Tichys Einblick
In die BILD-Falle getappt

SPD-Theater um Nix

Mit nichts beschäftigt sich die SPD lieber, als mit sich selbst. Und träumt sich auch bei lächerlichen 15 Prozent immer noch in des Willys Zeiten. Realitätsverlust und kontinuierliche Selbstverzwergung scheinen mittlerweile Kernanliegen der SPD zu sein.

© Getty Images

Wer gegenwärtig sein Ohr in die Niederungen jener Partei steckt, die einstmals unter Willy Brandt und Helmut Schmidt die noch nicht beitrittsergänzte Bundesrepublik Deutschland führen durfte, kommt an der Erkenntnis nicht vorbei:

Selbstbeschäftigung lenkt perfekt ab vom Niedergang. Denn derzeit bewegt die SPD wieder einmal vor allem das Kandidatenproblem. Dieses wiederum besteht nicht nur aus einer schlichten, schnell zu beantwortenden Frage, sondern aus einem ganzen Fragenkomplex. Welcher wiederum tief in den Zustand einer Partei blicken lässt, die sich im Zustand der permanenten Selbstabwicklung bewegt.

Sinn und Unsinn der Kanzlerfrage

Die SPD, verzweifelt ums Überleben kämpfend, beschäftigt sich bereits heute, zwei Jahre vor den turnusmäßigen Neuwahlen, mit jener Frage, die sie sich immer stellt, wenn sie sich um den Einzug in den Deutschen Bundestag bemüht. Sie lautet: Wer wird unser Kanzlerkandidat?

Eigentlich könnte man diese Frage ganz einfach beantworten. Mit einem schlichten „Niemand!“. Denn es mutet schon absurd an, dass eine Partei, die laut einer Civey-Umfrage für die „Süddeutsche Zeitung“ am 12. Januar 2019 bei einem Stand von 229.606 Befragten gerade einmal die Wertvorstellungen von 11,6 Prozent vertrat und bei den sogenannten Sonntagsfragen regelmäßig kaum die 15 Prozent überwindet, sich Gedanken darüber macht, welchen ihrer Politiker sie gern als Regierungschef in der Berliner „Waschmaschine“ sitzen sehen würde.

Wir erinnern uns noch, wie dereinst auch Sozialdemokraten höhnten und spotteten, als die FDP für die Wahl des Jahres 2002 ihren damaligen Vorsitzenden Guido Westerwelle als „Kanzlerkandidaten“ präsentierte. Nicht zu unrecht, denn die damals erreichten 7,2 Prozent der gültigen abgegebenen Stimmen reichten vorn und hinten nicht, um einen solchen Anspruch auch nur ansatzweise durchsetzen zu können.

Screenprint: CIVEY

Doch offensichtlich ist der Blick auf die Realitäten den Sozialdemokraten versperrt – oder die Partei der gemäßigten Sozialisten träumt immer noch von einer Volksfrontregierung, die angesichts aktueller Zahlen unter Einbeziehung der ungeliebten AfD erfolgen müsste, bei der sie allerdings angesichts der aktuellen Umfrageergebnisse den geliebten Kanzlerjob den Grünen überlassen müsste. Doch hindert dieses weder SPD noch Medien, sich über eine Frage zu erregen, deren Bedeutung angesichts der Situation bedeutungsloser ist als jene nach den berühmten, ungelegten Eiern.

Halten wir folglich fest: SPD und Leitmedien gehen offensichtlich davon aus, auch 2021 dem Wahlvolk einen „Kanzlerkandidaten“ der SPD zu präsentieren. Komme da demoskopisch, was da wolle! Dass dieser Kandidat, gleich ob männlich, weiblich oder „divers“, erfolgreicher sein wird als seine Vorgänger, ist kaum zu erwarten. Wir erinnern uns in diesem Zusammenhang: 2009 Frank-Walter Steinmeier 23,0 % – 2013 Peer Steinbrück 25,7 % – 2017 Martin Schulz 20,5 %. Nicht einmal Achtungserfolge für Personen, die allen Ernstes davon träumten, das politisch wichtigste Amt der Republik ergattern zu wollen.

Doch sei es, wie es sei – diese Frage bewegt die sozialdemokratischen Niederungen gegenwärtig wie keine zweite. Und sie belegt damit trefflich den Realitätsverlust, der Parteien ergreifen kann, die die Zeichen der Zeit nicht erkennen mögen.

Scholz – oder doch nicht?

Den aktuellen Anlass der Debatte über die Fiktivfigur „SPD-Kanzlerkandidat“ gab nun vorgeblich ein Mann, dessen angebliche Ambitionen in der Partei zutiefst umstritten sind: Olaf Scholz. Dieser Mann stellt gegenwärtig in der abgestraften schwarzroten Koalition nicht nur den Bundesminister der Finanzen, sondern darf sich auch mit dem Titel des Vizekanzlers schmücken. Insofern ist er also schon so etwas wie Kanzler. Aber eben nicht die Nummer Eins, sondern nur die Nummer Zwei, die grundsätzlich nichts zu sagen hat, solange die Nummer Eins in irgendeiner Weise einsatzfähig ist.
Doch hat der Scholz ein Problem. Oder auch ein paar mehr. Vielleicht schildere ich diese mit einer erlebten Anekdote.

Einmal jährlich veranstaltet die Hamburgische Bürgerschaft ihr „Parlamentarisches Sommerfest“. Bei einem dieser Feste – Hamburg verfügte damals nach den von-Beust-CDU-Jahren gerade wieder über eine SPD-Regierung – unterhielt ich mich im Innenhof mehrere Minuten angeregt mit zwei Gespächspartnern über Dieses und Jenes – und bemerkte erst nach Gesprächsabschluss, dass ein unscheinbarer, klein gewachsener Mann, der während dessen allein und einsam in unmittelbarer Nähe stand, Hamburgs neuer SPD-Bürgermeister war.

Kaum etwas charakterisiert das Problem des Olaf Scholz so treffend wie diese Situation: Der gebürtige Osnabrücker schafft mit seinen Auftritten keinerlei Präsenz. Er geht in seiner Unscheinbarkeit unter – und wird nicht zuletzt auch deshalb angesichts seiner uncharismatischen Auftritte und seiner hölzern wirkenden Rhetorik als „Scholzomat“ verspottet.

Dabei allerdings tut man ihm unrecht. Denn man darf Scholz nicht unterschätzen – und er kann sogar, wenn man dann doch mit ihm ins Gespräch kommt, recht verbindlich wirken. Vor allem aber verfügt er – seinen geschilderten Handicaps zum Trotz – über einen in der SPD nur selten anzutreffenden Führungswillen. So konnte er, nachdem er sich 2011 in gewisser Weise als Abstauber der Unions-Chaostage des unfähigen CDU-Ersatzmannes Christoph Ahlhaus als Bürgermeister etablieren konnte, seine ständig mit den Flügeln schlagende Hamburger SPD zur Ruhe bringen. Eine Leistung, die vor ihm keinem SPD-Führungsmann in der Hansestadt gelang und die selbst noch wirkt, nachdem mit Peter Tschentscher ein nicht weniger uncharismatischer Nachfolger dem Scholz in das Bürgermeisterbüro im Hamburger Rathaus folgte.

Dank guter Berater gelang es Scholz in der Hansestadt sogar, 2015 die Bürgermeisterposition zu verteidigen – auch wenn er nun auf die Grünen als Mehrheitsbeschaffer angewiesen war. Doch die Hamburger waren mit Scholz mehrheitlich zufrieden. Und das aus einem einfachen Grund: Der ursprünglich antikapitalistisch eingestellte Stamokapler hatte verstanden, dass die beste Politik eine ist, die der Bürger nicht wahrnimmt. Denn die meisten Bürger wollen einfach nur, dass die Regierungen geräuschlos funktionieren und sie so wenig wie möglich belästigen.

Die „Bild“-Frage

Dieser Olaf Scholz nun hatte sich in seiner Funktion als Vizekanzler-Finanzminister der „Bild am Sonntag“ zu einem Interview gestellt. In dieses ließen die Zeitungsmacher die Frage einfließen, ob er, Scholz, sich das Amt des Bundeskanzlers zutraue.

Jedem halbwegs denkenden Menschen musste von vornherein bewusst sein, dass Scholz auf dieser Frage nur positiv reagieren konnte – weshalb, das dürfen wir unterstellen – die „Bild“ sie eben auch gestellt hatte. Denn ein wie auch immer formuliertes „Ja“ ließe sich perfekt zur Schlagzeile machen: „Scholz will Kanzler werden!“. Und genau so verkaufte die „Bild“ des Scholzens Aussage am 6. Januar.
Die ständig gedankenlos von einander abschreibenden Medien sprangen selbstverständlich sofort auf diesen Zug.

„Scholz empfiehlt sich als Kanzlerkandidat“, meinte die „Welt“. „Vizekanzler Scholz bringt sich als SPD-Kanzlerkandidat ins Spiel“, meinte die FAZ. „Olaf Scholz hält sich für aussichtsreichen Kanmzlerkandidaten“, behauptete die „Zeit“. Es rauschte ganz gewaltig im Medienwald – und alle waren sich einig: Scholz, dieser uncharismatische Ex-Bürgermeister aus Hamburg, will tatsächlich Merkel nachfolgen!

Die Folge: In der SPD starteten die Amokläufe. Der SPD-NRW-Chef Sebastian Hartmann sprach vom „falschen Zeitpunkt“. Linkspopulist Ralf Stegner bemängelte, dass „wir mit Selbstausrufungen nicht die besten Erfahrungen gemacht“ hätten und forderte eine Urwahl der Mitglieder. Ein Dame aus dem Kreise der Jungsozialisten machte es kurz: „Das ist der falsche Zeitpunkt, der falsche Mann und die falsche Methode!“. Kurz: Scholz bezog das, was man in der infantilen Politik der Gegenwart als „Klassenkeile“ bezeichnen kann.

In die „Bild“-Falle getappt

Wie sehr sich Medien und mehr noch die Kritikaster in den Reihen der SPD selbst zum Affen machten, scheint ihnen dabei nicht bewusst zu sein. Denn, um dieses in aller Deutlichkeit festzustellen: Scholz hatte sich überhaupt nicht selbst zum Kanzlerkandidaten der dahinsiechenden SPD erklärt – er hatte auch nicht behauptet, Kanzler werden zu wollen.

Tatsächlich lautete seine Antwort auf die Zutrauensfrage der „Bild“ wie folgt:

„Ja. Frau Kramp-Karrenbauer hat gerade gesagt, dass von einer Parteivorsitzenden erwartet wird, dass sie sich das Amt zutraut. Für einen Vizekanzler der Bundesrepublik Deutschland gilt das Gleiche. Weder bei der Union noch bei uns steht diese Frage heute aber an.“

Liebe Medien, liebe SPD-Schreihälse! Was, bitteschön, hätte Scholz denn auf die hübsch eingefädelte „Bild“-Frage antworten sollen? „Nein, ich bin ja nur Sozialdemokrat!“, vielleicht? Oder „Unmöglich, das traue ich mir nicht zu!“?

Der Mann – halte man von ihm, was man wolle – ist derzeit Vizekanzler. Als solcher kommt er überhaupt nicht umhin, sich auch das Kanzleramt zuzutrauen. Täte er das nicht, müsste er sofort seinen Regierungsjob hinwerfen. So blieb ihm nur eine bejahende Antwort. Und die gab er – wenn auch mit unnötigem, vermutlich einschränkend gemeinten Hinweis auf die Parteivorsitzende der CDU – genau so, wie er sie nur geben konnte. „Von einem Vizekanzler der Bundesrepublik Deutschland wird erwartet, dass er sich das Kanzleramt zutraut.“

Diese Aussage ist nichts anderes als die Feststellung einer gänzlich unspektakulären Selbstverständlichkeit. Weder hat Scholz damit Ambitionen für dieses Amt angemeldet, noch sich selbst als Kanzlerkandidat „selbst ausgerufen“. Er wäre auch kaum so ungeschickt, dieses bereits zwei Jahre vor einem Wahlgang, dessen konkrete Situation heute überhaupt nicht abzusehen ist, zu tun. Denn auch Scholz kennt die alte Politikregel, dass es jenen, die den Kopf zu früh herausstrecken, so ergeht wie dem Spargel.

Und dennoch tappte er in die Falle: Die Medien haben einmal mehr, angeführt von einer geschickten, wenn auch unseriösen „Bild“-Zeitung, einen scheinbaren Skandal geschaffen, wo es keinen gibt. Denn die Schlagzeile „Scholz will Kanzler werden!“ dürfen wir getrost als FakeNews abtun. In zwei Jahren mag das vielleicht anders aussehen – gegenwärtig jedoch hat der amtierende Vizekanzler ein solches Ziel nicht einmal indirekt formuliert.

So bleibt am Ende nur der Eindruck, dass hier jemand Scholz gezielt ins Spargelfeld schicken wollte, um den Kopf bereits abzuschlagen, bevor das Vorjahreskraut überhaupt vertrocknet ist. Die Tatsache, dass routinierte Spargelstecher wie Stegner sofort darauf ansprangen, zeigt dafür jedem Betrachter um so deutlicher, wie es um dieses Trümmerfeld sozialdemokratischen Selbstbewusstseins tatsächlich bestellt ist. Mit nichts beschäftigt sich die SPD lieber, als mit sich selbst. Und träumt sich auch bei lächerlichen 15 Prozent immer noch in des Willys Zeiten. Realitätsverlust und Selbstvernichtung scheinen mittlerweile Kernanliegen der SPD zu sein.

Warum auch nicht – wer sich selbst überflüssig machen und der Lächerlichkeit preisgeben will, den soll man daran nicht hindern.

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