Vladimir Putin ist ein taktisch denkender Mensch. Als er seiner Armee den Einmarschbefehl in das vom Krieg zerrüttete Syrien gab, nahm er Kontakt auf zu einem Personenkreis, den er aus früheren Kontakten seines Geheimdienstes als potentiellen Partner annahm. Er wollte zu einer begrenzten Zusammenarbeit kommen, um sowohl die gegen sein Mündel Assad kämpfenden sunnitischen Aufständischen in die Zange zu nehmen, als auch gegen den Osmanen Erdogan ein Bollwerk zu haben. Und so streckte er seine Fühler aus in Richtung jener syrischen Enklave Afrin.
Afrin – das ist eine syrische Stadt mit gleichnamiger Provinz an der Südgrenze der Türkei. Im Westen grenzt sie zusätzlich an das derzeit türkische Hatay, dem früheren Alexandrette. Im Süden und Osten stehen sunnitische Milizen. Afrin selbst aber befindet sich unter Kontrolle der kurdischen YPG – es ist ein derzeit selbstverwalteter Teil des nordsyrischen Rojava, dessen Einheiten mit der kurdischen Widerstandsbewegung PKK kooperieren. Afrins Problem: Es gibt keine Landverbindung zu den anderen autonomen Kurdengebieten im Nordosten Syriens und dem Irak.
Diese Kurden, die sich im Zuge des syrischen Krieges eine Art Autonomie erkämpft hatten, schienen für Putin die idealen Partner. Was ihm offenbar nicht bewusst war: Sie sahen sich zwischenzeitlich – wie auch die PKK selbst – an anderer Stelle besser aufgehoben. Russland als Schutzmacht schien ihnen problematisch – und im Kampf gegen den Islamischen Staat wollten sie lieber an der Seite des Westens stehen. Auch noch, als Putin das Heft des syrischen Handelns in die Hand nahm.
Also stellten sie über einen Mittelsmann in Deutschland einen Kontakt her zum US-Konsulat in Hamburg. Von dort führte der Draht direkt nach Washington. Es ging um die Frage, ob die USA an ihrer Seite stünden – oder sie sich doch mit dem Russen einlassen müssten.
Wenig später lehnten die Kurden von Afrin Putins Offerte dankend ab. Keine Kooperation mit der russischen Armee – statt dessen weiter an der Seite der westlichen Anti-IS-Allianz kämpfen, für die eigene Autonomie eintreten und der russischen Hegemonie widerstehen. Moskau musste auf die kurdische Karte verzichten.
Kurdisch-türkische Beziehungen
Als dieses geschah, schien für die US-Administration die Lage noch übersichtlich und eindeutig. Es ging gegen den Islamischen Staat (IS) und darum, Russlands Ambitionen im Zaum zu halten. Die Türkei hatte sich, als es um die Bedrohung der nordsyrischen Stadt Kobane ging, den amerikanischen Wünschen unterworfen und zähneknirschend kurdische YPG-Truppen durch türkisches Territorium gegen den die Stadt besetzenden IS ziehen lassen. Zwar nutzte Erdogan mittlerweile seinen vorgeblichen Anti-IS-Kampf, um im Nordirak gegen die PKK zu bomben – doch das war für die US-Verantwortlichen immer noch mit Zudrücken beider Augen eine innertürkische Angelegenheit im Kampf gegen Terroristen. Letztlich, so die US-Erwartung, würde man den Türken kontrollieren können. Zwar waren Afrin und Rojava dem Despoten aus Ankara schon damals ein Dorn im Auge. Aber er schien mit seinen innenpolitischen Geschäften – und dem Vorwurf, sein Sohn Bilal partizipiere am Umschlag von illegal gefördertem Öl aus Syrien und dem Irak – beschäftigt genug, um als ernsthafter Akteur in der Region wahrgenommen werden zu müssen.
Es war auch kein Geheimnis, dass die Türkei enge Handelsbeziehungen zur US-gestützten Autonomieregion der Barzani-Sippe im Norden des Irak unterhielt. Die irakischen Kurden hatten sich zu einem bedeutenden Wirtschaftspartner der Türken entwickelt. Insofern schien es die politische Vernunft einem NATO-Partner Erdogan zu gebieten, die syrischen Kurden wenn nicht als Verbündete, so zumindest jedoch als derzeit noch hilfreiche Partner im Kräftespiel zu begreifen. Was Erdogan jedoch nicht davon abhielt, auf türkischer Seite eine Blockade gegen Afrin zu verhängen.
Amerikanische Sorgen
Zwischenzeitlich hat sich die Situation grundlegend geändert. Spätestens nach Erdogans herbeigeputschtem Staatsstreich existiert die Kooperation der Türkei mit dem Westen nur noch auf dem Papier. Erdogan duldet die Anwesenheit der NATO, weil er noch mehr denn je auf deren Geld angewiesen ist. In seiner langfristigen Perspektive allerdings spielt die NATO keine Rolle mehr – weshalb er selbst die Fühler erfolgreich gen Moskau ausstreckt. Nun gerät Afrin in Gefahr, in die Zange genommen zu werden. Aus Erdogan-nahen Kreisen ist zu hören, die beiden Despoten hätten sich verständigt, dass Putin in Sachen Assad-Unterstützung freie Hand bekomme und Erdogan im Gegenzug keine russische Einmischung in Sachen Kurden zu befürchten habe. Unwahrscheinlich ist das nicht, denn beide eint das Interesse, ihren Einfluss in Syrien auszudehnen – und über die geplante russische Erdgas-Pipeline Turkish Stream gemeinsam Geld zu verdienen.
Schon vor der neuen Annäherung zwischen Moskau und Ankara hatte Erdogan die definitive Entscheidung getroffen, einen wie auch immer gearteten Kurdenstaat an seiner Südgrenze mit allen Mitteln zu verhindern. Der bevorstehende Zusammenschluss des östlichen Rojava mit dem im türkischen Winkel gelegenen Afrin veranlasste ihn, am 24. August die kurz vor der Übernahme durch die YPG stehende Grenzstadt Jarabulus zu besetzen. Damit hielt er sich den Korridor frei in das Innere Syriens, wo von ihm unterstützte sunnitische Milizen im Rahmen der türkischen Militäroffensive „Schutzschild Euphrat“ den Weg nach Süden sichern. Der Zusammenschluss der syrischen Kurdengebiete entlang der türkischen Südgrenze war damit erst einmal verhindert.
Am 20. Oktober leitete die türkische Luftwaffe massive Angriffe gegen die Kurden in Afrin ein. Die Türkei brüstete sich, in einer ersten Welle über 200 kurdische Kämpfer getötet zu haben. Die Kurden selbst räumten zehn Tote ein. Assads Syrer sprachen von einem „Massaker“ mit 150 Opfern – vorwiegend Zivilisten. Erdogans Ziel ist offenkundig. Erst soll Afrin verschwinden und unter türkischen Einfluss geraten – dann soll es gegen die Kurden in Rojava gehen.
Die USA sehen diese Entwicklung mit großer Sorge. Sie sind Verbündete der Kurden und stehen gegenüber Afrin im Wort. Die USA sind aber offiziell immer noch auch Verbündete der Türkei, die NATO-Flüge aus der Basis Incirlik gestattet. Aus Washington ging deshalb die dringende Mahnung an beide Seiten, sich auf die Bekämpfung des IS zu konzentrieren. Beeindruckt allerdings hat dieses Erdogan nicht – seine Militäraktionen in Syrien und im Irak sind längst nicht mehr mit der Allianz abgestimmt. Die Türkei kämpft auf eigene Rechnung.
Die USA reagieren auf den Größenwahn des Türken mit einer Neuauflage der Fabel vom Hasen und vom Igel. Wann immer Erdogan vollmundig die bevorstehende Initiative türkischer Militäraktionen ankündigt – die US-Allianz reagiert umgehend und startet die Aktion ohne ihn. Dafür stehen die ihm verhassten Kurden regelmäßig an vorderster Front. Das war in irakischen Mosul so – und es ist jetzt in der von Kurden geführten Offensive gegen die syrische IS-„Hauptstadt“ Raqqa so. Erdogan ist isoliert und wird ohne diplomatische Demontage und Konfrontation zwischen den NATO-Partnern zum Papiertiger degradiert.
Da helfen auch die immer umgehend der PKK angelasteten Anschläge in der Türkei nicht mehr. Ohne es laut zu sagen, hat sich bei den Verbündeten die Auffassung durchgesetzt, dass diese Anschläge ohne aktive Mitwirkung türkischer Kräfte kaum hätten stattfinden können. Der unmittelbar nach der unangekündigten Verhaftung des HDP-Chef Selahattin Demirtash ausgerechnet auf dessen ersten Haftort erfolgte Anschlag wurde kaum, dass die Opfer geborgen waren, der PKK angelastet. Dann bekannte sich der IS in bekannter Trittbrettmanier. Logistisch hätte keine dieser beiden Organisationen in der von türkischen Sicherheitskräften beherrschten Kurdenstadt Diyarbakir derart schnell und gezielt reagieren können. Also zauberte die Türkei wieder einmal eine längst verschwundene PKK-Absplitterung hervor, die als TAK völlig unerwartet nach jahrelanger Abwesenheit ausgerechnet dann aktiv wurde, als Erdogan Kurdenanschläge zur Begründung seines Vernichtungsfeldzuges brauchte. So darf es niemanden verwundern, wenn diese Phantom-Terroristen mittlerweile unter der Bezeichnung MITAK verhöhnt wird. Der MIT ist der türkische Geheimdienst.
Auf dem Papier eine vorbildliche Demokratie
Im Irak betrachtete Erdogan die Autonome Region der Barzani-Kurden bislang als eine Art Verbündete. Die Beziehungen zwischen PKK und den irakischen Kurden gelten als angespannt – um so mehr, als die Befreiung vom IS überrollter, nordirakischer Kurdendörfer weitgehend durch PKK-nahe Verbände erfolgte. Doch die Barzani-Sippe, der von Kritikern aus den eigenen Reihen nicht zu Unrecht Nepotismus vorgeworfen wird, hat zumindest auf dem Papier im Norden des Irak den demokratischsten Staat in der Region aufgebaut. In der erstmals 1992 zusammengetretenen, aus 111 für vier Jahre gewählten Abgeordneten bestehenden Nationalversammlung sitzen derzeit die Vertreter von 16 Parteien und Bündnissen. Die Verfassung schreibt vor, dass mindestens 30 Prozent der Sitze von Frauen besetzt werden müssen – für die islam-machoistisch geprägten Nachbarländer mehr als unvorstellbar. Auch sind 11 Sitze von Minderheiten zu besetzen, weshalb assyrische und aramäische Christen, Jeziden und Turkmenen sich parlamentarisches Gehör verschaffen können. Das könnte vorbildlich sein für eine Neuordnung der Region und die Einrichtung künftiger Staatsmodelle. Doch die Barzani empfinden Demokratie zunehmend nur dann als hilfreich, solange sie ihre eigene Herrschaft nicht gefährdet. Von einem freien Spiel der Kräfte kann in der Autonomen Region nicht die Rede sein, weshalb das Parlament seit geraumer Zeit nicht mehr tagt. Präsident Mahsud Barzani, der laut Verfassung längst nicht mehr im Amt sein dürfte, verweigert den Rückzug. Zwischen Verfassungsanspruch und Wirklichkeit klafft eine bedeutende Lücke.
Zerstritten in die Unabhängigkeit?
Bislang galt in Heréma Kurdistané – so die Eigenbezeichnung der Autonomen Region – der Grundsatz: Die staatliche Unabhängigkeit nie vergessen – aber sie nicht allzu energisch einfordern. Da die Kurden sich inmitten iranischer, arabischer und türkischer Interessen befinden, sind sie zwingend auf die Unterstützung der Amerikaner angewiesen. Die USA sind die eigentlichen Garanten der Autonomie – nicht aber der Separation – als Teil eines Deals zur Beseitigung des irakischen Diktators Saddam Hussein. Die USA hängen nach wie vor der Vorstellung an, dass staatliche Grenzen nicht verändert werden dürfen. An einem Flickenteppich aus unregierbaren Klein- und Kleinststaaten hat Washington kein Interesse. Deshalb und in der kurdischen Hoffnung, das Öl der Region Kurdistan über die Türkei ohne irakischen Zwischenhandel auf den Weltmarkt zu bringen, kam es in der Vergangenheit zu einer Annäherung zwischen irakischen Kurden und Türken. Die schiitisch geführte Zentralregierung in Bagdad beobachtete diese Entwicklung mit Sorge. Sie besteht auf ihrem Anteil am Ölreichtum des Nordens – und ist deshalb vehement sowohl gegen jede türkische Präsens im Irak wie gegen die Eigenstaatlichkeit der Barzani-Kurden.
Für Barzani galt es seit je, einen Modus vivendi des Überlebens zu finden. Es war eine kurdische Kavallerie-Einheit in türkischen Diensten, die Masud Barzanis Vater Mustafa und dessen später in Mosul erhängten Bruder an die Türkei lieferten. Es war der irakische Usurpator Abdal Karim Qasim, der nach einem Zerwürfnis mit Mustafa Barzani über 1.200 kurdische Dörfer bombardieren und niederbrennen ließ. Es waren schiitische Perser, die Barzanis Kurden mehrmals verrieten – zuletzt im Zuge des ersten Golfkriegs. Es war der arabische Sunnit Saddam Hussein, der mit Giftgas die Bevölkerung kurdischer Dörfer vernichten ließ.
In einer solchen Situation hängt man sein Fähnchen in den Wind – und der weht im Irak immer noch aus Richtung Washington. Das Arrangement mit den Türken als Mitglied der NATO kam den USA entgegen. Die schiitische Zentralregierung des Irak ist alles andere als gefestigt – der schiitisch-iranische Einfluss nicht zu unterschätzen. Da schien die wirtschaftliche Anbindung von Heréma Kurdistané an Ankara ein zweites Standbein zum dauerhaften Einfluss in der Region zu sein.
Das allerdings verschärfte die Diskrepanzen zwischen den Kurden von PKK und YPG und der Regierung in Arbil. Die Barzani warfen der PKK noch Anfang des Jahres vor, mit ihrem in den Irak exportierten Kampf gegen die Türken die Unabhängigkeit der irakischen Kurden zu gefährden. Die PKK wiederum wirft Barzani Verrat an der kurdischen Sache vor. Die mehr als unübersichtliche Gemengelage in der Region brachte es gleichwohl mit sich, dass Peshmerga und Freie Kurden bei passender Gelegenheit auch gemeinsam agierten, wenn es gegen die Islamfundamentalisten ging. Von einer gemeinsamen kurdischen Linie allerdings war und ist man weit entfernt.
Das ewige Dilemma der Kurden
Daran allerdings könnte sich gegenwärtig etwas ändern. Zum einen ist Heréma Kurdistané wirtschaftlich bei weitem nicht so erfolgreich, wie es sein müsste um als unabhängiger Staat zu agieren. Ganz im Gegenteil ist die Attraktivität des Landes gerade für junge Kurden trotz erheblicher Zuwendungen aus dem Ausland ständig gesunken – der Blick richtet sich auf das vorgebliche Schlaraffenland Europa.
Der bisherige Erfolg der syrisch-kurdischen YPG hat darüber hinaus die emotionale Nähe der irakischen Kurden zu den Nachbarn in der Osttürkei und Syrien gestärkt. Die Erkenntnis, dass eine kurdische Eigenstaatlichkeit bislang maßgeblich auch an der Unfähigkeit der kurdischen Sippen zu einer gemeinsamen Staatsidee gescheitert ist, wächst ebenso wie Überzeugung, dass die gegenwärtigen Verwerfungen zwischen Bosporus und Arabischem Golf vielleicht die letzte Chance sein können, einen kurdischen Nationalstaat zu schaffen.
Masud Barzani unternahm deshalb bereits Anfang des Jahres den Versuch, die Sykes-Picot-Ordnung für erledigt zu erklären. Darin ist er sich spätestens seit Ende September auch mit dem türkischen Despoten einig. Dessen jetzt erhobener Anspruch, das frühere Vilayet Mosul – und damit Heréma Kurdistané – in sein künftiges Großosmanien einzugliedern, bewegte nun Masuds Neffen Necirwan, der gleichzeitig Ministerpräsident der Autonomen Region ist, dazu, die anstehende Rückeroberung Mosuls als Signal für die Ausrufung eines unabhängigen Kurdistans zu deklarieren. Einvernehmlich mit der irakischen Zentralregierung soll die Separation erfolgen.
Das gnadenlose Vorgehen Erdogans gegen die Kurden – jüngst mit der Verhaftung der führenden HDP-Politiker auf die Spitze getrieben – wird den kurdischen Kampf nun auch zurück in die Türkei tragen. Die sich längst vom Marxismus abgewandte PKK hat alle demokratischen Kräfte der Türkei zum gemeinsamen Kampf aufgerufen. Vor allem junge Kurden zwischem Schwarzem Meer und Schatt alArab radikalisieren sich, verlieren ihre Glauben an eine diplomatische Lösung. Die Barzanis spüren den Druck von vielen Seiten – nicht nur ihr Ruf nach einem kurdischen Nationalsstaat wird deshalb immer lauter.
Zu erwartende Widerstände
Noch ist das Wortgeklingel und noch deutet sich nicht an, wie die untereinander zerstrittenen Kurden tatsächlich das Gewicht entwickeln wollen, auf der Weltbühne als einheitsstaatliche Nation wahrgenommen zu werden. Doch den untereinander zerstrittenen Kurden scheint zunehmend mehr bewusst zu werden, dass ihre bis in die Gegenwart wirkende Stammesstruktur letztlich nur ihren Gegnern dient.
Doch die Irrationalität Erdogan‘schen Handelns befördert nicht nur den Widerstandswillen der Kurden – sie trägt auch zusehends dazu bei, dass die langjährigen Verbündeten in Washington und den europäischen Hauptstädten sich vom türkischen Despoten abwenden. Der türkische EU-Beitritt hat sich ohnehin erledigt: Spätestens die laut deklarierten Ansprüche des Erdoganischen Reichs, die der kleinasiatischen Küste vorgelagerten griechischen Inseln und Makedonien zu „repatriieren“, stellen sicher, dass jeglicher EU-Aufnahmeantrag der Türkei am griechischen Veto scheitern wird.
Wenn Lausanne seine Gültigkeit verliert …
Doch die Neuordnung des Nahen Osten wird auch ohne türkische Großmachtpläne immer wahrscheinlicher. Mit demselben Recht, mit dem Erdogan den Vertrag von Lausanne in Abrede stellt, können nun auch Griechen die Rückgabe der ihnen seinerzeit genommen Heimstatt in Kleinasien einfordern. Wenn Lausanne keine Gültigkeit mehr hat, dann steht dem zuvor geltenden Vertragsanspruch der Kurden auf Eigenstaatlichkeit in der heutigen Türkei keine internationale Übereinkunft mehr im Weg. Wenn sogar alle Verträge des 20. Jahrhunderts ihre Relevanz verlieren – warum sollen dann die muslimischen Eroberungen des Spätmittelalters noch von Bedeutung sein? Konstantinopel war immer eine christliche Stadt – bis sie von turkmenisch geführten Truppen aus den Regionen Zentralasiens überrannt wurde. Ein international verbindliches Vertragswerk, das diese Eroberung anerkennt, hat es mit Ausnahme des Vertrags von Lausanne nie gegeben.
In der Region zwischen Schwarzem Meer und Golf glimmen derzeit zahllose Lunten – und Erdogan zündet fast täglich eine neue. Es scheint kaum jemanden zu geben, der ein Interesse daran hat, sie auszutreten. Für Washington stellt sich die Situation in besonderem Maße chaotisch dar. Der bisherige Anker in der Region, eine laizistische Türkei, bricht unter Erdogan weg. Die Sicherheitsgarantien für die Kurden von Afrin bis Arbil können die Amerikaner einmal mehr zum Verräter an Verbündeten werden lassen, wenn es einem neuen US-Präsidenten so gefällt. Heute schon gleicht das antike Assyrien-Babylon dem Zentraleuropa im 17. Jahrhundert. Damals dauerten die Konflikte zwischen Separatisten, Nationalisten und intervenierenden Mächten, zwischen Glaubenskriegern unterschiedlicher Auslegungen , Zentralstaatsverfechtern und Warlords von 1568 bis 1648. Die unterschiedlichen Kriege, die im Zuge dieser Verwerfungen zwischen 1618 und 1648 maßgeblich auf deutschem Boden ausgefochten wurden und ein zerstörtes, entvölkertes Land hinterließen, stehen heute als 30-jähriger Krieg in den Geschichtsbüchern.
In Europa schuf der über achtzig Jahre dauernde Konflikt eine vorübergehend stabile Neuordnung zu Lasten des Heiligen Römischen Reichs. Wer am Ende des Krieges im Nahen Osten als Verlierer und wer als Gewinner dastehen wird, mag nicht einmal spekuliert werden. An einem allerdings führt nach Stand der Dinge kaum ein Weg vorbei: Die von Briten und Franzosen aufgezwungene Staatenordnung wird am Ende der Konflikte der Vergangenheit angehören. Je eher sich NATO, EU und USA darauf einstellen, desto eher werden sie in der Lage sein, bei der Neuordnung zumindest einen Teil ihrer elementaren Interessen zu bewahren. Dazu gehört es auch sich zu entscheiden, wer künftig zu den Partnern gehören soll – und auf wen man besser verzichtet. Dann gilt es, den notwendigen Druck aufzubauen, um diese Entscheidung mit aller Konsequenz durchzusetzen. Mit dem ständigen Äußern von Besorgnis und Herumlavieren wird es dann nicht mehr getan sein. Und mit Schönreden schon gar nicht – weder nach innen noch nach außen.
Partner und Nichtpartner
Eine Türkei auf national-islamischen Abwegen wird nicht zu den Partnern gehören können. Ein Sammelsurium von kurdischen Kleinstaaten jedoch auch nicht. Ein schiitischer Südirak stellt aufgrund seiner Nähe zum Iran ein nachhaltiges Problem dar. Die Alawiten um Assad haben ihre Entscheidung getroffen – es deutet einiges darauf hin, dass ein Moskau-abhängiger Alawitenstaat künftig zu den Mittelmeeranrainern gehören wird. Und die sunnitischen Araber, die im Irak und in Syrien derzeit die perspektivisch schlechtestens Karten haben, werden kaum akzeptieren, auf die wirtschaftlich uninteressanten Halbsteppen zwischen den Ölfeldern und Wasserläufen verdrängt zu werden.
Die für alle Seiten beste Lösung wäre immer noch ein föderalistisch aufgebautes, demokratisches Assyrien von Aleppo bis Basra, in dem die ungleiche Verteilung der Ressourcen innerstaatlich ausgeglichen und so die ethnischen und religiösen Gegnerschaften befriedet würden. Doch von einer solchen Vernunftlösung sind alle Beteiligten Äonen entfernt.
Womit wir dann wieder beim 30-jährigen Krieg sind. Damals kam es erst zum Friedensschluss, als das verheerte Land nichts mehr hergab und der Krieg die Kosten nicht mehr rechtfertigte. Die damaligen Sieger waren die westfriesischen Separatisten, die unter Verzicht auf ihr flandrisches Siedlungsgebiet in den Niederlanden einen autonomen Staat bekamen. Und die beiden damaligen Großmächte Frankreich und Schweden, die sich jeweils einen hübschen Kuchen aus den deutschen Trümmern herausschnitten und damit zumindest im Südwesten des verschlissenen Reichs den Grundstein für lang anhaltenden Zwist legten.
Denken wir den sogenannten Westfälischen Frieden für Assyrien-Babylon irgendwann in ferner Zukunft, dann gibt es ein unabhängiges Klein-Kurdistan, ein paar Häppchen für die Türkei sowie säuberlich getrennte Einflusszonen der Russen und Amerikaner. Und eine kurze Atempause, in der sich die geschwächten Akteure neu formieren, um in die nächste Runde einzusteigen.
Da sich aber Geschichte nicht wiederholt, ist das nur ein Gedankenspiel. Und vielleicht begreift irgendwann ja doch der eine oder andere Teilnehmer, dass zwar die menschliche Unvernunft in der Regel über die menschliche Vernunft zu obsiegen weiß – es aber durchaus vernünftiger für sich selbst und für künftige Generationen wäre, über eigene Schatten zu springen. Doch zugegeben: Das ist angesichts des zielsicher eingeschlagenen Weges in die Katastrophe tatsächlich mehr als unrealistisch.