In der Hektik des russischen Überfalls auf die Ukraine meldeten sich gestern die beiden Köpfe des Regimes zu Wort. Außenminister Lawrow war im Sprachduktus unerwartet zurückhaltend – was ihn nicht daran hinderte, die russischen Märchen vom angeblichen Genozid an dem russisch-sprachigen Teil der Ukrainer zu wiederholen.
Putin ist offensichtlich fest davon überzeugt, dass er es in der Ukraine mit einem CIA-gesteuerten „Nazi-Regime“ zu tun hat, welches die ukrainische Bevölkerung unterdrückt und ausblutet. Das wiederum hat ihn unverkennbar zu der festen Überzeugung gelangen lassen, dass die russische Armee tatsächlich von einer überzeugenden Mehrheit als Befreier begrüßt werden würde. Doch es ist ganz anders gekommen.
Das ukrainische Militär, welches Putin fast schon verzweifelt ein weiteres Mal aufgefordert hat, eilends die Seiten zu wechseln, erweist sich trotz militärtechnischer Unterlegenheit unerwartet widerstandsfähig. Ganz offensichtlich hat Putins Echokammer mit diesem Widerstand nicht gerechnet und ist überfordert, damit umzugehen.
Für Putin sind diese ukrainischen Bürger durchweg neonazistische Bandera-Leute, benannt nach jenem Ukrainer, der im Zweiten Weltkrieg auch mit den Deutschen gegen die Sowjets kämpfte, um so die Freiheit seines Volkes zu erlangen. Die Banderas gelten vielen Russen bis heute als die Inkarnation des Vaterlandsverrats – wohingegen sie in der Ukraine selbst als Nationalhelden gefeiert werden. In der Weltsicht des Wladimir Putin besonders abstrus: Für ihn ist der gewählte Präsident Wolodymir Selentskyj der Anführer der „Rechtsfaschisten“ – ausgerechnet ein Jude als Führer einer Bande von „faschistischen“ Untergrundkämpfern, die tatsächlich selbst Antisemiten waren!
Für Putins sowjetische Weltsicht kann es dennoch nicht anders sein: Ukrainer, die die Waffe in die Hand nehmen, um gegen Russland für ihr Land zu kämpfen, sind „Faschisten“ und „rechte Nazi-Terroristen“. Doch es scheinen unerwartet viele zu sein, auf die dieses fragwürdige Etikett nun angewandt werden muss. Angeblich, so Putin, versteckten sich diese Banderas auf Anraten ihrer erdachten US-Berater hinter Frauen und Kindern als lebenden Schutzschilden – der verzweifelte und mehr als durchschaubare Versuch, die nun durch die russischen Invasoren unvermeidlich gewordenen „Kollateralschäden“ an der Zivilbevölkerung den Angegriffenen anzulasten.
Dabei ist es nicht nur die Weltöffentlichkeit, gegenüber welcher Putin nun sein von der unerwarteten Wirklichkeit verzerrtes Gesicht zu verlieren droht. Was er noch mehr fürchten muss, ist das Risiko, dass seine Soldaten, denen der Feldzug gegen die Nachbarn mit jenen Lügen einer „faschistischen“ Gewaltherrschaft erklärt wurde, angesichts der Wirklichkeit in der besetzten Ukraine zu zweifeln beginnen.
Nur Soldaten, die von ihrer Mission überzeugt sind, können gute Soldaten sein. Wenn Putins Armee gewahr wird, dass es nicht gegen kriminelle „Faschisten“, sondern gegen ein friedliches Volk geht, könnte die Kampfmoral der Invasoren darunter erheblich leiden. Das Ausbleiben des offensichtlich erwarteten, massenhaften Überlaufens der ukrainischen Kämpfer wird ein Weiteres tun, um die Soldaten an den Erzählungen ihrer Befehlshaber zweifeln zu lassen.
Sollten sich diese Erkenntnisse und Erfahrungen dann noch bis in die Städte Russlands herumsprechen, dann könnte die Gewaltaktion gegen die Ukraine, mit der Putin sich und seine mafiöse Oligarchie gegen demokratische Bestrebungen zu schützen suchte, zum Bumerang werden.
Die Unkontrolliertheit, ja fast schon Panik, die den jüngsten Auftritt Putins kennzeichnete, könnte insofern ein Zeichen dafür sein, dass sich der Kreml-Herrscher gründlich verkalkuliert hat. Er ging ganz offensichtlich davon aus, in der Ukraine auf geringen Widerstand zu stoßen und mit Jubel empfangen zu werden. Doch das Gegenteil ist der Fall – eine Fehleinschätzung, die Despoten, die sich von der Wirklichkeit verabschiedet haben, schon des Öfteren in die Selbstvernichtung geführt haben.