirksam werden lässt, wonach es kriegführenden Parteien untersagt ist, unverteidigte Städte, Dörfer und sonstige Wohnstätten „mit welchen Mitteln auch immer“ anzugreifen. Folglich hätte mit Inkrafttreten der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht ein weiterer Vormarsch der alliierten Streitkräfte unterbleiben und – wie im Kapitulationsdokument niedergeschrieben – Verhandlungen zwischen den kriegführenden Parteien über den Nachkriegsstatus eingeleitet werden müssen.

Zwei unterschiedliche Rechtsauffassungen

Faktisch haben wir es auf Seiten der noch oder auch nicht mehr kriegführenden Parteien mit zwei gänzlich unterschiedlichen Positionen zu tun.

Nicht nur die Kapitulationserklärung selbst brachte diese Position zum Ausdruck – sie fand sich auch in der Radioansprache des durch Bevollmächtigung seitens des Kabinetts amtierenden „primus inter pares“, Lutz Graf Schwerin von Krosigk, als Oberster Minister der Regierung nunmehr offizieller Vertreter des Reichs, vom 7. Mai 1945. Wenngleich das konkrete Nachsuchen der Wehrmachtsführung um einen Waffenstillstand seitens der Alliierten abgelehnt worden war und diese auf einer bedingungslose Kapitulation bestanden hatten, bedeutete für die deutsche Reichsregierung diese Erklärung einerseits das Ende des Waffengangs – also das Ende dessen, was man dort unter „Krieg“ verstand – andererseits interpretierte sie in ihrem Sinne die Erklärung als Waffenstillstand unter den Regeln der Haager Landkriegsordnung. Die Reichsregierung ging davon aus, nunmehr in Verhandlungen über die Nachkriegsordnung in Europa einzusteigen und diese unter Federführung der US-geführten United Nations zu regeln. Damit wiederum verdeutlichte die Reichsregierung, dass sie sich letztlich dem Urteil dieser jungen Staatengemeinschaft zu unterwerfen bereit war – nicht jedoch Willkürmaßnahmen der Siegermächte als maßgeblich betrachtete. Die Tatsache, dass dieser Position angesichts der militärischen Lage und der Kapitulation der Wehrmacht letztlich jegliches Instrument fehlte, um möglichen Willkürakten der Siegermächte effektiv begegnen zu können, mag diese Auffassung der Reichsregierung zwar als irrational begreifen lassen – dieses ändert jedoch nichts daran, dass die Position der Reichsregierung im Sinne geltenden Völkerrechts als durchaus nachvollziehbar und juristisch korrekt anzusehen ist.

Der Reichsregierung, vertreten durch Schwerin von Krosigk, ging es vorrangig darum, das 1871 gegründete Reich auf Basis des nationalen und internationalen Rechts – womit sowohl die nach wie vor geltende Weimarer Verfassung als auch internationale Abkommen gemeint waren – zu erhalten und nach den Rechtsbrüchen durch die nationalen Sozialisten dieses Reich zurück in die Völkerfamilie zu führen.

Die Alliierten gingen von einer Situation aus, die in der Haager Landkriegsordnung nicht beschrieben war und welche am ehesten als absolute Unterwerfung des deutschen Volkes unter den Willen der Sieger zu beschreiben ist. Der Waffenstillstand zwischen den Kriegsparteien als Völkerrechtsobjekten – obgleich nach Landkriegsordnung der logische und beschriebene Weg – war ausdrücklich abgelehnt worden.  Mit ihrem Vorgehen machten die Siegermächte weiterhin deutlich, dass sie ihren Sieg nicht im klassischen Sinne als den über einen verfeindeten Staat begriffen, sondern als einen über das „deutsche Volk“ – wie immer dieses auch völkerrechtlich zu definieren gewesen sein mag. Damit allerdings stellt sich die Frage, wer überhaupt als legitimer Vertreter dieses deutschen Volkes – und nicht eines deutschen Staates – zu verstehen gewesen wäre.

Ein Automatismus, die von einer staatlichen Exekutive bestallte Heeresleitung als Vertretung eines Volkes zu betrachten, besteht nicht. Die Kapitulation der Streitkräfte ist somit nicht gleichzusetzen mit der Unterwerfung eines Volkes:

– So dieses Volk als Staatsvolk zu definieren gewesen wäre, hätte die Kapitulation zwangsläufig von deren legitimer Regierung erklärt werden müssen.

– So dieses Volk über eine solche nicht mehr verfügt, hätten gemäß Artikel 25 der Landkriegsordnung weitere Kampfhandlungen und gegen das besiegte Volk gerichtete Willkürakte unterbleiben müssen, bis dieses erneut über eine legitime Vertretung verfügte.

Auf die konkrete Situation im Deutschen Reich des Mai 1945 jedoch traf eine solche Situation insofern nicht zu, als der diesem Volk zuzuweisende, kriegsführende Staat noch über eine Regierung verfügte – auch wenn das bisherige Staatsoberhaupt sich durch Selbstmord seiner Verantwortung und Verantwortlichkeit entzogen hatte.

Die Kapitulation und ihre Folgen

Die auf die Kapitulationserklärung der Wehrmacht folgenden Wochen sollten von dieser Inkompatibilität der Positionen geprägt sein, in denen die Alliierten Kraft ihres nun bestehenden Gewaltmonopols das Deutsche Reich als Völkerrechtsobjekt beseitigten.

In gewisser Weise ist die Situation auf dem europäischen Kriegsschauplatz des Jahres 1945 vergleichbar mit jener rund achtzig Jahre zuvor auf dem nordamerikanischen Kontinent, als in Appomattox Court House der Südstaaten-General und Oberbefehlshaber der Streitkräfte der Konföderierten, Robert E. Lee, gegenüber dem Unions-General und Oberbefehlshaber der Unionsarmee, Ulysses S. Grant, die Kapitulationserklärung (welche seinerzeit nicht bedingungslos gewesen war, da sie den Südstaaten-Soldaten Straffreiheit zusicherte) unterzeichnete. Damit endete der sogenannte Bürgerkrieg.

Dennoch sind beide Situationen insofern nicht vergleichbar, da im nordamerikanischen Konflikt aus Unionssicht eben diese Union niemals aufgehört hatte, als staatliche Einheit zu existieren und die in der Konföderation zusammengeschlossen Staaten aus Unions-Sicht niemals eigenständige Völkerrechtsobjekte gewesen sind. Die im Sinne des jeweiligen Rechts der US-Bundesstaaten durchaus legitime Entscheidung, aus der Union auszuscheiden, war von den Unionsstaaten zu keinem Zeitpunkt anerkannt worden. Insofern war aus völkerrechtlicher Sicht seitens der Union eine Kapitulation der sogenannten Rebellenregierung(en) nicht notwendig – sogar unmöglich, da durch eine solche im Nachhinein die Berechtigung der dadurch legitimierten Südstaaten, die Union zu verlassen, anerkannt worden wäre. Die Staaten der Konföderation waren aus Sicht der Sieger nach wie vor Teil der USA – und wurden in der Nachkriegssituation ausdrücklich als solche behandelt.  Die aus Unionssicht als „Rebellion“ bezeichnete Separation einiger Unionsstaaten endete somit de facto mit der Einstellung der Kampfhandlungen durch die Streitkräfte der „Rebellen“.

Diese Situation des Krieges zwischen Staaten der amerikanischen Union wäre insofern in der Interpretation der Wehrmachts-Kapitulation nur dann auf den europäischen Kriegsschauplatz übertragbar gewesen, wenn das Deutsche Reich als eigenständiges Völkerrechtsobjekt vor Beginn der Kampfhandlungen bereits Teil der Vereinigten Staaten oder eines anderen, supranationalen Völkerrechtsobjekts gewesen wäre. Das nun aber war unzweifelhaft nicht der Fall gewesen. Die Voraussetzungen der Konflikte waren insofern gänzlich unterschiedliche – das Ende derselben und das darauf basierende Vorgehen folglich ebenso.

Keine Reichskontinuität

Festzuhalten bleibt an dieser Stelle deshalb: Mit der Absetzung und Inhaftierung der Reichsregierung durch die Alliierten am 23. Mai 1945 verstießen diese gegen die Haager Landkriegsordnung und beendeten gleichzeitig vorsätzlich und bewusst die Existenz des Völkerrechtsobjekts „Deutsches Reich“.

Zwar traf das Bundesverfassungsgericht noch 1973 die politisch motivierte Feststellung: „Die BRD ist nicht ‚Rechtsnachfolger‘ des Deutschen Reiches, sondern als Staat identisch mit dem Staat ‚Deutsches Reich‘“, und gab damit jenen „Reichsbürgern“ Recht, die das Fortbestehen der Gründung des Jahres 1871 insinuieren, widersprach diesen jedoch gleichzeitig, indem es die staatliche Neugründung Bundesrepublik einseitig als staatsrechtsobjektsidentisch mit dem Reich behauptete. Dennoch führt bei sachgerechter Betrachtung kein Weg an der Erkenntnis vorbei, dass es nicht nur das militärisch-politische Ziel der Alliierten gewesen ist, das Völkerrechtsobjekt Deutsches Reich zu vernichten, sondern sie genau dieses in der Konsequenz ihres Vorgehens nach der militärischen Kapitulation am 8. Mai 1945 auch in die Tat umsetzten.

Das Deutsche Reich verschwand mit dem 23. Mai 1945 aus der Gegenwart in die Historie – mit dem spannenden Nebeneffekt, dass die ehemaligen Reichgebiete mangels Nachfolgestaat faktisch zu Protektoraten der jeweils besetzenden Mächte wurden, womit die Alliierten nunmehr mangels Rechtsnachfolger des Reichs selbst in diese eintraten.

Wer, allen politischen Behauptungen und juristischen Verrenkungen zum Trotz, dennoch an der Reichskontinuitätslegende festhalten möchte, dem sei der Blick auf die Debatte um die sowie die Umsetzung der sogenannten Zwei-plus-vier-Verträge zur völkerrechtlichen Realisierung der heutigen Bundesrepublik empfohlen. Tatsächlich saßen dort neben den vier Protektoratsmächten zwei gleichberechtigte, staatliche Neugründungen an einem Tisch und verhandelten die Zukunft des verbliebenen Protektoratsgebiets. Wäre es anders gewesen und hätte die behauptete Reichskontinuität mehr als politisch-plakativen und tatsächlich völkerrechtlich bindenden Charakter gehabt, so wären diese Verhandlungen überflüssig gewesen. Die Reichsgebiete zwischen Oder und Elbe wären immer schon völkerrechtlich Teil der BRD gewesen und nach dem Zerfall einer sowjetischen Vasallenregierung sowie dem sowjetischen Protektoratsverzicht ohne weiteren Rechtsakt automatisch der Verwaltung durch die BRD unterstellt worden. Volkskammerbeschluss, Beitrittsverhandlungen und Einigungsvertrag – alles überflüssig.

Die Tatsache, dass dazu im Widerspruch über die Modalitäten, über das Ob, Wie und Wann, verhandeln werden musste; die Tatsache weiterhin, dass die Protektoratsmächte letztlich die Entscheidung darüber in der Hand hatten, ob das ehemalige Reichgebiet “DDR“ Teil des ehemaligen Reichsgebiets „BRD“ werden durfte; die Tatsache, dass die Entscheidung über den Beitritt bei einem souveränen Parlament der DDR lag; die Tatsache, dass eigentumsrelevante Entscheidungen der Sowjetadministration von der BRD mangels Zuständigkeit nicht als ausgleichsfähig anerkannt wurden; die Tatsache nicht zuletzt, dass ein Friedensvertrag bezüglich des Konfliktes 1939 bis 1945 mangels deutschem Vertragspartner zu keinem Zeitpunkt auch nur angedacht worden ist – all das ist Beleg genug für die Feststellung, dass das Deutsche Reich 1945 untergegangen ist, weil es die Siegermächte so wollten. Und es ist Beleg dafür, dass alle 1990 am sogenannten Einigungsprozess Beteiligten es genau so sahen – auch wenn sie offiziell andere Legenden verbreitet haben mögen. Juristen sprechen in solchen Fällen von konkludentem Handeln: Einen Sachverhalt dadurch rechtlich verbindlich machen, indem schlüssiges Handeln keine andere Beurteilung zulässt.

Ohne Reich kein Regress

Interessanter Nebeneffekt dieser Tatsache: Wer immer Forderungen aus Handeln des Deutschen Reiches zwischen 1871 und 1945 geltend machen will, ist bei der Staatenneugründung Bundesrepublik Deutschland an der falschen Adresse. Sein Ansprechpartner sind jene, die 1945 das Reich beerdigten und als Protektoratsmächte dessen Angelegenheiten übernahmen. Diese können Regressansprüche aus jenen Nutzen begleichen, über die sie nach 1945 in und aus dem ehemaligen Reichsgebiet verfügten. Es sei denn, sie hätten ihren früheren Protektoratsgebieten in den Verträgen zur staatlichen Souveränität entsprechende Übernahmeverpflichtungen hineingeschrieben.

Ansonsten gilt – sogar im Grundgesetz festgeschrieben: Internationales Recht steht über deutschem. Da das BVerfG-Urteil nicht im Einklang mit den als Völkerrecht bezeichneten internationalen Gepflogenheiten steht, sind folglich auch jene Behauptungen unzutreffend, mit denen sich die Bundesregierung immer noch an eine nicht vorhandene Reichskontinuität klammert. Von einer Rechtsnachfolge ganz zu schweigen – denn gäbe es eine solche, wäre die Bundesrepublik notwendig auch heute noch in Regress zu nehmen für alles, was vor 1806 vom Heiligen Römischen Reich zu verantworten ist. Doch wie das HRR ist auch das DR unwiederbringlich Geschichte. Was man bedauern mag – oder auch nicht. An den nach 1945 neu geschaffenen Realitäten ändert sich dadurch nicht das Geringste.

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