Die entsprechenden Spekulationen gibt es schon länger. Wird Wladimir Putin am Tag des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg, dem 9. Mai, aus der „militärischen Spezialoperation“ nun auch offiziell einen Krieg machen? Einiges spricht dafür, manches dagegen. Wobei am Ende die Frage entscheidet, ob es auch für Putin dagegenspricht.
Von einer Polizeiaktion gegen „Faschisten“ …
Tatsache ist: Der von Putin befohlene Überfall auf die Ukraine ist alles andere als so verlaufen, wie der Kremlherr es sich vorgestellt hatte. Ganz bewusst vermied er den Begriff „Krieg“, als er die „militärische Spezialoperation“ verkündete. Grund dafür war nicht nur das Völkerrecht, wonach Russland in diesem Falle dem Völkerrechtsobjekt Ukraine den Krieg hätte erklären müssen, sondern auch die Erklärungsnot gegenüber dem eigenen Volk.
In der Startphase sollte der Überfall auf die Ukraine gleichsam eine Art Polizeiaktion sein. Es ging nicht darum, ein fremdes Land zu bekämpfen, um infolgedessen das eigene territorial zu vergrößern. Es ging, so die Diktion des Kreml, überhaupt nicht um ein „fremdes Land“. Vielmehr, so die im Kreml gestrickte Legende, ging es um russisches Kernland – der Ukraine als souveräner Staat sprach Putin jegliches Existenzrecht ab.
Da es um russisches Kernland ging, das nicht von einer fremden Macht, der man in einem solchen Falle den Krieg hätte erklären können, besetzt war, fiel die Möglichkeit einer Kriegserklärung von vornherein aus. Denn diese Kriegserklärung hätte eben vorausgesetzt, dass die Ukraine ein souveränes Völkerrechtsobjekt ist. Und genau das durfte sie in der Begründungskonstruktion Putins eben nicht sein.
Also strickte Russland die Legende von einer russischen Provinz, in der faschistische, russenfeindliche Separatisten das Ruder übernommen hätten. Diese „Faschisten“ – in Russland seit den Zeiten der Sowjetunion eine Sammelbezeichnung für jeden, der die jeweils geltende, russische Staatsdoktrin nicht teilt – galt es mit der „Spezialoperation“ zu beseitigen. Also tatsächlich kein Krieg, den man gegen ein anderes Land führt, sondern eben eine militärisch flankierte Polizeiaktion, um eine abtrünnige, von Nationalisten besetzte Provinz wieder in die Obhut des Mutterlandes zu nehmen.
… zum gescheiterten Überfall
Dummerweise nun lief diese militärisch flankierte Polizeiaktion ganz anders als erwartet. Denn in der Ukraine wartete niemand darauf, endlich von den faschistischen Russenfeinden befreit zu werden. Vielmehr begriffen die Ukrainer die Invasoren als jene, die ihnen wider ihren Willen und ihre souveräne Entscheidung ein ungewünschtes Regime überstülpen wollten. In der Logik des Kreml also nicht nur eine faschistische Usurpatorenclique, sondern ein Volk von Faschisten – was die Massaker an der Zivilbevölkerung ebenso rechtfertigt wie die Raketen und Granatenangriffe auf Wohnhäuser und zivile Infrastruktur.
So wurde aus der als Handstreich geplanten Militäroperation die größte russische Militäraktion seit der Besetzung Afghanistans. Unerwartet musste das russische Heer hohe Verluste hinnehmen und tausende toter Soldaten beklagen. Selbst das Flaggschiff der Schwarzmeerflotte musste dran glauben – alles Ereignisse, mit denen Putin nicht im Traum gerechnet hätte, als er den Befehl zum Überfall gab.
Ein Sieg für den 9. Mai
Als die geplante Übernahme im Handstreich gescheitert war, änderte das Militär seine Strategie. Die ursprüngliche Vorstellung, mit Blumen in den Rohren der Panzer in Kiew den Altgenossen Viktor Janukovic einzusetzen und sich dann weitestgehend wieder zurückziehen zu können, war gescheitert. Doch einem Putin ist es nicht möglich, ein Scheitern oder gar eine Niederlage einzugestehen. Und ihm saß nun zudem unerwartet die Zeit im Nacken.
Wäre alles so gelaufen, wie er sich das im Februar vorgestellt hatte, dann hätte er am Tag des Sieges über den Faschismus nun auch den Sieg über den ukrainischen Faschismus feiern können. Er wäre – zumindest in den Augen seiner Kernrussen – der übergroße Held gewesen.
Was aber sollte er verkünden, nachdem der Sturm auf Kiew gescheitert war? Nachdem sich herausgestellt hatte, dass das Volk der Ukrainer fast durchgehend ein Volk von Faschisten ist? Am eigentlichen Ziel, die Westgrenze Russlands erst einmal bis an die Grenzen des Nato-Gebiets auszudehnen, hatte sich nichts geändert. Aber an der Zeitplanung. Putin benötigt etwas, das er am 9. Mai mit Glorie verkünden kann. Aber was kann das sein, wenn schon in Kiew immer noch die Faschisten am Ruder sein werden?
Die Konzentration der militärischen Einsatzkräfte in der Ostukraine ist insofern nachvollziehbar. Eine Erweiterung der sogenannten Separatistengebiete Donezk und Luhansk, die als vom Faschismus befreite Russen am 9. Mai feierlich ihre Aufnahme in die Russische Föderation beantragen, ist immerhin schon etwas, mit dem Putin seinen Anspruch, in die russischen Geschichtsbücher einzuziehen, hätte schmücken können.
Die Übernahme der russischen Macht in Chersson und am besten noch bis einschließlich Odessa, damit den ukrainischen Faschisten den Zugang zum Meer abschneiden – das wäre ein weiteres Sahnehäubchen auf Putins selbstherrlichem Auftritt geworden. So sind in Chersson die ukrainischen Kollaborateure bereits dabei, die Zwangsrussifizierung durchzusetzen. Aber Odessa scheint trotz der relativen Nähe zur Front noch weit, bedenkt man, dass die geballte russische Kriegsmacht in den Weiten der Ostukraine zumindest bislang auch eher bescheidene Erfolge zu verzeichnen hat.
Ein Erfolg wird immer teurer
Nachdem der Westen seine Unterstützung der Ukraine auch mit adäquater Waffentechnik forciert und nun die USA sogar jenen Lend-Lease-Act des Jahres 1941 reaktiviert haben, der dem Präsidenten unbegrenzte Vollmacht gibt, dem bedrängten Land auch hochleistungsfähige Waffentechnik nach Belieben zu leihen oder zu verpachten, wird es für Putin noch schwerer werden, zumindest seine aktuellen Teilziele bis zum 9. Mai zu realisieren. Zudem sind die Verluste an Männern und Material bereits jetzt so hoch, dass die Kräfte der „Spezialoperation“ ausbluten könnten, sollte es Putin nicht gelingen, stetig Nachschub zu liefern.
So geht die Ukraine davon aus, dass mittlerweile 23.000 russische Soldaten gefallen sind. 187 Militärflugzeuge und 155 Militärhubschrauber wollen die Ukrainer vom Himmel geholt haben. 986 Panzer, 435 Artilleriesysteme und 2.389 gepanzerte Fahrzeuge sollen am Boden zerstört worden sein. Selbst wenn diese Zahlen propagandistisch aufgebläht sein sollten – auch seriöse, britische Stellen bestätigen unerwartet hohe Verluste der Invasionsarmee.
Das alles nun lässt Beobachter darüber spekulieren, dass Putin am 9. Mai nach der Verkündung irgendwelcher Propagandaerfolge offiziell den Krieg ausruft – ihn also der Ukraine erklären müsste, soll es nicht lediglich um eine völkerrechtlich irrelevante Binnenwirkung gehen. Ziel einer solchen Erklärung: die Möglichkeit einer Generalmobilmachung, um allein mit der Masse der Menschen den ukrainischen Widerstand zu erdrücken.
Risiken nach innen …
Ein solcher Weg allerdings wäre für Putin nicht ohne Risiko. Und dieses nach innen wie nach außen.
Beginnen wir mit dem Problem, das Putin bei seiner eigenen Bevölkerung bekommen könnte. Nun gelten Russen zwar als geduldig und die Staatspropaganda wird das ihre getan haben, große Teile der Bevölkerung zu blenden. Doch dem Volk zu erklären, dass eine ursprünglich als „Militäroperation“ gegen einige Faschisten geplante Aktion nun zu einem regulären Krieg gegen ein Nachbarvolk wird, mit dem man über sehr lange Phasen nicht nur zusammengelebt hat, sondern das auch als „Brudervolk“ verstanden wird, zu dem zahlreiche auch verwandtschaftliche Beziehungen bestehen, könnte Erklärungsnöte hervorrufen.
Putin könnte versuchen, seinen Russen den Krieg als Notwendigkeit zu verkaufen, weil Erzfeind USA quasi die Ukraine übernommen und besetzt habe. Bei politisch weniger interessierten Russen mag das sogar verfangen – allerdings könnten Fragen aufkommen, wenn nur ukrainische Gefangene und Gefallene präsentiert werden können. Es sei denn, man blendet Archivaufnahmen aus Afghanistan oder dem Irak ein, auf denen gefallene Ledernacken zu sehen sind. Alternativ könnten eigene Soldaten in US-nachempfundenen Uniformen filmisch drapiert werden, um so eine US-Beteiligung zu behaupten.
Allerdings wird dann der Druck, sich mit dem angeblich so umfangreichen, strategischen Atomwaffenarsenal gegen die Amerikaner zur Wehr zu setzen, bevor die dann ihre A-Bomben zum Einsatz bringen, recht groß werden. Hier also spielt Putin in einem solchen Falle mit einem Pulverfass, das ihm schnell außer Kontrolle geraten kann.
Doch selbst, wenn wir die USA – und die Nato – aus dem Spiel lassen: Putin mag Probleme mit seinen Soldatenmüttern bekommen, wenn der Blutzoll zu groß wird. Vor allem, wenn frisch gezogene Wehrpflichtige sich plötzlich über einen längeren Zeitraum nicht mehr zuhause melden, werden Zweifel am Kriegsprojekt aufkommen. Möglich, dass Putins Propaganda das eine Zeitlang abfangen kann – aber auch die russische Afghanistan-Besetzung endete maßgeblich deshalb, weil zu viele Särge mit jungen Soldaten zurückkamen.
… und nach außen
Deutlich spannender noch als die möglichen innenpolitischen Entwicklungen ist jedoch die mit einer Kriegserklärung verbundene, internationale Dimension. So kann Putin nicht einer faschistischen Separatistengruppe auf eigenem Staatsterritorium – so die gegenwärtige Lesart – den Krieg erklären. Ein Krieg muss in diesem Falle der Ukraine als souveränes Land erklärt werden. Damit fällt die Legende von dem vorübergehend faschistisch okkupierten, russischen Kernland in sich zusammen.
Möglich, dass Putin das nicht interessiert, solange es sein Volk nicht interessiert. Und dennoch erwachsen aus einer Kriegserklärung Konsequenzen, die das russische Volk über Jahrzehnte belasten können. Entscheidend ist hierbei der Aspekt der Reparationen.
Der ursprüngliche Ansatz Putins, die Ukraine im Handstreich zu nehmen und dort eine Marionettenregierung einzusetzen, hätte Russland von jeglichem Regress freigehalten. Denn unabhängig davon, ob die russisch gesteuerte Ukraine pro forma eigenständig geblieben oder der Russischen Föderation beigetreten wäre – die Marionettenregierung hätte selbstverständlich jede mögliche Forderung an Russland vom Tisch gefegt.
Gänzlich anders aber stellt sich die Situation dar, sollte Russland der Ukraine offiziell den Krieg erklären. Bereits heute geht das internationale Recht davon aus, dass dieser kriminelle Überfall auf das Nachbarland als völkerrechtswidriger Angriffskrieg zu werten ist. Daraus erwachsen Ansprüche sowohl materieller als auch ideeller Art; einerseits als Regress für zerstörtes ukrainisches Eigentum und den kriegsbedingten Ausfall der Wirtschaftsleistung, andererseits in Form der Anklage vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag.
Putin blendet die Konsequenzen aus
Nun scheinen Putin solche Regressforderungen wenig zu kümmern – zum einen, weil er Russland künftig ohnehin nicht mehr verlassen wird, zum anderen, weil kaum jemand in der Lage sein wird, von außen in Vermögen innerhalb Russlands hinein zu pfänden. Die Beschlagnahme einiger Oligarchenjachten und Konten wird er verschmerzen – und sie zudem als unrechtmäßig abkanzeln, solange er bei dem Narrativ einer „Militäroperation“ als erweitere Polizeiaktion auf russischem Territorium bleibt. Denn nach dieser Erzählung ist alles, was gegenwärtig in der Ukraine geschieht, ausschließlich eine innere Angelegenheit der Russischen Föderation.
Mit einer Kriegserklärung an die Ukraine – und dieses auch dann, wenn sie nicht formell überreicht wird – ändert sich die Rechtslage schlagartig. Das russische Argument der inneren Angelegenheiten verliert sofort jeglichen Erklärungsanspruch. Die ukrainischen Regressforderungen werden zu einklagbaren Titeln in Zig-Milliardenhöhe. Weigert sich Putins Russland, diese Ansprüche zu erfüllen, dürfte es zwar schwierig werden, sie unmittelbar einzutreiben – doch diese Ansprüche verjähren nicht und können auch noch in hundert und mehr Jahren eingefordert werden. Putin legt damit seinen Russen eine Hypothek für die Zukunft auf, an der das Land noch schwer zu tragen haben wird auch dann, wenn Putin sich irgendwann auf natürlichem Wege aus seinem totalitären Machtanspruch verabschiedet.
Den Diktator im Kreml mag all das nicht interessieren, wenn er sich selbst Lügen straft durch eine Kriegserklärung. Doch auf seinem russischen Volk wird sie ewig lasten selbst dann, wenn es Russland doch noch gelingen sollte, den ukrainischen Staat von der Landkarte zu tilgen.
Putin erklärt den USA den Krieg
Eine weitere Spekulation ist die weitestgehende. In diesem Denkmodell erklärt Putin nicht der Ukraine den Krieg, sondern den USA. Begründen würde er es ähnlich wie seinerzeit Adolf Hitler damit, dass die Vereinigten Staaten mit dem Lend-Lease-Act selbst zur Kriegspartei geworden sind.
Tatsächlich können wir durchaus von einer neuen Dimension sprechen, die die USA in der Causa Ukraine in den letzten Tagen geschaffen haben. Zum einen wurde offiziell erklärt, dass es das Ziel der USA sei, dazu beizutragen, dass Russland „niemals wieder“ seine Nachbarn bedrohen könne. Das klingt nach jener „Demilitarisierung“, die Putin hinsichtlich der Ukraine als eines der russischen Ziele formuliert hatte.
Nun mag man trefflich darüber streiten, wie viel oder wenig Militärpotenzial in Russland vorhanden sein darf, damit dieses Land niemals wieder seine Nachbarn bedroht. Im Kampf gegen Deutschland lief es 1945 tatsächlich darauf hinaus, das unterlegene Land vollständig zu demilitarisieren – bis es im Kalten Krieg dann wieder gebraucht wurde.
In Russland wäre ein solches Vorgehen allerdings nur realisierbar, wenn die USA die Föderation militärisch besetzten und zuvor besiegten – oder, um einen Worst Case zu skizzieren, vom Erdboden wegbombten. Das wäre dann so oder so der große Krieg, den vielleicht keiner gewinnen kann und der auf der Nordhalbkugel nur Trümmer hinterlässt.
Der Lend-Lease-Act
Insofern darf auch unterstellt werden, dass dieses „Niemals“ eher befristet angepeilt wird und vor allem dadurch erreicht werden soll, dass Putin entweder von der Macht entfernt wird oder aus anderen Gründen den Überfall einstellt und sich zurückzieht. Weil das gegenwärtig alles andere als zu erwarten ist, hat der Kongress nun jenen Lend-Lease-Act verabschiedet – gegen nur zehn Stimmen.
Juristisch wie militärisch betrachtet handelt es sich dabei um ein interessantes Konstrukt. Es besagt, dass der US-Präsident frei darüber entscheiden kann, ob, was und wie viel an Kriegsmaterial er der Ukraine leihweise oder verpachtet zur Verfügung stellt.
Ist das bereits als kriegerischer Akt der USA gegen Russland zu werten? Nein, denn ebenso, wie jede souveräne Nation das Recht hat, Waffen zu verkaufen, kann es solche auch verleihen oder vermieten. Theoretisch wäre es sogar denkbar, dass die USA für ein paar Stunden einen ihrer Flugzeugträger an die Ukraine vermieten, und die dann mit den Flugmaschinen einen Hammerschlag gegen russische Truppen und Einrichtungen selbst durchführt. Wäre das Schiff umgehend an den Eigentümer zurückgegeben worden, hätte Russland kein Recht, dieses anzugreifen.
Pferdefuß an einem solchen Stundenleasing: Es dürften an der ukrainischen Aktion keine amerikanischen Soldaten beteiligt sein. Es sei denn, die scheiden für diesen Zeitraum aus der Navy aus und lassen sich ihrerseits vorübergehend als Söldner anwerben. Und die US-Hoheitszeichen müssten vorübergehend durch ukrainische ersetzt werden. Das allerdings macht den Vorgang derart abstrus, dass wir ein solches Vorgehen ausschließen können.
Russland darf Waffentransporte auf Nato-Gebiet nicht angreifen
Nicht ausschließen können wir hingegen, dass die USA in erheblichem Umfang leistungsfähige Waffen liefern, denn genau das ist der Sinn des Gesetzes. Diese Waffen müssen die Ukraine erreichen, und das funktioniert nur über Nato-Territorium. Festzuhalten ist: Das US-Gesetz bindet die Nato nicht. Sie könnte zumindest theoretisch entsprechende Transporte untersagen, wenn sie nicht ausdrücklich der Verteidigungsfähigkeit des Bündnisses dienen. Allerdings können solche Transporte auch bilateral organisiert werden – und solange die Nato geschlossen hinter der Absicht steht, die Ukraine gegen den Überfall zu rüsten, sind derartige Überlegungen ohnehin obsolet.
Hätte Russland nun das Recht, wie von Putin angedeutet, derartige Waffenlieferungen bereits außerhalb der Ukraine zu unterbinden? Nein, denn was und wohin die Nato innerhalb ihres Territoriums irgendetwas transportiert, ist ausschließlich deren Angelegenheit. Sollte also Russland beispielsweise auf polnischem Territorium einen gezielten Schlag gegen Transporte von militärischem Gerät vornehmen, so wäre dieses letztlich besagter Casus Belli nach Nato-Vertrag.
Anders verhält es sich, sobald die Waffen ukrainisches Territorium erreicht haben. Auch dort wäre es im Rahmen des kriminellen Überfalls zwar kein legitimes Ziel der Russen, doch könnten die USA nur zuschauen, wenn das verliehene Material dort zerstört wird. Russland wird es sich folglich überlegen, wie es seine entsprechenden Drohungen in die Tat umsetzt.
Letztes Szenario: der Atomkrieg
Einige Zeitgenossen sehen für den 9. Mai neben den bereits beschriebenen Möglichkeiten sogar eine Kriegserklärung gegen die USA als denkbares Vorgehen Putins an.
Nun, hier sollten wir sehr sorgfältig hinschauen. Erklärt Putin den USA den Krieg, müsste das Pentagon entscheiden, ob es einen solchen als konventionellen oder als nuklearen Kampf erwartet. Die Unberechenbarkeit Putins ließe es möglicherweise angeraten erscheinen, dem zu erwartenden Spuk mit einem sofortigen, atomaren Präventivschlag ein schnelles Ende zu bereiten. Denn in einem konventionellen Krieg wäre Russland hoffnungslos unterlegen und letztlich dann ohnehin irgendwann gezwungen, aufzugeben oder zu strategischen Atomwaffen zu greifen.
Unterstellen wir also, die USA würden eine Kriegserklärung auf dem Roten Platz mit einem sofortigen, finalen Atomschlag beantworten. Dann wäre nicht nur Moskau weg, sondern auch sonst sehr viel von Russland – und die zu erwartende Antwort aus den rauchenden Überresten hinge an der Frage, was an strategischen A-Waffen ohnehin überhaupt noch in Russland einsatzfähig ist und nach dem amerikanischen Erstschlag zum Einsatz gebracht werden kann.
Allein deshalb macht ein solches Szenario keinen Sinn. Will Putin tatsächlich den großen Krieg mit den USA, dann muss er diesen unerwartet beginnen – mit einem atomaren Hammerschlag, weil alles andere seine Gewinnchance gegen null brächte. Eine Kriegserklärung auf dem Roten Platz wäre atomarer Selbstmord Russlands – unabhängig davon, wie viel vom Rest der Welt unverschont bliebe. Das macht folglich selbst für Putin keinerlei Sinn.
Hätte Putin den großen Krieg gegen seinen Erzfeind führen wollen, dann hätte er dieses zu einem Zeitpunkt tun müssen, als die USA noch nicht darauf eingerichtet waren. Nun aber ist das US-Militär in Habachtstellung – und es wird derart schnell sein, dass Russland vielleicht noch einen Gegenschlag einleiten kann, nicht aber die Vernichtung des eigenen Landes verhindern.
Insofern können wir Szenarien, Putin werde am 9. Mai den Großen Krieg erklären, erst einmal in die Kiste der wilden Drohungsspekulationen legen. Ein russischer, strategischer Atomwaffeneinsatz wird nur die letzte Verzweiflungstat sein können eines Mannes, der alles verloren hat und sich dafür an der Welt rächen möchte. So weit ist es allerdings noch lange nicht – auch dann nicht, wenn Putins Russland am Ende in der Ukraine tatsächlich mit leeren Händen und unüberschaubaren Verlusten dastehen sollte.
Das machte auf seine bärbeißig-verschlüsselte Art auch Russlands Außenminister Sergej Lawrow deutlich, als er am 29. April die Öffentlichkeit suchte. Zwar beschimpfte er in üblicher Rhetorik den Westen wegen der Ukraine-Unterstützung, doch unterstrich er ebenso deutlich, dass sich Russland nicht mit der Nato im Krieg befinde. Und die Atomkriegsszenarien seien nichts anderes als Sensationshascherei westlicher Medien. Niemand sonst habe daran Interesse.
Lawrow wird wissen, warum er etwas Dampf aus dem Kessel nimmt. Wie Sting es in den Achtzigern sang: „I hope the russians love their children too“. Russland wird am Ende mehr sein als Putin, auch wenn es dem Leningrader Gassenjungen gegenwärtig noch gelingen mag, seine Russen mit Propaganda-Trommelfeuer in einen mörderischen Überfall auf die Nachbarn und in die Selbstzerstörung zu manövrieren. Lawrow allerdings scheint mittlerweile zu ahnen, dass hier etwas gewaltig aus dem Ruder gelaufen ist.