Der aufgrund seiner schlohweißen Haarpracht so weise und gütig wirkende Anhänger eines sozialistischen Verschwörungsmythos, den ein politisches Dreiergespann den Deutschen als ihren Bundespräsidenten in das Schloss Bellevue gesetzt hat, ist der zweite im Bunde jener, die sich mit mehr oder minder wohlfeilen Worten zum 30. Jahrestag des Beitritts der neuen Bundesländer zur BRD hervortaten. Anders als Angela Merkel, die sich auf ein Einziginterview mit einem „ostdeutschen“ Redakteurskollektiv beschränkte, sah sich Frank-Walter Steinmeier genötigt, eine Rede in Überlänge zum Besten zu geben. Vermittelte so die Frau Bundeskanzler den Eindruck, den Deutschen nichts oder kaum etwas mitteilen zu wollen, schien des Bundespräsidenten Mitteilungsbedürfnis hingegen schier unbegrenzt.
Doch was das staunende Volk dann zu hören bekam, lässt sich vielleicht am besten mit einer Zeile des britischen Songwriters Ian Anderson beschreiben, die er für seine nach einem englischen Agrarrevolutionär namens Jethro Tull benannte Erfolgsband schrieb: „Oh no, no we won’t give in | Let’s go living in the past“. Sinngemäß übersetzt bedeuten diese Zeilen: „O nein, nie werden wir aufgeben, lass uns in der Vergangenheit leben.“ Dabei bewegte sich Steinmeier nicht nur im Gestern und Vorgestern, sondern trat in die Spuren der Flagellanten des Mittelalters: mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa!
Selbstverklärung der Vergangenheit verschließt den Blick nach vorn
Nicht der Blick nach vorn ist es, der des Bundespräsidenten Rede bestimmt, sondern die Selbstverklärung einer gefühlten Vergangenheit, gepaart mit dem zunehmend panikartig wirkenden Bedürfnis, dem nach dem Munde zu reden, was sie für des Volkes Stimme halten.
Die sozialistische Verteufelung einer der erfolgreichsten Phasen der deutschen Geschichte setzt sich fort, wenn Steinmeier das fast halbe Jahrhundert des Friedens, das auf die Reichsgründung folgte, als „kurzen Weg von der Gründung des Kaiserreichs bis zur Katastrophe des Ersten Weltkriegs“ karikiert. Selbst heute, 100 Jahre später, unterwirft er sich mit seiner Formulierung der historisch längst widerlegten, einseitigen Kriegsschuldthese der Sieger von 1918 – und er unterschlägt, dass der Weg von der sozialdemokratischen Gründung der deutschen Republik bis zur Katastrophe des Zweiten Weltkriegs mit nur 20 Jahren deutlich kürzer und erfolgloser war.
Geschichtsklitterung ersetzt historische Wahrheit
Die Geschichtsklitterung des Bundespräsidenten geht so weit, dass er sich zu der Unwahrheit hinreißen lässt, „Katholiken, Sozialisten, Juden galten als ‚Reichsfeinde‘, wurden verfolgt, ausgegrenzt, eingesperrt“!
Ja, es gab Konflikte mit der Katholischen Kirche, soweit der Vatikan beanspruchte, in deutsche Angelegenheiten hineinregieren zu können.
Ja, es gab Konflikte mit „Sozialisten“, wenn diese im Sinne eines Karl Marx die bürgerliche Demokratie durch eine Klassendiktatur ablösen wollten. Doch die SPD des Steinmeier war seit Reichsgründung in jedem Reichstag mit gewählten Abgeordneten vertreten und stellte 1912 mit 111 Abgeordneten die stärkste Fraktion.
Doch für Steinmeier zählt nur das Negative. Deutsche Geschichte – eine permanente Abfolge des Unerträglichen.
So wird für den Mann im Schloss Bellevue auch der Kampf um das Recht der Schleswiger und Holsteiner, sich als Deutsche dem Deutschen Bund anschließen zu dürfen, ebenso zum „Eroberungskrieg“ wie der Abwehrkampf der deutschen Länder gegen den völkerrechtswidrigen Angriff der Franzosen, an dessen Ende die Rückkehr der im 17. Jahrhundert von Frankreich ebenfalls in einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg einverleibten Gebiete Elsass und Lothringen, die seit dem neunten Jahrhundert Teile des Deutschen Reichs gewesen waren, stand.
Eine neue Geschichtsschreibung
Steinmeier schreibt eine deutsche Geschichte, die seinem sozialistischen Weltbild entspringt. In der alles, was deutsch ist, schlecht, unmoralisch, verdammenswert gewesen ist. Er ist im wahrsten Sinne des Wortes vaterlandslos – denn ihm ist alles zuwider, was mit dem deutschen Vaterland vor 1949 in Verbindung steht.
Der Bundespräsident strickt sich ein eigenes Geschichtsbild, welches von der Wirklichkeit meilenweit entfernt ist. So baut er auch den Prozess der Deutschen Revolution von 1989 in seinem Sinne um.
Helmut Kohl, ohne dessen diplomatisches Geschick der gegen den Willen führender Sozialdemokraten von den Revolutionären zwischen Cap Arkona und Fichtelberg geforderte Beitrittsprozess niemals erfolgt wäre, findet in Steinmeiers Rede nicht statt. Er dankt Michail Gorbatschow – zu Recht. Er dankt „diesem Amerika“ von 1989/90 – und es wird deutlich, dass für den Bundespräsidenten „dieses Amerika“ nicht das der Amerikaner von heute ist, für die er keine Worte des Dankes mehr finden will.
„Wir stehen heute fest auf dem Fundament der Freiheitsbewegung und der Demokratiegeschichte! Wir berufen uns auf die Ideen des Hambacher Festes, der Paulskirche, der Weimarer Demokratie, des Grundgesetzes und der Friedlichen Revolution.“
So lautet die Manifestation des Volljuristen. Wäre er in seiner Geschichtsklitterei konsequent, so müsste er Hambacher Fest und Paulskirche umgehend ebenso streichen wie sein Bekenntnis zu den Farben schwarz-rot-gold. Denn beim Hambacher Fest waren es großdeutsch-national denkende, bürgerliche Studenten, die die Fahnen des im Weltbild der Sozialisten militaristisch-nationalistischen Lützow‘schen Freikorps schwenkten. Freiwillige, die im Befreiungskrieg gegen Napoleons Franzosen den Grundstein für einen deutschen Nationalstaat legten. Die Abgeordneten der Paulskirche waren großdeutsche Patrioten aus dem Bürgertum, die das Machtmonopol der Fürsten und Könige brechen und Deutschland in „völkischen“ Grenzen von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt entstehen lassen wollten.
Aus Schwarz-Rot-Gold, den Farben des von Habsburg geprägten Heiligen Römischen Reichs, wurden die Farben der großdeutschen Nationalstaatsidee. Das Steinmeier verhasste Schwarz-Weiß-Rot des sogenannten Kaiserreichs entstand erst, als der Konflikt zwischen Preußen und Österreich den Norddeutschen Bund zum Träger einer kleindeutschen Nationalstaatsidee machte, der sich 1871 alle deutschen Länder außer Österreich anschlossen. So sind die Farben der Bundesrepublik in ihrem Ursprung deutlich nationalistischer, als es die Farben des Deutschen Reichs jemals gewesen sind. Doch wer seine eigene Geschichte ausblendet oder sie in seinem Sinne umstrickt, den tangiert solches nicht.
Dabei fremdelt Steinmeier nicht nur mit der fernen Geschichte. Aus den internationalen Vereinbarungen, die den Weg zum Beitritt öffneten, macht er, der frühere Außenminister, „Friedensabkommen“. Nein, das waren sie nicht – das durften sie auch nicht sein, ohne die Bundesrepublik in einen Strudel der Reparationsforderungen zu reißen. Doch selbst diese 2+4-Verhandlungen blendet Steinmeier aus, verkleistert sie, ohne sie beim Namen zu nennen, in einer Melasse aus „Friedensabkommen mit Polen und der damaligen Sowjetunion, die völkerrechtliche Anerkennung der Oder-Neiße-Linie, Helsinki-Prozess, NATO, Europäische Union“. Unhistorisch wäre ein freundliches Prädikat, um diese Mängel zu beschreiben.
Den „Ossis“ nach dem Munde reden
Nachdem er die deutsche Geschichte im Sinne seiner Ideologie umgestrickt hat, wendet sich der Populist Steinmeier den „Ostdeutschen“ zu. Doch statt bei allen vermutlich unvermeidlichen Mängeln, Irrwegen und aus der Situation geborenen Fehlentscheidungen ein positives Bild des gemeinsamen Weges und der gemeinsamen Zukunft zu zeichnen, ergeht er sich auch hier im mea culpa. Über Seiten des geschriebenen Wortes zeichnet er mitleidig das Bild vom „Jammer-Ossi“ und dem bösen Wessi, kolportiert damit die Elogen der SED-Kommunisten von der ewig währenden Ungerechtigkeit, die nur noch hören will, wem der Blick nach vorn verstellt ist.
Seit Jahren leben und arbeiten Sachsen in Hessen, studieren Saarländer in Vorpommern. Das ist die deutsche Normalität der Gegenwart – es wäre die Normalität, die ein Bundespräsident anlässlich des 30. Jahrestags des Beitritts, den Steinmeier beharrlich „Wiedervereinigung“ nennt, hätte in den Mittelpunkt stellen müssen. Stattdessen aber stellt er jene in den Mittelpunkt seiner Rede, die sich zu den Verlierern der Einheit zählen.
Ja, auch die hat es gegeben. So wie es auch an Ruhr und Saar Verlierer der Deindustrialisierung und einer verfehlten Politik gibt. Wie es zwischen Aachen und Görlitz in absehbarer Zeit zahlreiche Verlierer des Ökodiktats und der Corona-Panik geben wird. Leben ist Wandel, zum Besseren wie zum Schlechteren. Hoffnungen können auf der Strecke bleiben oder übererfüllt werden. Es gibt keinen Anspruch auf gleiches Glück für alle, auch wenn die Frankfurter Schule diesen in die Köpfe der 68er gepflanzt hat.
Die zur Leier gewordene Forderung, alle müssten und alles müsste überall gleich sein, ging 1989 und geht 2020 an der deutschen Wirklichkeit vorbei. So, wie sie schon 1871 an der deutschen Nation, an den deutschen Stämmen, wie es damals hieß, vorbei ging. Das Gleichheitsgebot des Grundgesetzes ist kein Gleichmachungsgebot. Es soll den Bürger davor schützen, vom Staat ungleich behandelt zu werden. Und davor, von den Trägern der hoheitlichen Gewalt ausgegrenzt zu werden, wenn seine Auffassung von derjenigen der Regierenden abweicht.
Politisch töricht, kurzsichtig und unprofessionell
Christoph Schwennicke beschrieb den damaligen Außenminister der Bundesrepublik 2016 in einem Cicero-Kommentar als „politisch töricht, kurzsichtig und unprofessionell“. Das traf damals zu – und es trifft heute zu. Doch da ist noch mehr.
Steinmeier ist ein Präsident, der auf fast schon extreme Weise fremdelt mit dem Land, das er repräsentieren soll. Er reduziert die 1.200-jährige Geschichte auf einen guten Moment von höchstens 70 Jahren und verdammt alles, was nicht in sein ideologisches Weltbild passt, zu dem verzerrten Bild eines ewigen Antideutschlands. Er kann mit Begriffen wie Nation und Patriotismus, mit Stolz und Selbstbewusstsein nichts anfangen.
Die Zukunft ohne deutsche Nation
„Wir haben uns entschieden gegen nationale Nabelschau, für ein europäisches Deutschland“, lässt Steinmeier seine Zuhörer wissen. Als wäre das im Herzen Europas gelegene Deutschland jemals nicht europäisch gewesen. Nicht selten ist es sogar zu europäisch gewesen – weil es so europäisch sein wollte, wie es seine Nachbarn bereits vor ihm zu sein schienen.
So, wie Steinmeier in seiner Rede all jene deutschen Politiker ausgeblendet hat, die von Kohl über Genscher, von Willy Brandt über Helmut Schmidt ihren Anteil daran hatten, dass die Deutsche Revolution von 1989 zur Überwindung der Trennung der deutschen Nation führte, so blendet Steinmeier in seinem Denken alles aus, was in das von ihm angestrebte Land ohne Nation nicht passt.
Er findet kein Bekenntnis zu einer deutschen Zukunft – selbst wenn er scheinbar genau diese anspricht, wenn er sagt:
„Christen, Muslime, Juden und Atheisten sind Teil unseres Landes. Ossis und Wessis gibt es weiterhin, aber diese Unterscheidung ist für viele längst nicht mehr die entscheidende. Durch das Zusammenwachsen von Ost und West, durch Zuwanderung und Integration ist unser Land in den letzten dreißig Jahren vielfältiger und unterschiedlicher geworden. Das friedliche Miteinander der vielen verschiedenen Menschen in unserem Land, dieses immer wieder zu organisieren, das ist die Aufgabe, vor der wir heute stehen.“
Sie, die Genannten, sind „Teil unseres Landes“ – doch sie gehören für Steinmeier nicht dazu, denn dann hätte er es so, wie es einer seiner Vorgänger bei aller angemessenen Kritik formuliert hatte, sagen können. „Unser Land“ – das ist nicht mehr das Land jener, die dazu gehören. „Unser Land“ – das ist ein Etwas, von dem man Teil sein kann. Was aber ist man als „Teil“ – und von was? Wem gehört das „unser“, bestimmt darüber, wenn es nicht unser ist, weil wir nur Teil davon sein dürfen?
Ziel: Die internationale Ordnung
Steinmeiers Zukunftsvision ist ganz im Sinne eines internationalistischen Sozialisten eine „internationale Ordnung“. Die Europäische Union ist dabei der Weg, auf dem die Nationen ihre Identität aufgeben sollen, um als künftige Weltbürgerschaft unter dem Dach der supranationalen GO mit der Bezeichnung „United Nations“ in eine Zukunft der sozialistischen Gleichheitsmenschen einzuziehen. Seine Rede war nicht die eines Mannes, der sich an eine deutsche Nation gerichtet hat, die er qua Amt zu vertreten hat. Seine Zielgruppe sind die „vielen verschiedenen Menschen in unserem Land“ – Teile eben, nationslos, geschichtslos, perspektivlos. Ein Konglomerat von vielen ohne eigene, einende Idee von der Zukunft einer Nation in einem Europa der Vaterländer, wie es sich deren Gründer dereinst vorgestellt hatten.
Steinmeier selbst macht den Zusammenbruch der SED-Diktatur fest an einem einzigen, tatsächlich entscheidenden Faktum – und reflektiert damit die geheime Angst aller Herrschenden, denen der Zugriff auf „ihr Volk“ verloren geht. Eine Angst, die auch Steinmeier bestimmt haben mag, als er meinte, als Populist den gefühlten Einheitsverlierern nach dem Munde reden zu müssen, statt als Sinngeber einer gemeinsam nach vorn blickenden Nation den Weg zu weisen. Denn ein einzigartiges Charakteristikum der Deutschen Revolution von 1989 ist dieses Faktum nicht – es gilt für jede Revolution und kann auch gelten für eine, deren Revolutionäre sich nicht im Namen einer fehlgeleiten Gleichheitsdiktatur die eigene Identität nehmen lassen wollen:
„Eine Staatsmacht war ohnmächtig, weil die Menschen ihr nicht mehr folgten.“