Tichys Einblick
Progressiver Puritanismus

Vom Scarlet Letter zu Cocteau’s Law – wie öffentliche Hinrichtungen die Gesellschaft beschädigen

Die puritanisch-sexualistische Hysterie, gepaart mit der Skrupellosigkeit des stigmatisierenden Rufmordes, die aus den USA gegenwärtig zu uns herüberschwappt, gefährdet nicht nur die Gleichberechtigung – sie gefährdet das Fundament unseres Gemeinwesens.

Drew Angerer/Getty Images

Ulf Röller, seines Zeichens ZDF-Korrespondent in Washington, brachte jüngst in einem Beitrag über die öffentliche Hinrichtung eines hochqualifizierten Juristen folgende Auffassung zum Ausdruck: „Donald Trump hat die US-Gesellschaft gespalten!“

Allein schon dieser eine Satz sollte reichen, um den Mann umgehend aus seiner Funktion zu nehmen und ihm die Berufsbezeichnung Journalist abzusprechen. Denn egal, was man von Trump hält: Er ist niemals Ursache, sondern ausschließlich Symptom. Die US-Gesellschaft ist nicht gespalten, weil Trump ist – Trump ist vielmehr, weil die US-Gesellschaft gespalten ist. Das ist ein himmelweiter Unterschied, denn er besagt, dass Trump niemals Präsident geworden wäre, wäre die US-Gesellschaft nicht bereits zutiefst gespalten gewesen. So – ohne diesen Vergleich auf die Person Trump beziehen zu wollen – wie nun einmal eine Windpocke niemals die Ursache der Krankheit ist, sondern immer nur ein sichtbares Ergebnis derselben.

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Was wir derzeit in den USA erleben, lässt einen nur noch kopfschüttelnd zurück. Dabei ist der dort zu beobachtende Vorgang nichts, was sich auf die Vereinigten Staaten beschränkt – Deutschland kam erst vor wenigen Tagen in den Genuss eines ähnlichen Schauspiels. Bevor wir uns jedoch diesem zuwenden, soll der Blick auf zwei Aspekte der US-Kulturgeschichte gelenkt werden, die zum Verständnis der jene Spaltung der Gesellschaft begleitenden Exzesse beitragen können.

Der scharlachrote Buchstabe

1850 erschien in den USA der Roman „The Scarlet Letter“ von Nathaniel Hawthorne – ein literarisches Werk, welches zuletzt 1995 mit Demi Moore und Gary Oldman in den Hauptrollen verfilmt wurde. Die Geschichte spielt in den puritanischen Migrantensiedlungen der Europäer jenseits des Atlantiks im Jahre des Herrn 1666 – wobei diese Datierung auf den Film beschränkt ist und bewusst Bezug nimmt auf „the number of the beast“ aus der neutestamentarischen Johannes-Apokalypse.

Hawthornes Geschichte ist eine Anklage gegen die Bigotterie der frühen Pilgrim-Fathers und damit auch gegen die US-Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, die eine junge, verheiratete Frau, deren Ehemann auf See vermisst wird, wegen der Geburt eines außerehelich gezeugten Kindes zwingt, ein scharlachrotes „A“ zu tragen – was, unbeschrieben, vermutlich für „Adulteress“, also Ehebrecherin, steht. Der sich erst kurz vor seinem frühen, durch die psychische Folter der gesellschaftlichen Normen verursachten Tod als Vater bekennende Gemeindepfarrer hat sich dieses A in die Brust geschnitten – Zeichen des Bekenntnisses ebenso wie der Selbstkasteiung. Heester Prynne, die junge Frau, die sich über die Einsamkeit angesichts der Abwesenheit ihres Mannes mit einer heißen Liebesnacht hinwegtröstete, legt ihr stigmatisierendes „A“ nie wieder ab – nun nicht mehr ein Zeichen ihrer Schande, sondern der Schande einer Gesellschaft, die menschliche Grundbedürfnisse verteufelt und Mitmenschen aus eigener Hybris heraus zu Verbrechern erklärt.

Demolition Sex

1993, zwei Jahre vor dem unter dem deutschen Titel „Der scharlachrote Buchstabe“ erschienen Film, unterhielten Sylvester Stallone, Wesley Snipes und Sandra Bullock die Kinogänger mit der satirischen Science-Fiction-Parodie „Demolition Man“. Der Film spielt in der nahen Zukunft des Jahres 2032 in einer scheinbar durch und durch sauberen, autoritär von einem Raymond Cocteau regierten Metropolregion namens San Angeles. Dort kommt es zwischen dem seit 1996 tiefgefrorenen, nun jedoch reanimierten Polizisten Jon Spartan alias Stallone und dem weiblichen Polizeileutnant Lenina Huxley alias Bullock zu einer der berühmtesten Sex-Szenen der Filmgeschichte. Sie spielt sich vor allem im Dialog ab, eröffnet durch Bullock:

„… there is, of course, a well-known and documented connection between sex and violence. Not so much as causal effect, but at general state of neurological arousal. And after having observed your behavior this evening and my resultant condition … I was wondering if you would like to have sex.“
Stallone (erstaunt angesichts der Offenheit): „With you?“ Positive Reaktion. „Here? Now? Oh yeah!“
Bullock (jubelnd): „Great! I’ll be right back“ (Bullock verschwindet im Nebenraum).
Stallone legt seine Jacke ab, macht es sich bequem und wartet auf seine Sexpartnerin. Bullock erscheint mit zwei helmartigen Gebilden, setzt Stallone eines auf, sich selbst das andere und setzt sich gegenüber Stallone auf eine Sitzgelegenheit.
Bullock: „Now, just relax. We’ll begin in a few seconds.“
Stallone: „Begin what?“
Bullock: „Having sex, of course.“
Beide sitzen sich reglos gegenüber, es beginnt ein Kopfkino mit harmlosesten Szenen der Lust. Bullock (gerät in Extase): „Yes, yes, aaah …“
Stallone reißt sich das Gerät vom Kopf – Bullock ist erschüttert.
Bullock: „Whats’s wrong? You broke contact.“
Stallone: „Contact? I didn’t even touch you yet!“
Bullock: „But I thought you wanted to make love?“
Stallone (irritiert): „Is that what you call this?“
Bullock: „Vir-sex produces high alpha waves during transference of sexual energies.“
Stallone: „Huxley, let’s do it the old fashioned way.“
Bullock (entsetzt): „Ew! Disgusting! You mean … fluid transfer?“
Stallone: „No, I mean boning, the wild mambo, the hunka-chunka.“
Bullock: „This is not longer done. Exchange of bodily fluids, know what that leads to?“
Stallone: „Yeah, I do. Kids, smoking, a desire to raid the fridge.“
Bullock: „Rampant exchange of bodily fluids was one of the major reasons for the downfall of society. After AIDS, there was NRS. After NRS, there was UBT. One of the first things Dr. Cocteau did was to outlaw and engineer all fluid transfer out of societally acceptable behavior. Not even mouth transfer is condoned.“
Stallone: „Kissing’s not allowed? Damn, I was a good kisser. What about kids?“
Bullock: „Procreation?“
Stallone: „Yes.“
Bullock: „We go to a lab. Fluids are purified, screened and transferred by authorized medical personnel only. It is the only legal way.“
Stallone nähert sich Bullock, Setzt an, sie zu küssen.
Bullock: „What are you doing?“
Stallone: „Breaking the law.“
Bullock: „You are a savage creature, John Spartan. I wish you to leave my domicile now!“
Stallone (wendet sich zur Tür des Appartements): „Look, you know …“
Stallone verlässt das Appartement.

Wenn Fiction Faction wird

In den späten 90ern erschien diese Szene des Virtual Sex, mit dem der aus 1996 in das Jahr 2032 katapulierte Spartan so überhaupt nichts anfangen konnte, nur eine absurde Zukunftsvision zu sein. Klassische Fiction ohne Science. Das ist gerade einmal 20 Jahre her.

Der Blick auf die aktuelle Entwicklung nicht nur in den USA zwingt die Erkenntnis auf: Aus der Fiction ist bereits Faction geworden. Denn die „savage creature“, die Bullock hier noch aus ihren Räumen verdammt, dominiert längst schon die Öffentlichkeit. Sex ist zu einer Waffe im Kampf um politische Dominanz und Durchsetzung persönlicher Interessen geworden. Er paart sich nicht nur in den USA mit jenem Blick in eine bigotte Vergangenheit, die eine junge Frau wegen einer außerehelichen Beziehung zur Aussätzigen stempelt und einen Priester mit seinem Schuldgefühl in die Selbstvernichtung treibt.

Das Ergebnis dieser unseligen Paarung sind Schauspiele, wie wir sie jüngst vor einem Ausschuss des amerikanischen Parlaments erleben mussten.

Sexuelle Selbstbestimmung ist absolut

Nein, es geht nicht darum, männliche Übergriffe, Vergewaltigungen auch nur im Ansatz schön zu reden. Nicht erst, seit ich als Schöffe am Hamburger Jugendgericht über Fälle von Vergewaltigung junger Mädchen durch Männer aus fremden Kulturkreisen entscheiden musste, ist mein Verständnis für aufgezwungenen Sex gleich null. Wir schickten den Täter damals für acht Jahre ins Gefängnis.

Das jedoch hat mit dem, was gerade in den USA geschieht, nicht das Geringste zu tun. Denn bei dem Vorwurf der Vergewaltigung muss es – man mag dieses bedauern – immer darum gehen, den Vorwurf und die Handlung zeitnah aufzuklären, die Tat zu beweisen. Denn leider ist es so, dass die körperlichen Folgen eines solchen Übergriffs nach wenigen Tagen kaum noch beweissicher festzustellen sind. Noch schwieriger wird es, wenn eine Gewaltanwendung scheinbar unterblieb, weil sich das Opfer den Drohungen des Vergewaltigers aus Angst widerstandslos unterwarf – oder es zur Vergewaltigung nicht gekommen ist. Insofern ist und bleibt es richtig, das „Ein Nein ist ein Nein“ absolut zu stellen und nicht jene unsinnigen Männerphantasien zu bedienen, wonach ein solches „Nein“ eigentlich ein „Vielleicht“ und ein „Vielleicht“ eigentlich ein „Ja“ sei.

Sex als politische Waffe

In den Vereinigten Staaten erleben wir derzeit jedoch nicht nur mit der „MeToo“-Kampagne eine Welle der Anklagen und Selbstanklagen genau dieses – letztere, weil die behaupteten Opfer sich erst Jahre oder Jahrzehnte nach den angeblichen Vorfällen offenbaren. Angebliche oder tatsächlich erfolgte Übergriffe werden nach Jahrzehnten offenbart – mit teilweise irreparablen Konsequenzen für alle Beteiligten.

Spätestens mit dem Fall Kavanaugh gewinnt diese Anklagewelle nun nicht nur eine gesellschaftliche und juristische, sondern eine hochbrisante, politische Dimension: Die Anklage eines angeblichen Verbrechens, welches Jahrzehnte zurückliegt, wird zu politischen Vernichtungswaffe. Im Fall Kavanaugh geht es vor allem um eines: Einen Mann, der von Donald Trump als Kandidat für das höchste US-Gericht vorgeschlagen wurde, gleich mit welchen Mitteln zu verhindern.

Der 1965 geborene Brett Kavanaugh gilt als exzellenter Jurist mit umfassender Richtererfahrung. Jedoch steht seiner Berufung seitens der oppositionellen Demokraten ein maßgebliches Hindernis im Weg: Kavanaugh ist Katholik und Abtreibungsgegner, gilt als streng konservativ. Da die Richter des US-Supreme Court auf Lebenszeit gewählt werden, könnte der heute 53-jährige in dem Obersten Gericht für viele Jahre, vielleicht Jahrzehnte, als Vertreter einer konservativen Ausrichtung tätig sein. Das wiederum gilt es aus Sicht der Opposition mit tatsächlich allen Mitteln zu verhindern.

Die Anklage einer „Beinahe-Vergewaltigung“

So fand sich kurz vor der Abstimmung über den künftigen Richter plötzlich eine Dame, die beschwor, der Kandidat habe sie auf einer Schülerparty im Jahr 1982 „beinahe vergewaltigt“. Der demnach ziemlich betrunkene Kavanaugh soll übergriffig geworden sein und ihr, um Hilferufe zu verhindern, den Mund zugehalten haben – was sie in Todesangst versetzt und ein langjähriges Trauma verursacht habe. Zu Geschlechtsverkehr im Sinne der Bullock’schen „savage creature“ sei es jedoch nicht gekommen. Geschehen sei es auf einer Schulparty.

Es soll nicht darüber befunden werden, ob und was an diesen Vorwürfen der damals 15-Jährigen dran ist. Und das auch deshalb, weil darüber nach 35 Jahren nicht mehr befunden werden kann. Die Anklägerin, Christine Blasey Ford, heute Professorin für Psychologie und Lobbyistin der Pharmaindustrie, war zum Zeitpunkt des angeblichen Geschehens Schülerin an einer Privatschule für Mädchen in Bethesda/Maryland. Der von ihr als einziger Zeuge benannte Mark Judge ließ wissen, er könne sich an einen solchen Vorfall nicht erinnern und kenne ein solches Verhalten bei Kavanaugh nicht. Wie der ältere Neil Gorsuch, bereits von Trump als Richter am Supreme Court durchgesetzt, besuchte Kavanaugh die Katholische Georgetown Preparatory School für Jungen in einem Vorort Bethesdas. Möglich, dass das junge Mädchen dem damals 18-jährigen Kavanaugh auf einer Party begegnet ist. Möglich sogar, dass die „savage creature“ in Kavanaugh dieses junge Mädchen in irgendeiner Weise bedrängt hatte. Möglich aber auch, dass sie sich nie über den Weg gelaufen sind. Zeugen für den behaupteten Vorfall gibt es nicht – auch wenn nach dem Bekenntnis Fords sich zwischenzeitlich vier weitere Damen, darunter eine Anonyme, gefunden haben, die – ebenfalls ohne Benennung weiterer Zeugen – wüssten oder gesehen haben wollen, wie Kavanaugh mit anderen jungen Männern in betrunkenem Zustand Mädchen bedrängt und „gefügig“ gemacht habe.

Tatsache aber bleibt: Zu einer Vergewaltigung ist es bei Ford nicht gekommen. Die Anschuldigungen stehen ohne Tatsachenbeweis im Raum. Kavanaugh hat nach allem, was wir wissen, seitdem ein untadeliges Leben geführt. Er ist seit 2004 verheiratet, hat zwei Töchter. Tatsache bleibt auch: Ford hatte ihre Anklage zuerst in einem anonymen Schreiben an die Washington Post erhoben – die Zeitung nahm das anonyme Schreiben zur Kenntnis und heftete es ab. Am 16. Juli 2018 dann wandte sich Ford in einem nun nicht mehr anonymen Schreiben an die demokratische Senatorin Dianne Feinstein, welche die Angelegenheit ins Rollen brachte. Die 1933 geborene Feinstein, heute ältestes Mitglied im US-Senat, ist vehemente Befürworterin der embryonalen Stammzellenforschung und Verfechterin eines Waffenkontrollgesetzes – steht insofern aktiv sowohl gegen die Abtreibungsgegner wie gegen die Waffenlobby – und damit in vorderster Front gegen Trump.

Nicht zu belegende Vorwürfe

Niemand – auch nicht das FBI, dessen Ermittlungen Trump nun angeordnet hat – wird heute noch in der Lage sein, die Vorwürfe Fords zu belegen oder zu widerlegen. Es steht eine Behauptung im Raum, deren Inhalt mangels Vollzugs einer Vergewaltigung auch heute nicht unter Strafe steht – und in den „wilden Achtzigern“ auf den alkoholgeschwängerten Parties vielleicht nicht an der Tagesordnung war, aber selbst dann, wenn sie zutreffend sein sollte, weder damals noch heute gerichtsrelevant wäre. Doch darum geht es Ford auch nicht. Sie begründet ihre Anklage gegen Kavanaugh damit, dass jemand, der Frauen auf diese Weise bedrängt habe, nicht Richter am höchsten US-Gericht werden dürfe. Ob er es getan hat, bleibt unbewiesen. Es steht Behauptung gegen Behauptung – und der Beschuldigte bleibt außerstande, zu beweisen, dass er etwas nicht getan hat, was er nach seiner eigenen Aussage eben nicht getan hat.

Das Ziel der gesellschaftlichen Ächtung

In der Anhörung vor dem Senatsausschuss legte Ford einen bühnenreifen Auftritt hin. Schauspielerei oder tatsächliche Gefühlslage? Auch das wird nicht zu klären sein – es sei denn, ein geschulter und neutraler Psychologe würde sich mit der Psychologieprofessorin ausgiebig beschäftigen. Doch selbst dann stünde am Ende Auffassung gegen Auffassung. Ein psychologisches Gutachten kann immer nur Orientierung geben – ein Beweis ist es nicht.

Auch Kavanaughs Auftritt vor dem Ausschuss war bühnenreif. Er sprach von einer politisch motivierten Hexenjagd, davon, dass hier gezielt sein Ruf zerstört werden solle. Und tatsächlich ist dieses genau das Problem, vor dem wir bei solchen Vorgängen stehen: Um ein politisches Ziel zu erreichen, werden Menschen diskreditiert und der juristische Grundsatz der Unschuldsvermutung ebenso wie das Prinzip des „in dubio pro reo“ aus den Angeln gehoben.

Hier wird bewusst und gezielt das von Hawthorne vor 150 Jahren beschriebene Muster der gesellschaftlichen Ächtung bemüht. Kavanaugh hat einen scharlachroten Buchstaben an die Brust geheftet bekommen. Gab es jedoch im puritanischen Amerika zumindest noch mit dem unehelichen „Balg“ einen lebenden Beweis dafür, dass irgendetwas vorgefallen ist, gibt es im Fall Kavanaugh lediglich die Behauptung einer Frau, die 35 Jahre geschwiegen haben muss über etwas, das sie angeblich ihr Leben lang belastete – und das sie öffentlich gemacht hat, als ihr tatsächlicher oder gedachter Peiniger nun auf dem Weg in das höchste Gericht war.

Spekulationen verbieten sich

Es verbietet sich die Spekulation darüber, dass die Pharmaindustrie in der Stammzellenforschung ein in vielerlei Hinsicht nützliches Geschäftsfeld erblickt. Dass diese Stammzellenforschung darauf angewiesen ist, für ihre Forschung auf abgetriebene Föten zurückgreifen zu können. Dass Abtreibungsgegner dann, wenn sie sich durchsetzen sollten, den Zufluss solcher Föten zumindest erheblich verteuern könnten.

Es verbietet sich auch die Spekulation darüber, ob Ford möglicherweise psychisch bedingte Fehlwahrnehmungen ihrer eigenen Vergangenheit vorbringt – sich vielleicht den von niemandem sonst zu bezeugenden Vorfall nur einbildet.

All das spielt bei der eigentlichen Betrachtung des aktuellen Geschehens keine Rolle. Denn tatsächlich geht es eben nicht um Fakten. Es geht um Politik – und um Glauben als Wahrheitsannahme einer unbeweisbaren Wahrheitsvermutung.

Die Glaubenskämpfe auf der Straße

Auf den Straßen spielen sich während der Anhörung erstaunliche Szenen ab. Gegner und Befürworter Kavanaughs sind kurz davor, sich gegenseitig an die Gurgel zu gehen. Und beide Seiten haben nur ein einziges Argument: Eben diesen Glauben, dass der oder die eine die Wahrheit sage, während der oder die andere lüge. Die Debatte hat damit längst jegliche Bodenhaftung verloren. Es geht nicht um Tatsachen. Es geht nicht einmal mehr um vorgebliche Vergewaltigung und die sexuelle Selbstbestimmung der Frau. Es geht nur noch darum, seinen durch nichts zu belegenden Glauben an die vorgebliche Wahrheit der einen oder der anderen Position durchzusetzen. Es geht darum, Menschen mit dem scharlachroten Buchstaben zu brandmarken: Sei es Kavanaugh, der ihn als potentieller Vergewaltiger tragen soll, sei es Ford, die ihn als notorische Lügnerin bis an ihr Lebensende an sich heften haben wird. Denn das Gerücht, die unbewiesene Behauptung, wirkt in beide Richtungen: Sie macht einen angeblichen Täter zum Opfer und ein angebliches Opfer zum Täter. Das ist das eigentlich tragische der Situation. Und die Tatsache, dass scheinbar unbeteiligte Menschen sich hier zum Instrument des Hasses machen lassen – so oder so, für oder gegen die Wahrheitsannahme einer Behauptung, deren Ursache dreieinhalb Jahrzehnte zurückliegen soll.

Die bewusste Zerstörung von Existenzen

Mit solchen Aktionen – das kennzeichnet die Dramatik – wird das Leben aller Beteiligter zerstört. Kavanaugh wird auch dann, wenn er Supreme Judge wird, in den Augen vieler immer ein potentieller Vergewaltiger bleiben. Er wird diesen scharlachroten Buchstaben auch dann, wenn sich dafür keinerlei Beweis finden lässt, niemals wieder los. Er weiß dieses – und deshalb ist sein emotionaler Auftritt vor dem Ausschuss in jeder Hinsicht nachzuvollziehen. Ford weiß es vielleicht noch nicht. Aber auch sie wird das Stigma einer Frau, die sich hat politisch instrumentalisieren lassen, niemals wieder los werden. Beide werden bei ihren Anhängern zu Helden werden – beide bei ihren Gegnern auf ewig ehrlose Kreaturen bleiben. Tatsächlich wurden hier zwei Leben zerstört. Weil die aufgeheizte politische Konfrontation zwischen dem Lager der Demokraten und dem Lager der Republikaner, die gesellschaftliche Spaltung, die lange vor Trump dagewesen ist, sie dazu gemacht hat.

Freie Liebe wurde gesellschaftsfähig

Selbst aber, wenn man diese persönlichen Schicksale, die auch die Familien der Beteiligten treffen, als scheinbar unvermeidbare Kollateralschäden auf dem Weg zu einem vermeintlichen Recht ausblendet – noch dramatischer ist die Auswirkung auf die gesellschaftliche Entwicklung. Womit wir nun bei der Szene des Demolition-Sex im Jahre 2032 sind.

In den Sechzigern und Siebzigern, sogar bis in die Neunziger des vergangenen Jahrhunderts feierten nicht nur die Deutschen die sexuelle Revolution. Das menschliche Grundbedürfnis wurde aus der Schmuddelecke der Bigotterie befreit, die Anti-Baby-Pille schien den Frauen das Recht zu sexueller Selbstbestimmung und damit zum Leidwesen klerikal-konservativer Kreise auf selbstbestimmte Promiskuität zu geben. Vor allem die selbsternannten Progressiven der sogenannten 68er propagierten die freie Liebe – und lebten dabei in ihren zumeist männlichen Protagonisten lediglich nunmehr Sexualität ohne Verantwortung aus. Frauen wurden ohne Konsequenzen als Sexobjekt verfügbar und: „Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment“ lautete die Parole der unschwer erkennbar männlichen Progressiven.

Hätte es tatsächlich funktioniert, dann wäre der Straftatbestand der Vergewaltigung unnötig geworden. Denn potentielle Sexpartner standen im Paradies der freien Liebe zur Genüge zur Verfügung. Mancher der Herren jener Zeit – so ein Mann in den besten Jahren, der in einer deutschen Metropole der Neunziger im Privatfunk sich spätnachts als Frauenversteher in den Äther schickte – entwickelte ebenso primitive wie sinnfällige Verhaltensmuster. Besagter Medienmann erklärte mir irgendwann einmal sein Vorgehen: Wenn er auf Parties Frauen sehe, die ihm gefielen, dann spräche er sie direkt an, ob sie nicht Lust hätten, mit ihm ins Bett zu gehen. „Bei drei Frauen handele ich mir von einer eine Ohrfeige ein, eine wendet sich empört ab, aber jede Dritte sagt ja“, erläuterte er seinen Erfolg. Die Quote bestätigte ihn in der Richtigkeit seines Tuns. Sex ohne Reue, konkret und unmissverständlich abgefragt – wenn auch ohne jeden Stil und ohne jede Erotik. Aber die Selbstbestimmung der Frau wurde dadurch nicht beeinträchtigt. Denn sie mochte sich angewidert abwenden oder zur Ohrfeige greifen oder einfach nur ja sagen – ihre sexuelle Selbstbestimmung wurde davon nicht berührt. Und Stillosigkeit war damals und ist auch heute nun einmal kein kriminelles Delikt. Und doch sei darauf verwiesen: Das war damals zu einer Zeit, als sich die Kinogänger über Vir-Sex in San Angeles amüsierten.

Heute dürfte ein solches Verhalten, diese simple und klar formulierte Frage, als sexistisch, als „übergriffig“ verurteilt werden. Doch strafbar war und ist es dennoch nicht. Denn es ist damit keinerlei Gewalt oder Bedrängnis verbunden. Wobei das hier Beschriebene nur eine von zahllosen Varianten der Prä-Paarungsrituale menschlicher Wesen ist, ohne welche die Gattung eher über kurz als über lang zum Aussterben verurteilt wäre.

Die Erinnerung nach drei Jahrzehnten

Doch ganz abgesehen davon und um den Blick nun wieder in die USA zu richten: Wer von jenen heute über Fünfzigjährigen, die Anfang der Achtziger auf Parties nach Spaß – und ja, auch nach Sex – suchten, wird sich nach dreieinhalb Jahrzehnten noch an einzelne Vorkommnisse erinnern? Vielleicht weiß der eine oder andere noch, bei wem die „Anmache“ im Bett geendet hat und wo es sich im wahrsten Sinne des Wortes um vergebliche Liebesmüh handelte – mein Gesprächspartner allerdings wird sich nicht einmal mehr an die Gesichter, geschweige denn an die Namen erinnern. Sex war zu einer Selbstverständlichkeit geworden – mal war Mann (oder auch Frau) erfolgreich, mal war er/sie es nicht. Es spielte keine Rolle, weil es um ausschließlich egoistischen Spaß ging, den beide Beteiligten auf ihre Weise hatten und haben wollten. Weshalb wir auch nicht so tun sollten, als hätten wir es hier mit einem ausschließlich männlichen Verhaltensmuster zu tun. Auch Frauen wussten, wenn sie Lust hatten, sich ihre One-Night-Stands zu organisieren. Dank Pille gab es kein Risiko, welches die Lust hätte hindern können.

Doch nun, nach über drei Jahrzehnten, werden Vorgänge aus jener Zeit, die niemals gerichtsrelevant gewesen sind und sich vielleicht nur in der Phantasie abgespielt haben mögen, zu Instrumentarien im politischen Kampf. Die Vorverurteilung am öffentlichen Pranger soll nicht nur missliebige Karrieren verhindern – sie vernichtet Menschen ohne jeden Beweis der Tat. Die allein schon durch Zeitablauf nicht mehr zu leistende Sachaufklärung wird ersetzt durch ein glaubensgleiches Bekenntnis für oder gegen die Behauptung des Geschehens. Und die Gläubigen werden zu jenen Massen, die Gustave LeBon angesichts der Ausschreitungen im belagerten Paris des Jahres 1871 beschrieb: Irrational und notfalls tödlich. Zumindest aber hochgefährlich – nicht nur für die unmittelbar Beteiligten, sondern für eine Gesellschaft, die – anders als von Röller behauptet – nicht durch Trump gespalten wird, sondern Trump durch ihre Spaltung erst möglich gemacht hat.

Die weltweite Stigmatisierung

Das Stigma des scharlachroten Buchstabens, wie es im Falle Kavanaugh an der Brust eines bis dahin als tadellos geltenden Mannes auf ewig angeheftet sein wird, findet den Bogen zum Vir-Sex zwischen Spartan-Stallone und Huxley-Bullock. Die Muster der gesellschaftlichen Vernichtung, die wir gegenwärtig nicht nur in den USA erleben, werden die Zivilisation auf Jahrzehnte prägen – und sind längst dabei, sie zu verändern. Die Unbedarftheit, jene als Freiheit verklärte Vorstellung des freien, unbekümmerten Sex, welche die selbsternannten Progressiven der Sechziger feierten, verkehrt sich in ihr Gegenteil, macht einer Wiederkehr des bigotten Puritanismus Platz.

Wenn die bloße Behauptung eines unbeweisbaren Vorgangs, der von den einen als harmloser Versuch des Anbändelns, von den anderen als unentschuldbare Handlung mit dem Ziel eines nicht selbstbestimmten Geschlechtsverkehrs betrachtet wird, ausreicht, um menschliche Existenzen zu vernichten, dann sehen wir gerade genau jenes, was Hawthorne vor bald 170 Jahren im Rückblick auf die Geschichte seines Landes beschrieben hatte. Es war damals eine Anklage gegen die Unmenschlichkeit einer gesellschaftlichen Stigmatisierung – und sie ist es heute nicht minder. Dabei erreicht sie in der globalen Medienwelt eine zu Hawthornes Zeiten unvorstellbare Dimension: Nicht jene wenigen Senatoren halten hier Gericht über einen Menschen – die Welt tut es. Und sie tut es nicht auf Grundlage erwiesener Fakten, sondern im irrationalen Glauben, manipuliert durch die sie jeweils erreichende Art der Berichterstattung und Schilderung der Behauptung eines lange zurückliegenden Vorgangs oder Nichtvorgangs.

Die Anschwärzer als Kreaturen der Apokalypse

So gilt nun: Unabhängig davon, ob an den erhobenen Vorwürfen etwas dran ist oder nicht – allein dieses als unsichtbares Damoklesschwert über eines jeden – noch – Mannes schwebenden Haupt bringt uns „Cocteau’s Law“ in Riesenschritten näher. Denn ein jeder, der sich bewusst machen kann, nicht irgendwann in seiner Karriere einmal einem solchen Vorwurf ausgesetzt zu sein, kann letztlich nur noch eines tun: Seine sexuellen Bedürfnisse in jener Art befriedigen, wie dieses der San-Angeles-Autokrat Cocteau verordnet hat. Keine Berührung, kein Austausch von Körperflüssigkeit. Auch keine Emotion mehr, keine Erotik, keine prickelnde Spannung beim Spiel der Geschlechter; nicht mehr das, was im eigentlichen Sinne unter „Liebe“ zu verstehen ist. Nur noch aseptischer Sex, der mit Sexualität nichts mehr zu tun hat. Und mit „Liebe“ schon gar nichts.

Dabei: Eigentlich nicht einmal mehr das. Denn wer will sicherstellen, dass nicht nach 35 Jahren die Behauptung im Raum steht, „the savage creature“ habe es nicht beim Versuch belassen? Was, wenn die von Stallone-Spartan formulierte Strafbarkeit allein schon am bloßen, erfolglosen Annäherungsversuch festgemacht wird? Was, wenn diese Geschichte im Appartement von Bullock-Huxley niemals stattgefunden hat – und nach Jahrzehnten dennoch und vielleicht deutlich prägnanter als gezeigt behauptet wird?

Anhörungen wie jene vor dem Senatsausschuss, die Menschen aus politischen – oder auch wirtschaftlichen oder persönlichen – Gründen für ihr Leben einen scharlachroten Buchstaben in die Brust brennen, zerstören die Grundlagen jeglichen Zusammenlebens. Und jene, die lauthals für oder gegen die eine oder die andere Seite schreien, sind die wahren Zerstörer. Nicht nur dann, wenn es wie im Falle Kavanaugh um vorgebliche sexuelle Übergriffe geht. Auch die Böhmermänner und Kahanes mit ihren Anti- und Streich-Listen sind keinen Deut besser als jene Puritaner Hawthornes: Sie hätten 1666 in der ersten Reihe der denunziatorischen Anklage gestanden, der Kreatur der Apokalypse ihr Mundwerk geliehen.

Die Zerstörung der Zivilisation

Was diese sexuallistischen Kampagnen betrifft, mit denen gegenwärtig ein gesellschaftsfähiges Zusammenleben der Geschlechter zerstört wird, möchte ich eine Frau zitieren, deren Verdienste um Gleichberechtigung nie unterschätzt werden dürfen, und deren hellwacher Verstand immer noch in der Lage ist, um Meilen weiter als die Schreier zu denken. Alice Schwarzer sagte jüngst, es sei in Sachen Emanzipation so viel, ja noch mehr als ursprünglich jemals zu erhoffen gewesen sei, erreicht worden. Nun aber müsse erst einmal Schluss sein, denn sonst gerate das Erreichte in Gefahr, durch das Überspannen des Bogens sich selbst zu zerstören.

Schwarzer hat recht: Die puritanisch-sexualistische Hysterie, gepaart mit der Skrupellosigkeit des stigmatisierenden Rufmordes, die aus den USA gegenwärtig zu uns herüberschwappt, gefährdet nicht nur die Gleichberechtigung – sie gefährdet das Fundament unseres Gemeinwesens, weil sie offensichtlich als Symptom dafür zu begreifen ist, dass der Bogen längst schon zum Zerreißen gespannt ist. Die ihn spannen, sind jedoch nicht jene, die sich an den traditionellen Werten von Gesellschaft orientieren. Die ihn überspannen, sind jene, die sich im Recht glauben, mit ihrem irrationalen Glauben selbst referenziertes Recht erkämpfen zu müssen. Das ist es, was Schwarzer meinte – das ist es, was unsere Gesellschaften zutiefst spaltet – das ist es, was unsere Zivilisation derzeit zu zerstören droht.

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