Tichys Einblick
Syrien und Libyen aus dem Blick verloren

Trotz Corona – die Konflikte am Mittelmeer gehen ungerührt weiter

Erinnern Sie, liebe Leser, sich noch an den vollmundig verkündeten Waffenstillstand zwischen Russen und Türken für Syrien? Oder die in Berlin verkündete Waffenruhe für Libyen? Die Kämpfe dort gehen unvermindert weiter.

imago Images/ZUMA

Wie schnell eine Pandemie den öffentlichen Fokus auf nur noch ein Thema richten kann, erleben wir gegenwärtig hautnah in Deutschland. Doch wenn alle nur noch auf eines schauen, dann bietet dieses jenen eine perfekte Chance, deren Tun andernorts am liebsten unbeobachtet bleibt – oder einfach nur ungestört seinem Ziel zustrebt.

Waffenruhe in Syrien? Wo, bitte?

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Erinnern Sie, liebe Leser, sich noch an den vollmundig verkündeten Waffenstillstand zwischen Russen und Türken für Syrien? Die Kämpfe dort gehen unvermindert weiter. In der Idlib-Provinz kämpfen Syrer und radikalislamische Rebellen weiter um jeden Quadratmeter. So nahmen die Assad-Kämpfer allein am vergangenen Montag den noch von „Rebellen“ gehaltenen Süden der Provinz massiv mit Artillerie und Raketen unter Beschuss. Am Dienstag folgten weitere Artillerieattacken auf die Dörfer und Stellung der Rebellen. Unbegründet ist das nicht: Die von der Türkei unterstützten, islamischen Banden hat die Verabredung zwischen Putin und Erdogan nie interessiert. Sie stören die vereinbarten, gemeinsamen Kontrollen der wichtigen Schnellstraße M4, zerstören syrisches Gerät in jenen Regionen, die Assad Soldaten vor dem Waffenstillstand erobert hatten, auch dann, wenn sich die Türkei diese Woche darüber freut, dass es nun doch zur zweiten – wohlbemerkt: zweiten – gemeinsamen Patrouille entlang der M4 im Rahmen der russisch-türkischen Vereinbarung gekommen sei. Allerdings wird auch diese Abrede durch Erdogans Verbündete torpediert: In der Nacht auf Mittwoch sprengten sie nahe der Stadt Saraqib an der Gabelung zwischen Aleppo, Damaskus und Latakia eine Brücke mit dem erklärten Ziel, sie für die Russen – und damit für die syrischen Assad-Truppen – unbrauchbar zu machen.

Selbst der russische Luftwaffenstützpunkt Hmeimim ist nicht sicher: Russische Abwehreinheiten meldeten am Montag den Abschuss einer „Selbstmord-Drohne“ – Herkunft unbekannt.

Erdogan bleibt seiner orientalischen Vertragsauslegung treu, hat seit dem Abkommen von Moskau weitere, bedeutende Truppenteile in die Provinz verlegt und errichtet neue Stützpunkte. Wer gemeint hatte, er würde nach den Gesprächen mit Putin und dem Druck aus der NATO auf seinen territorialen Expansionismus verzichten, sieht sich getäuscht. Und das gilt nicht nur in Idlib. Voller Stolz vermeldet das türkische Verteidigungsministerium am Dienstag die Ermordung von sechs kurdischen YPG-Mitgliedern, die angeblich den Versuch unternommen hätten, die von der Türkei widerrechtlich besetzte Zone des syrisch-kurdischen Rojava zu „infiltrieren“. Sie seien bei ihrem Versuch, die „Peace Spring Operation“ zu stören, getötet worden. „Peace Spring“, Friedensquelle – so hat Erdogan in seinem grenzenlosen Zynismus sein Ziel genannt, sich im Norden Syriens einen rund 30 Kilometer breiten Landstreifen einzuverleiben. Um diesen zu sichern, sind türkische Attacken auf noch nicht besetzte Dörfer in der Region Afrin ebenso an der Tagesordnung wie jüngst auf die Stadt Ain Issa, bei der angeblich drei Mitglieder der Syrian Democratic Forces liquidiert wurden.

All das war Grund genug für Russlands Verteidigungsminister Sergej Shoigu, am Montag zu einem „Arbeitsbesuch“ nach Damaskus zu fliegen. Es gilt, das weitere Vorgehen der gegen die Türken und Islamkämpfer verbündeten Kräfte abzusprechen.

Nach wie vor gilt: Egal, was die ausländischen Konfliktparteien auch vereinbaren: Dieser Krieg wird erst enden, wenn Assad die Kontrolle über das gesamte Staatsgebiet zurückerobert hat. Die immer noch mögliche, unmittelbare Konfrontation zwischen Türken und Russen ist insofern zwar aufgeschoben – aufgehoben ist sie nicht.

Die Berliner Waffenruhe – die, bitte, was?

Doch die Vereinbarungen an den Verhandlungstischen andernorts erweisen sich nicht nur in Syrien als Makulatur. Wer erinnert sich noch an die großspurig einberufene Berliner Konferenz in Sachen Libyen? Auch dort wurde eine sofortige Waffenruhe vereinbart. Zugestimmt angeblich durch jenen General Haftar, der sich allen UN-Anerkennungen der auf nicht einmal mehr zehn Prozent des Landes geschrumpften „Regierung“ seines Widersachers Saradj zum Trotz, angesichts der angeblichen Waffenruhe weiter darum bemüht, das Zentrum der alten Hauptstadt Tripoli unter seine Kontrolle zu bringen.

Längst hat sich Haftar der stillen Unterstützung aus Rom und Paris versichert. Denn mehr als jemals zuvor haben die Europäer gegenwärtig andere Sorgen, als den Dauerkonflikt in Nordafrika in endlose Länge zu ziehen. Auch setzt sich in den europäischen Hauptstädten langsam die Erkenntnis durch, dass der Sieger in diesem Kampf am Ende Haftar heißen wird – auch deshalb, weil Haftar mittlerweile der einzige ist, der die islamischen Terroristen im Süden des Landes zur Raison bringen kann. Dabei ist der im Westen immer noch als „Warlord“ bezeichnete US-Bürger längst nicht nur als Kriegsherr unterwegs. In der Hafenstadt und gegenwärtigen Haftar-Hauptstadt Benghazi werden die kriegsbedingten Zerstörungen Stück für Stück beseitigt, die Infrastrutur wieder funktionsfähig gemacht. Mit dem international tätigen, ägyptischen Energie- und Telekommunikationskonzern Elsewedy Electric hat Haftar als „libysche Regierung“ dieser Tage einen langfristig orientierten Vertrag zur Versorgung des Noch-Bürgerkriegslandes geschlossen.

Corona lähmt Europa – nicht internationale Konflikte

So bleibt festzustellen: Corona mag zwar Europa und zunehmend mehr auch andere Staaten nicht nur nach innen, sondern auch international lähmen – auf die Konflikte, die noch vor wenigen Wochen die Schlagzeilen und Selbstlobpreisungen mancher Politiker prägten, hat die Pandemie keine Auswirkungen. Ganz im Gegenteil könnte die Selbstbeschäftigung mancher Akteure am Rande sogar dafür Sorge tragen, dass zumindest der Libyen-Konflikt langsam auf sein Ende zuläuft. Auch wenn darüber der von Berlin präferierte Saradj am Ende auf der Strecke bleibt.

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