Tichys Einblick
Türkei

Terroranschlag in Istanbul: Die üblichen Verdächtigen

Der Verdacht lässt sich nicht ausräumen, dass hinter dem Terroranschlag von Istanbul ganz andere Kräfte stehen als jene, auf die nun offiziell gezeigt wird. Wieder einmal bleibt der fade Nachgeschmack, dass Erdogan selbst seine Finger im Spiel haben könnte. Es passt einfach alles zu gut – wie so oft, wenn es eng für ihn wurde.

Krankenwagen und Polizei treffen nach der Explosion in Istanbul am Tatort ein. Bei einer Explosion in einem belebten Viertel im Zentrum Istanbuls sind mindestens sechs Menschen getötet und 81 verletzt worden

IMAGO / ZUMA Wire

Die Szene ist jedem Cineasten hinlänglich bekannt. Als nach der Schießerei in Rick’s Café Américain Polizeichef Renault am Ort des Geschehens im (fiktiven) Casablanca eintrifft, fällt der berühmte Satz: „Verhaften Sie die üblichen Verdächtigen!“ – Ähnlich stellt sich die Situation nach einem Terroranschlag auf eine beliebte Einkaufsstraße in Istanbul am Wochenende dar. Neben dem Entsetzen über die Tat bleibt wieder einmal der fade Nachgeschmack, dass Erdogan selbst seine Finger im Spiel haben könnte.

Der Terroranschlag

Jedes Herumgerede ist überflüssig: Für Attentate wie jenes, das am Sonntag auf der belebten Istanbuler Einkaufsstraße Istiklal nach Behördenangaben mindestens sechs Menschen in den Tod riss und über weitere 80 Personen verletzte, gibt es keine Entschuldigung. Das Mitgefühl ist bei den Opfern und deren Angehörigen, der Verstand sucht nach Erklärungen und die Seele hofft, dass die Verantwortlichen möglichst bald zur Rechenschaft gezogen werden. Und doch bleiben Zweifel. Zweifel, die jedes Attentat begleiten, bei dem die türkischen Stellen fast im gleichen Atemzug die Schuldigen zu kennen meinen und entsprechende Strafmaßnahmen ankündigen.

Ja, es kann so sein, wie es die türkischen Behörden darstellen. Dass eine Frau aus Syrien auf der belebten Einkaufsstraße ein Paket abstellte und anschließend den Versuch unternahm, sich nach Griechenland abzusetzen. Dass diese Frau von den türkischen Sicherheitskräften abgefangen werden konnte und inhaftiert ist. Dass die kurdische Oppositionsgruppe der PKK, die aus dem Nordirak heraus agiert, deshalb deren Ermordung angeordnet habe, um ihre Festnahme zu verhindern, wie die Polizei mit dem Mitschnitt eines entsprechenden Telefonats belegen könne. Dass deshalb die PKK und die ihr nahestehende syrische Kurdenmiliz YPG die Verantwortung für den Anschlag tragen. Es kann so sein.

Die üblichen Verdächtigen

Doch es kommen auch Zweifel auf. Nicht nur, dass bei den Anschlägen in der Vergangenheit die zuständigen Ministerien stets sofort wussten, wer hinter der Terrortat gestanden haben soll – es sind vor allem jene niemals aufgeklärten Ungereimtheiten rund um den angeblichen Putsch, bei dem nach Auswertung des damaligen Geschehens offenkundig ist, dass der türkische Geheimdienst seine Finger mit im Spiel hatte. Oder jene Anschläge in der Südtürkei, die ausschließlich vor allem kurdische Jugendliche traf und dennoch gezielt der PKK angelastet wurden.

Stets, wenn dem Präsidialdiktator Recep Tayyip Erdogan das Wasser bis zum Hals stand oder er militärische Spezialoperationen gegen die Kurden vorbereiten wollte, kam es in der Türkei zu Anschlägen oder, wie im Falle des angeblichen Putsches, zu einem vorgeblichen Umsturzversuch. Jedes Mal waren die Schuldigen schnell benannt, ohne dass es irgendwelche Bekennerschreiben oder sonstige Selbstbeschuldigungen gegeben hätte. Die Anschläge dienten in aller Regel dem Ziel, anschließend die kurdische Minderheit im Land weiter zu unterdrücken.

Im Osten der Türkei, dort, wo die Kurden traditionell zuhause sind und ihnen nach dem Ersten Weltkrieg ein eigenes Staatsgebiet zugestanden wurde, folgten auf die Anschläge regelmäßig militärische Aktionen sowie die Absetzung und Inhaftierung gewählter kurdischer Bürgervertreter bis hin zur Zerstörung von Häusern und Wohnvierteln. Bei dem vorgeblichen Putschversuch war es die islamische Gülen-Bewegung, die Erdogan mit an die Macht verholfen hatte und deren Einfluss ihr zu groß geworden war, welche nun als angebliche Terrororganisation radikal bekämpft wurde.

Zahlreiche Opfer der „Strafmaßnahmen“ schmoren heute noch unbeachtet in den Kerkern des türkischen Regimes. Immer wieder dienen die Attentate als Begründung, Massenverhaftungen von unliebsamen Personen zu begründen, deren Verbleib zumeist schnell von der Agenda des internationalen Interesses verschwindet.

Der Finger zeigt auf „die Kurden“

Im aktuellen Fall zeigte der türkische Staatsfinger zuerst auf die PKK. Diese linksanarchistische Gruppe, einst als Kurdische Arbeiterpartei gegründet, hat längst an Einfluss und Schlagkraft verloren. Durch den Druck der Türkei mussten sich deren Kämpfer in die Berge im Nordirak zurückziehen, wo sie regelmäßig von türkischen Luftangriffen unter Feuer genommen werden. Nicht auszuschließen, dass die dortigen Kämpfer auf Rache sinnen – aber verfügt die PKK überhaupt noch über die Mittel, in Istanbul einen Bombenanschlag zu organisieren, bei dem nach Behördenangaben TNT zum Einsatz kam? Und selbst wenn: In der Vergangenheit hatte sich die PKK stets darum bemüht, ihren Kampf nicht gegen Zivilisten zu führen. Ihr Gegner ist die türkische Administration und deren Sicherheitsorgane – nicht der Türke, der am Sonntag zum Einkaufsbummel geht.

Schnell wanderte vielleicht auch deshalb der türkische Anklagefinger weiter. Nur wenig später, nachdem die PKK als Schuldiger ausgemacht gewesen war, rückte er ein wenig Richtung Westen. Nun also soll es die syrische YPG sein, die angeblich das Attentat geplant hat. Bei der YPG (Yekîneyên Parastina Gel) handelt es sich um die Selbstverteidigungskräfte der Kurden im Norden Syriens. Sie stellt die Kerntruppe der SDF (Syrian Democratic Forces), in denen sie gemeinsam mit ortsansässigen Arabern vor allem gegen die radikalislamischen Milizen des „Islamischen Staat“ und der Hay’at Tahrir al-Sham (HTS – Organization for the Liberation of the Levant) vorgeht.

Erdogans Nähe zu Radikalmuslimen

Spätestens mit dem völkerrechtswidrigen Einmarsch der Türkei in die Afrin-Region und Teile Nordsyriens stehen SDF und YPG im direkten Kampf auch mit der Türkei, in deren Gefolge zumindest HTS-Milizionäre die Vertreibung der ortsansässigen Kurden betreiben. Auch eine unmittelbare Nähe zum international als Terrororganisation geächteten Islamischen Staat wird der Türkei spätestens unterstellt, seitdem das Oppositionsblatt Cumhuriyet 2015 offenlegte, wie die Türkei die radikalislamischen Milizen in Syrien sogar mit Waffen unterstützte.

Prompt nun meldeten die türkischen Behörden am Montag, dass bereits 45 „Verdächtige“ festgenommen worden seien. Angeblich habe die verhaftete Syrerin zugegeben, in Syrien von „kurdischen Milizen“ ausgebildet worden zu sein. In die Türkei eingereist sei sie über Afrin – ausgerechnet! Denn dort kommt es nach wie vor zu ständigen Kämpfen zwischen YPG auf der einen, Türken und HTS-Milizen auf der anderen Seite. Die einstmals letzte, friedliche Region im Nordwesten der Türkei steht aus genau diesen Gründen unter massiver Kontrolle durch die Türkei – ausgerechnet dort also gelingt es der Attentäterin, heimlich in die Türkei einzureisen.

Alles passt zu gut zusammen

Wie auch bei den früheren Anschlägen passt hier wieder alles viel zu gut zusammen. Längst schon plant Erdogan den großen Schlag gegen die kurdischen Selbstverteidigungseinheiten im Norden des Nachbarlands. Nichts fürchtet der Nationalislamist mehr als einen weitgehend unabhängigen Kurdenstaat an der türkischen Südgrenze. Bereits das Autonomiegebiet im Nordosten des Irak um die Stadt Erbil ist ihm ein ständiger Dorn im Auge.

Die Aufstände im benachbarten Iran, die einen Schwerpunkt in den dort nordwestlich gelegenen Kurdengebieten haben, verstärken in den Augen Erdogans die Gefahr eines unabhängigen, kurdischen Nationalstaats um ein Weiteres. Rojava, das längst autonome Südwestkurdistan im Norden Syriens, betrachtet der Türke als unmittelbare Gefahr umso mehr, weil von hier aus mehr als nur eine psychologische Wirkung auf die unterdrückten Kurden Ostanatoliens ausgehen kann.

Deshalb wollte Erdogan schon seit geraumer Zeit gegen die YPG und die syrischen Kurden vorgehen. Seine Vorstellung: In deren bisherigen Siedlungsgebieten aus Syrien geflüchtete Araber und Turkmenen ansiedeln, welche dann unter der Kontrolle Ankaras die Lösung aus dem syrischen Staat betreiben und mittelfristig den Anschluss an die künftige Großtürkei suchen. Nicht umsonst ist Erdogan stets im Austausch mit dem Putin – „Von Russland lernen, heißt siegen lernen“, lautete eine der Propagandaparolen der SED-PdL. Erdogan hat sie sich zu Herzen genommen und lernt auch aus Russlands Fehlern.

Doch zu seinem Leidwesen haben ihm die USA einen Riegel vor seine imperialen Träume geschoben. Die Amerikaner, die ohnehin von ständigen Zweifeln an der Bündnistreue des Nato-Mitglieds Türkei geplagt sind, arbeiten im Irak und in Syrien mit den kurdischen Milizen eng und vertrauensvoll zusammen. Die YPG stellte gleichsam die Bodeneinheiten, die im Kampf der internationalen Koalition gegen den Islamischen Staat die wichtigsten Aufgaben übernommen hatten. Auch kontrollieren sie auf ihrem Territorium ein Gefängnis, in dem vor allem IS-Terroristen und deren Angehörige gefangen sind – Kämpfer, die Erdogan gut gebrauchen könnte für seine gegen den syrischen Präsident Assad und die Kurden gerichteten Pläne.

Die YPG international als Terrororganisation ächten

So soll es also nun die YPG sein, die die Verantwortung für das Istanbuler Attentat trägt. Als Terrororganisation soll sie international geächtet werden und damit Ankara den Weg frei machen, sich den Norden Syriens einzuverleiben.

Sinn allerdings macht dieser Vorwurf nicht. Die YPG wird weder den USA Anlass bieten, sich von ihr zu trennen, noch kämpft sie außerhalb Syriens gegen die Türkei. Und gegen deren Zivilbevölkerung schon gar nicht. Sie ist damit beschäftigt, sich in Rojava gegen die Invasoren und radikalen Islam-Milizen zu verteidigen. Ein Attentat auf Zivilisten in Istanbul passt nicht in deren Strategie.

Ganz anders aber sieht das Erdogan. Bereits sein anhaltender Widerstand gegen die Nato-Aufnahme von Finnland und Schweden, mit der der Moslembruder seinem russischen Amtskollegen gezielt in die Hände spielt, wird mit der dort vorgeblich vorhandenen Nähe zur YPG begründet. Auch das Verhältnis zum großen nordatlantischen „Bruder“ gilt als nachhaltig gestört. Grund: Vorrangig eben jene Kooperation zwischen USA und Kurden in Syrien und Irak, aber auch die Weigerung der Amerikaner, die türkische Armee mit Hochleistungswaffen auszustatten, nachdem Erdogan sich in Russland Luftabwehrwaffen geordert hatte.

Die Wiederwahl als Präsident sichern

So lässt sich angesichts der Gemengelage, die zudem dadurch verschärft wird, dass das Ansehen des im kommenden Jahr zur Wiederwahl anstehenden Präsidenten durch dessen desaströse Wirtschafts- und Finanzpolitik bei der türkischen Bevölkerung von Tag zu Tag schwindet, der Verdacht nicht ausräumen, dass hinter dem Terroranschlag von Istanbul ganz andere Kräfte stehen als jene, auf die nun offiziell gezeigt wird.

Die schnelle Schuldzuweisung auf die YPG wird von Erdogan zum Anlass genommen werden, seine Militäraktionen gegen die Kurden in Nordsyrien erheblich zu verschärfen – und den US-Widerstand dagegen mit Hinweis auf deren angebliche Verstrickung in den Terror zurückzuweisen. Auch der Druck auf die beiden Nato-Anwärter, sich von der YPG offiziell loszusagen und angebliche kurdische Terroristen an die Türkei auszuliefern, wird gesteigert werden.

Treffen dürfte es auch die ohnehin schon gebeutelte HDP (Halkların Demokratik Partisi – Demokratische Partei der Völker), deren früherer, charismatische Frontmann Selahattin Demirtaş seit 2016 in einem Hochsicherheitsgefängnis der Türkei eingekerkert ist. Die HDP, die sich auch für die Rechte der Kurden einsetzte, steht seit geraumer Zeit unter erheblichem staatlichen Druck. Ihre Politiker werden unter fadenscheinigen Gründen abgesetzt und inhaftiert. Sollten, womit fast schon zu rechnen ist, die türkischen Sicherheitsbehörden demnächst auch eine unmittelbare Verbindung zwischen YPG und HDP entdecken, dürfte das ohnehin schon angestrebte Verbot der Partei noch deutlich vor der Präsidentenwahl erfolgen.

Erdogan hätte dann eine weitere Oppositionsgruppe aus dem Rennen geschlagen und es nur noch mit der kemalistischen CHP (Cumhuriyet Halk Partisi – Republikanische Volkspartei) zu tun. Das Kalkül des Diktators: Da die laizistische CHP erklärtermaßen nationaltürkisch ist, wird ihr künftiger Präsidentschaftskandidat für die Kurden nicht wählbar sein. Sie werden sich an der Wahl nicht beteiligen. Scheiden die HDP-Wähler aus, kann es Erdogan bereits im ersten Wahlgang gelingen, die notwendige Mehrheit auf sich zu vereinen. Wird das Ganze zudem garniert mit einem militärischen Sieg über die Kurden in Syrien und der Demütigung der USA und der Nato, so geht er trotz der für ihn aktuell bedrohlichen Lage davon aus, seine Macht auch über 2023 hinaus retten zu können.

Wie dann mit der CHP als letztverbliebener Oppositionskraft verfahren wird, lassen wir dahingestellt. Allerdings zeigt die Geschichte des neo-osmanischen Reichs, dass es Erdogan bislang immer noch gelungen ist, jeden, der im Verdacht stand, für ihn zu einer Bedrohung werden zu können, auszuschalten und die führenden Köpfe der Opposition entweder ins Asyl zu treiben oder im Gefängnis verrotten zu lassen.

Insofern bleibt der Verdacht im Raum stehen, dass auch beim Istanbuler Attentat ganz andere Personenkreise ihre Finger im Spiel hatten als jene, die nun öffentlich auf die Anklagebank gesetzt werden sollen. Es passt einfach alles zu gut – wie immer, wenn es eng für Erdogan wurde und Allah ihm unerwartete Rettung schicken musste.

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