Beginnen wir mit etwas scheinbar Simplen: mit einem Lebenslauf. Wobei hier unmittelbar bereits das erste Problem auftaucht. Denn die Person, die im Mittelpunkt dieses Artikels stehen soll, verhält sich diesbezüglich eher zurückhaltend. Egal, ob in der unternehmenseigenen Vita oder bei dem dort offenbar abgekupferten Wikipedia-Eintrag – das Leben unseres mit Abitur veredeltem Helden beginnt so richtig erst nach dem Ende des Wehrdienstes, welcher bei der Marine abgeleistet wurde. Was davor geschah, hüllt sich in Nebel und Tarnmantel. Außer vielleicht diese eine einzige Feststellung: Geboren wurde er am 21. Mai 1960 im rheinischen Wuppertal.
Irgendwann also, vermutlich in seinen früheren Zwanzigern, lässt sich unser Abiturient an der Philipps-Universität in Marburg an der Lahn zum Handwerker des Rechts, gemeinhin auch als Rechtswissenschaft bezeichnet, ausbilden. In den Jahren 1991 bis 2000 folgt der offenbar erste Job als Referent für Dienstrecht und Personalwesen im Bundeministerium des Inneren (BMI). Leider erfahren wir nicht, in welchem Monat die Anstellung im BMI erfolgte. Das wäre zumindest insofern interessant, weil anzunehmen ist, dass der zuständige Minister mit der Einstellung einverstanden gewesen sein muss. Das war bis zum 26. November 1991 Wolfgang Schäuble und anschließend dann Rudolph Seiters.
Diese Mitteilung selbst lässt vermuten, dass unser Mann sein Studium mit dem Zweiten Staatsexamen abgeschlossen haben wird, womit sich ihm als Beamten die Laufbahn im Höheren Dienst öffnete. Wir dürfen insofern unterstellen, dass er Gymnasialbesuch, Wehrdienst und Studium mit der notwendigen Konsequenz und Eile durchgezogen hat.
Klassische Bürokratie im Innendienst
Dienstrecht und Personalwesen sind eher dröge Aufgabenfelder. Klassische Bürokratentätigkeit ohne viel geistigen Input und ohne Anspruch auf Kreativität. Ganz im Gegenteil: Kreativität ist hier eher schädlich, geht es doch darum, mögliche Verfehlungen von Mitarbeitern juristisch und dienstrechtlich abzuklopfen und Stellungnahmen für Personalentscheidungen des Hauses zu verfassen. Hier sitzen nicht selten die klassischen Bürokraten, wie sie sich der einfache Bürger vorstellt als Aktendeckelbeweger und Ablagejongleure.
Der Schwerpunkt allerdings ist das Handling der Bundesbediensteten: Gehalts- und Beihilfezahlung, Anstellung und Laufbahnkontrolle – kurz: alles, was mit dem Personal der Behörden und der technischen Organisation der Arbeitsabläufe in Zusammenhang steht. Die Anzahl dieser zu verwaltenden Bundesbediensteten liegt aktuell bei rund einer halben Million Menschen – also viel zu verwalten, um den bürokratischen Apparat am Laufen zu halten.
Doch schon 2006 zieht es ihn zurück in das Bundesministerium des Innern. Dort wird er Leiter des Referats „Laufbahnrecht“ und führt die Geschäfte des Bundespersonalausschusses. Ein Schwerpunkt dieser Arbeit liegt darauf, Staatsbedienstete auf ihre Laufbahnbefähigung zu prüfen. Unser Mann wird so zum Herrn über Beamtenkarrieren. Der Bundespersonalausschuss tagt nicht öffentlich: Zwar werden seine Entscheidungen im Ministerialblatt veröffentlicht – doch der Weg dorthin bleibt unter Verschluss.
So bereits in der geheimen Durchleuchtung von Menschen und dem daraus abgeleiteten Recht, über das Leben anderer zu urteilen und zu entscheiden, bestens vertraut, wechselt der Held unserer Geschichte im Jahr 2009 in das Bundesamt für Verfassungsschutz. Dort leitet er zum Einstieg bis 2012 die Zentralabteilung und steigt kein Jahr später zum Vizepräsidenten des Amtes auf.
Die Homepage des Bundesamts für Verfassungsschutz beschreibt die Aufgaben der Zentralabteilung wie folgt: „Die „Abteilung Z (‚Zentrale Dienste‘) umfasst die klassischen Querschnittsaufgaben Personal, Organisation, Haushalt und Innerer Dienst. Zu ihrem breiten Aufgabenspektrum gehören u.a. Personalentwicklung, Personalgewinnung, Personalbetreuung, Aus- und Fortbildung, Justiziariat, Geschäftsprozessuntersuchungen, Haushaltsaufstellung, Liegenschaftsmanagement und Arbeitsschutz.“
Niemals die Welt „da draußen“ mit eigenen Verwaltungsaugen gesehen
Unser Held bleibt sich auch in seiner neuen Aufgabe im Bundesamt für Verfassungsschutz treu. Thomas Haldenwang, der diese exemplarische Karriere eines Berufsbürokraten der inneren Verwaltung durchlaufen hat, ist seit dem Studium fast ausschließlich mit Laufbahnfragen und Personal innerhalb des bürokratischen Apparats beschäftigt. Er trägt die Verantwortung dafür, dass die „richtigen“ Leute an die richtigen Stellen kommen; dass Beförderungen jene betreffen, die in der Kombination aus Dienstrecht, von ihm zu beurteilender, dienstlicher Eignung und Funktionserfüllung innerhalb des Apparats eine jeweils optimale Lösung darstellen.
Als Haldenwang am 15. November 2018 den wegen seiner fachlichen Expertise aus dem Amt gejagten Hans-Georg Maaßen ablöste, hatte er eine 27-jährige, lupenreine bürokratische Karriere hinter sich, die nur über einen entscheidenden Mangel verfügt: Der Innendienstorganisator hatte nie in seinem Leben irgendetwas mit Terrorabwehr oder verfassungsfeindlichen Bestrebungen zu tun. Die Welt „da draußen“ war ihm dienstlich fremd. Seine Aufgabe war es, den inneren Verwaltungsapparat zu optimieren und die Bewerber auf ihre entsprechende Tauglichkeit zu prüfen und auszusortieren.
Ganz anders sein Vorgänger, der – ebenfalls Jurist – als Leiter der „Projektgruppe Zuwanderung“ und Ministerialdirigent in der Terrorismusbekämpfung sehr genau wusste, woher die tatsächlichen Bedrohungen für die bundesdeutsche Verfassung kommen. Sah Maaßen seine Aufgabe im Amt für Verfassungsschutz noch darin, die freiheitlich-demokratische Grundordnung im Zweifel auch gegen die Übergriffigkeit des Staates zu schützen, so kehrte sich die Aufgabenstellung unter Haldenwang faktisch um. Es galt nicht länger, eine politische Idee im Ernstfall auch gegen den Staat, sondern den Staat vor der politischen Idee zu schützen.
Die Verselbständigung der Bürokratie
Berufsbürokraten wie Haldenwang entwickeln die Neigung, das System, in dem sie sich bewegen, mit dem Objekt ihres Aufgabengebiets zu verwechseln. Die Mechanisierung des Verwaltungsapparats, den sie als Räderwerk des Staates begreifen, dem sie dienen, prägt ihr ausschließliches Denken. Für Haldenwang, der von Binnenorganisationsaufgabe zu Binnenorganisationsaufgabe wechselte und dabei gemäß der Aussage von Max Weber, wonach „alle politischen Gebilde Gewaltgebilde sind“, Gewalt über Menschen ausübte, definiert der Staat die Auslegung des Grundgesetzes und nicht das Grundgesetz das Verständnis vom Staat.
Ingo Müller bezeichnet in seinem Buch die Handwerker des Rechts, die die jeweils staatlich gewünschte Rechtsdefinition der Herrschenden zu ihrer eigenen machen und über das geschriebene Gesetz stellen, als „Furchtbare Juristen“. Es scheint nur eine Frage der Zeit zu sein, bis eines Tages auch ein Buch über „Furchtbare Bürokraten“ verfasst werden wird, in dem der Staatsbedienstete beschrieben wird, dem sein Apparat der einzig zulässige Mittelpunkt des bürokratischen Universums ist. Es geht ihnen um die Macht der Struktur, des Systems. Nicht um die Macht der Vernunft und des Rechts geht es – und vor allem und keinesfalls um die Macht des Bürgers, den sie ein Leben lang nur als abzuwehrendes, fehlerhaftes Objekt betrachtet haben, welches der Bürokratie Hindernisse in den Weg legt.
Max Weber beschrieb diese Entwicklung mit diesen Worten: „Moderne Amtsbürokratien sind die naturgemäßen primären Träger dieses rein an der Macht des eigenen politischen Gebildes als solcher orientierten ‚Prestige‘-Strebens. Denn Macht des eigenen politischen Gebildes bedeutet für sie eigene Macht und eigenes machtbedingtes Prestigegefühl, Expansion der Macht nach außen aber außerdem noch für die Beamten Vermehrung der Amtsstellen und Pfründen.“
Als wollte Haldenwang den Beweis für Richtigkeit der Weber’schen Feststellung liefern, verkündete er, kaum im Amt des Behördenleiters, am 21. Dezember 2018 an, allein im kommenden Jahr erst einmal einhundert neue Stellen zu schaffen. Das mag von außen nach wenig klingen, ist jedoch in einem Verwaltungsapparat, der auf Bundes-, Länder- und Kommunalebene um jede Viertelstelle kämpft, ungeheuerlich und belegt in exemplarischer Weise die Feststellung des Soziologen und Nationalökonomen.
Unvereinbares verschwimmt zur Einheit
In dieser in das eigene System gekehrten Sicht des Thomas Haldenwang verschwimmen nicht nur die Grenzen zwischen Verfassungs- und Staatsschutz, sondern Staatsschutz wird zum gefühlten Verfassungsschutz. Artikel 1 Bundesverfassungsschutzgesetz (BVerfSchG) schreibt fest:
„Der Verfassungsschutz dient dem Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, des Bestandes und der Sicherheit des Bundes und der Länder.“
Dazu gehört maßgeblich das Recht, seine Auffassung – auch seine politische und auch eine, die im Zweifel die Überwindung des bestehenden Herrschaftssystems anstrebt – zu formulieren. Es ist das unmittelbare Recht des Bürgers, diese seine Auffassung in Wort, Bild und Ton zu publizieren und sogar dafür zu demonstrieren. Dieses Recht endet erst dort, wo der Bürger zur Erreichung seiner Bestrebungen zur Gewaltanwendung oder zum gewaltsamen Umsturz aufruft. Solange dieses nicht der Fall ist, hat der Grundgesetzstaat Bundesrepublik Deutschland es auch zu erdulden, dass es Bürger gibt, die ein anderes als das verfasste, parlamentarisch-republikanische System präferieren.
Lesen Sie in Teil 2, wie die selbstreferenzierende Bürokratie das Gemeinwesen übernimmt.