Tichys Einblick
Teil 4 von 7

Vom Staatsschutz zum Verfassungsschutz

Der Schutz der Organe des Staates war schon immer Aufgabe exekutiver Gewalt. In Deutschland wurde nach den Erfahrungen des konstitutionalisierten Verfassungsbruchs durch die Herrschaft der NSDAP aus dem Staatsschutz ein Instrument, welches die Verfassung notfalls auch gegen den Staat zu schützen hat.

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Wenn wir den Weg der Reichsverfassungen sowie des Grundgesetzes als Verfassungssubstitut der Bundesrepublik Deutschland in gegenwärtig drei Phasen einteilen, so stellt sich zwangsläufig die Frage, welche Aufgaben in dieser Entwicklung Institutionen wie Verfassungsschutz und auch Verfassungsgericht haben.

Beides sind junge Einrichtungen, die als solche erst mit der Gründung der BRD entstanden. Diese Gründung erfolgte aus mehreren Erwägungen.

Staatsschutz und Verfassungsgerichtsbarkeit von 1871 bis 1933

Jene Aufgaben, die heute dem Bundesamt für Verfassungsschutz zugewiesen werden, sollten bis zum Ende des Reichs 1945 bei der Politischen Polizei – ab 1933 Geheime Staatspolizei – liegen. Diese war bereits in der Weimarer Republik weniger ein Instrument des Schutzes der Verfassung als vielmehr des Schutzes des Staates. Historisch ist dieses zu erklären, als bereits in der vor-republikanischen und vor-demokratischen Phase bis 1866/71 polizeiliche Instrumentarien des Staats- bzw. Regierungsschutzes unvermeidliches Instrument der Machtausübung und des Machterhalts gewesen sind. Der Staatsschutz hatte – daher seine Bezeichnung – die Aufgabe, die staatlichen Institutionen und damit sein Bestehen an sich vor Angriffen zu schützen. So war beispielsweise die Ermittlung sogenannter Anarchisten mit dem Ziel, Attentate auf die führenden Eliten des Staates zu verhindern, selbstverständlich – und Sarajewo 1914 sollte zeigen, welche Folgen entstehen können, wenn der Staatsschutz in dieser Hinsicht versagt.

Auch unter der zweiten Reichsverfassung von 1919 stellte sich die Frage nach einem „Verfassungsschutz“ nicht. Die Verfassung von 1871 war von niemandem – sieht man von jenen radikalen Anhängern der Vorstellungen des Karl Marx ab – ernsthaft infrage gestellt worden. Sie hatte sich bis 1914 weitgehend bewährt und sich vor allem dadurch als überarbeitungsnotwendig erwiesen, weil mit der Novemberrevolution die verfassungsmäßige Ordnung im Rahmen eines faktischen Staatsstreichs außer Kraft gesetzt worden war. Statt – wie von Reichskanzler Max von Baden auf Grundlage der geltenden Verfassung angestrebt – durch den Rücktritt Wilhelms II als König von Preußen und damit als Staatspräsident mit dem Namen Deutscher Kaiser eine verfassungsgerechte Nachfolge einzuleiten, vollzog Philipp Scheidemann den verfassungswidrigen Staatsstreich durch die Ausrufung der Republik am 9. November 1918. Die Tatsache, dass Scheidemann mit diesem Akt den verfassten Staatsaufbau hinsichtlich demokratischem Parlamentarismus und bundesstaatlicher Struktur vor der radikal-sozialistischen Einführung einer sogenannten Diktatur des Proletariats bewahrte, ändert in der Sache nichts an der Feststellung eines verfassungswidrigen Staatsstreichs im Sinne des Artikels 11 und darauf basierender in der Reichsverfassung von 1871.

Der Schwerpunkt der Aufgabe der Politischen Polizei nach 1919 lag gleichwohl in der Konsequenz der Geschichte des Staatsschutzes nach wie vor darauf, die staatlichen Institutionen und seine Vertreter gegen Angriffe zu schützen. Dieses bedeutete nun notwendig auch, gewaltsame Umsturzversuche rechtzeitig zu erkennen und diesen durch entsprechenden Einsatz polizeilicher Maßnahmen abzuhelfen.

Im Sinne der damals herrschenden Gewaltenteilung beschränkte sich die Politische Polizei bis 1933 auf die exekutive Ermittlung bis Inhaftierung Verdächtiger. Die juristisch-strafrechtliche Bewertung der polizeilichen Ermittlungsergebnisse oblag notwendig der Judikative, hier vertreten durch ordentliche und gemäß Verfassung unabhängige Gerichte. Auf Grundlage des Artikels 108 der Verfassung von 1919 wurde 1921 ein Staatsgerichtshof eingerichtet. Dieses vom Präsidenten des Reichsgerichtshofes geleitete Gericht hatte jedoch noch nicht die Kompetenz, umfassend Differenzen in der Verfassungsauslegung zu klären und Normenkontrollverfahren zu leiten, konnte jedoch Klage gegen die obersten Repräsentanten des Staates erheben, so der ausschließlich dazu befugte Reichstag einen Antrag auf entsprechende Erhebung stellte.

Staatspolizei und Reichsgericht von 1933 bis 1945

In dieser Situation war es Adolf Hitler, der 1933 auf legalem Weg an die Macht kam, ein Leichtes, aus der Politischen Polizei das Instrument einer „geheimen“ Staatspolizei zu formen und die Verfassungsgesetzgebung ohne förmliche Beschlüsse zu überwinden. Mit der Gleichschaltung der Justiz wurde so aus dem polizeilichen Staatsschutz mit der Geheimen Staatspolizei (GeStaPo) ein Instrument der Partei zur Verfolgung und letztlich Vernichtung von zu Staatsfeinden erklärten oder aus anderen, beispielsweise ethnischen Gründen missliebiger Personen. Die Reichsgerichtsbarkeit fungierte in gleicher Unterstellung unter die Weltanschauung der nationalkollektivistischen Herrscher als Vollstreckungsorgan der Ideologie.

Da in der Zeit der Hitler-Diktatur die Verfassung faktisch ausgehebelt und durch den sogenannten „Führerwillen“ ersetzt worden war, erübrigte sich jedwede Verfassungsdiskussion und somit jedweder Verfassungsschutz sowie eine entsprechende Gerichtsbarkeit. Der Staatsgerichtshof wurde zwar nicht offiziell aufgelöst, doch fand er schlicht nicht mehr statt.

Die Pervertierung des Rechts, die mit dieser Umfunktionierung der Judikative zur Führergerichtsbarkeit einherging, dokumentierte sich exemplarisch in den Schauprozessen gegen die Gruppe des 20. Juli, welche mit dem Versuch der Tötung des „Führers“ zumindest einen Schritt auf dem Weg hin zur Wiederherstellung der Verfassungswirksamkeit gehen mochte – auch wenn durchaus hinterfragt werden darf, ob sie tatsächlich darauf rekurrierten oder lediglich angesichts der zunehmend aussichtsloseren Kriegssituation vergleichbar dem seinerzeit allerdings auf friedlichem Wege erzwungenen Abgang Wilhelms II darauf zielten, mit der Tötung Hitlers das aus ihrer Sicht größte Hindernis zur Einleitung von Waffenstillstandsverhandlungen mit den Alliierten zu beseitigen.

Verfassungsschutz und Verfassungsgerichtsbarkeit nach 1949

Mit der Überführung der Protektorate, die die Siegermächte 1945 auf dem Boden des ehemaligen Deutschen Reichs eingerichtet hatten, in Klientelstaaten, gingen diese hinsichtlich Verfassungsschutz und –gerichtsbarkeit deutlich unterschiedliche Wege.

Die DDR auf dem Boden des Sowjetprotektorats knüpfte unmittelbar an die Institution einer geheimen Staatspolizei als Instrument der Durchsetzung einer totalitären Weltanschauung als Staatsdoktrin an, gründete mit dem Staatssicherheitsdienst des Ministeriums für Staatssicherheit (kurz Stasi) vergleichbar der GeStaPo eine Institution, die bei der Verfolgung sogenannter politischer und staatsfeindlicher Delikte letztlich ermittelnde, polizeilich agierende und anklagende Instrumente in einer Hand hielt. Wo Inhaftierung oder auch Liquidierung ohne Gerichtsbeschluss erfolgten, fiel faktisch die Gerichtsbarkeit ebenfalls in den Kompetenzumfang der Stasi. In ihrem Selbstverständnis bezeichnete sich die Stasi selbst als „Schild und Schwert der Partei“ – und konnte so nicht deutlicher machen, dass sie weder verfassungs- noch bürger- noch staatsschützende Funktion hatte, sondern sich ausschließlich als jeglichem Recht übergeordnetes Instrument der Durchsetzung der totalitär regierenden Ideologie betrachtete.

In der BRD ging die Politik auch unter dem Eindruck der Erfahrungen unter der ab 1933 ausgehebelten Verfassung einen grundlegend anderen Weg. Nie wieder sollte hier eine politische Ideologie – gleich, ob sie sich als nationaler Sozialismus oder sozialistischer Internationalismus gerierte – die staatlichen Institutionen missbrauchen können für die Vernichtung der Demokratie.

Zur Absicherung des im Grundgesetz vorläufig formulierten Verfassungswillens wurde nicht zuletzt auf Grundlage der Überlegungen Carl Schmitts ein Bundesverfassungsgericht installiert, welches ausdrücklich nicht die Aufgabe hatte, als Staatsschutzinstrument zu agieren, sondern sicherzustellen, dass Inhalt und Intention des Grundgesetzes als vorläufiges Verfassungssubstitut gewährleistet sind. Im Zweifel wäre dieses Gericht befugt und aufgefordert, gegen die amtierende Regierung oder gegen das gewählte Parlament vorzugehen, wenn diese auf nicht verfassungsgemäßem Wege die Verfassung auszuhebeln gedächten. Auch wenn dieses explizit nicht so niedergeschrieben ist, so wäre insbesondere die Feststellung des Widerstandsrechtsfalles gemäß Artikel 20.4 GG Aufgabe eines funktionierenden Verfassungsgerichts.

In der Logik dieser strikten Abgrenzung der Verfassungsgerichtsbarkeit und der unverzichtbaren Unabhängigkeit gegenüber jedweder anderen staatlichen Institution hätte eine Praxis, die langjährige Vertreter aus Legislative und/oder Exekutive unmittelbar in das Amt des Verfassungsrichters lässt, aufgrund der unvermeidbaren Prägung, wenn nicht Abhängigkeit dieser Personen von den parteigeprägten Institutionen unmissverständlich ausgeschlossen werden müssen. Die Tatsache, dass dieses nicht geschehen ist, lässt sich mit Blick auf die Praxis der Besetzung nicht erst in den ersten Dekaden des 21. Jahrhunderts nur mit einer gewissen Naivität der sogenannten Verfassungsväter und deren Glauben an das Gute im Juristen erklären.

Aus dieser Überlegung heraus entstand das Bundesamt für Verfassungsschutz, welches ausschließlich auf sachverhaltsermittelnde Aufgaben beschränkt und eben nicht befugt ist, aus seinen Erkenntnissen heraus polizeiliche oder auch politisch wertende Konsequenzen zu ziehen. In der Konsequenz hätte der Verfassungsschutz daher in der Öffentlichkeit sich jedweder Selbst- oder Erkenntnisergebnisdarstellung zu enthalten: Er ist tatsächlich nichts anderes als ein Dienst, dessen Erkenntnisse an die vorgesetzte Behörde, das Bundesministerium des Inneren, und bei der Vermutung einer verfassungs- oder staatsgefährdenden Handlung an die Bundesanwaltschaft zu gehen haben, wo auf Grundlage geltenden Rechts entsprechende exekutive Maßnahmen erwogen werden und daraus ggf. entsprechende Handlungskonsequenzen gezogen werden müssen.

Damit war es – anders noch als in der Anwendung vor 1933 – ausdrücklich keine Institution mit polizeilichen, staatsanwaltschaftlichen und/oder richterlichen Befugnissen. Explizit formuliert Artikel 5.1 (Zuständigkeiten) des Bundesverfassungsschutzgesetzes (BVerfSchG) wie folgt:

„Das Bundesamt für Verfassungsschutz [BfV] darf in einem Lande im Benehmen mit der Landesbehörde für Verfassungsschutz Informationen, Auskünfte, Nachrichten und Unterlagen im Sinne des § 3 sammeln. Bei Bestrebungen und Tätigkeiten im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 bis 4 ist Voraussetzung, dass

1. sie sich ganz oder teilweise gegen den Bund richten,
2. sie darauf gerichtet sind, Gewalt anzuwenden, Gewaltanwendung vorzubereiten, zu unterstützen oder zu befürworten,
3. sie sich über den Bereich eines Landes hinaus erstrecken,
4. sie auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland berühren oder
5. eine Landesbehörde für Verfassungsschutz das Bundesamt für Verfassungsschutz um ein Tätigwerden ersucht.“

Weiterhin wird in Artikel 5.2 unmissverständlich verdeutlicht, dass sich all diese Sammlungstätigkeit auf die anschließende Auswertung beschränkt, deren Ergebnisse an die jeweiligen Landesämter für Verfassungsschutz weiterzugeben sind. Für die Öffentlichkeit und den Dienstgebrauch anderer Behörden erstellt das Bundesamt einmal jährlich einen Verfassungsschutzbericht, in dem es die Ergebnisse seiner Sammlungstätigkeit veröffentlicht.

Worauf sich diese Sammlungstätigkeit im Einzelnen bezieht, wird im nachfolgenden Abschnitt dargelegt werden.


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