Ein Jahr ist es her, dass die westlichen Staaten panikartig den Versuch aufgaben, ihre Freiheit am Hindukusch zu verteidigen. Zumindest dann, wenn wir der Kriegseintrittsbegründung des damaligen SPD-Verteidigungsministers Peter Struck folgen.
Einmal mehr stellt sich nun die Frage nach Schuld und Verantwortung. Während die spenden- und steuerfinanzierten NGO Schreckensbilder an die Wand malen, liegt das öffentliche Interesse an Afghanistan in den Ländern der ehemaligen Besatzungsmächte bei null. Das Schicksal der Frauen und der Kinder mag einen dauern und soll den auf die Ukraine und sich selbst schauenden Europäer veranlassen, wieder einmal in den Hilfetopf zu greifen.
Doch man kann es auch anders sehen: Zwanzig Jahre hatten die weißen Europäer den Menschen Afghanistans die Chance geboten, sich von den archaischen Vorstellungen des Islam zu lösen und den Weg in die Moderne anzutreten. Die Zahl jener, die diese Chance wahrnahmen, lässt sich offenbar an einer Hand ablesen. Warum also noch einen Gedanken, einen Euro an jenes Volk verschwenden, das die Renaissance der radikalen Mohammed-Jünger widerstandslos über sich hat ergehen lassen? Vergegenwärtigen wir uns deshalb noch einmal einige Kernelemente dessen, was mit Afghanistan zu verbinden ist.
Punkt Eins – die Legendenbildung
Als die USA ab September 2001 ihren Kampf gegen die islamische Taliban-Herrschaft in Afghanistan begannen, war es eine Strafaktion. Die Mohammedschüler sollten dafür bestraft werden, dass sie den Terroristen um Osama bin Laden Unterschlupf gewährt hatten. Aus der Strafaktion wurde ein Dauerkampf gegen die Mudschahedin, die jede fremde Anwesenheit am Hindukusch als Fremdherrschaft ablehnten. Sie kristallisierten sich um die Taliban-Bewegung, die eine klassische Islam-Auslegung vertritt und aus Afghanistan ein sunnitisches Emirat machen wollte.
Da Islam und westeuropäische Aufklärung zwei inkompatible Überzeugungen sind, setzte sich in Afghanistan in gewisser Weise das fort, was der saudische Sunnit Osama mit seinen Angriffen auf die USA am 11. September 2001 begonnen hatte. Schnell allerdings offenbarten sich nicht nur die fehlende Strategie der Europäer, sondern auch die weltanschaulichen Unterschiede innerhalb der Koalition. Vor allem die Deutschen träumten sich und ihre Bundeswehr in die Rolle eines technischen Hilfswerks, welches den armen Bewohnern in der kargen Region Hilfe zur Selbsthilfe leisten wollte. Eine Illusion, für die 59 Bundeswehrsoldaten sinnlos ihr Leben gaben.
Der amerikanische Kampf gegen die Islamterroristen der Al Qaida setzte sich auch fort, nachdem Osama am 2. Mai 2011 in seinem Haus in Pakistan – nicht in Afghanistan – von US-Einheiten getötet wurde. Die Frage, welche Strategie die westliche Allianz nunmehr in Afghanistan verfolgte, was das eigentliche Ziel der Anwesenheit am Hindukusch sei, wurde nicht mehr gestellt. Im Sinne der bundesdeutschen Atropos Angela Merkel war man nun halt irgendwie da. Also machte man weiter. Statt sich zum Militäreinsatz zu bekennen, redete sich die feministische Außenpolitik den Einsatz mit durchzusetzenden Frauenrechten und blühenden Demokratielandschaften schön.
Punkt Zwei – die Erfolglosigkeit der NGO
Nein, es soll an dieser Stelle nicht der Idealismus mancher staatsfinanzierter Nichtregierungsorganisationen grundsätzlich in Abrede gestellt werden. Ganz im Sinne der Legendenbildung blendeten in Afghanistan aktive NGO die dortige Wirklichkeit aus und träumten davon, dass in Herat und Kandahar wie einst in den goldenen Sechzigern wieder selbstwusste Frauen unbelästigt im Minirock und ohne Gesichtsgitter oder Hijab durch die Straßen würden flanieren können.
Auch die Idee, den am Hindukusch mangels anderer Erwerbsmöglichkeiten blühenden Mohnanbau über Agrarhilfe einzudämmen, war ein hehres Motiv, welches den NGO einen steten Geldfluss sicherte. Also pflanzte man westliche Wertvorstellungen in manche Köpfe, ohne jedoch einen Gedanken daran zu verschwenden, was wohl aus diesen Gedanken werden würde, wenn eines Tages der traditionelle Islam wieder das Heft in die Hand nähme.
Eine Vorstellung, die so weit der Realität nicht sein konnte, auch wenn es den mittlerweile nicht mehr ganz so weißen Rittern der globalen Glückseligkeit zu keinem Zeitpunkt gelungen war, der Situation im kampfgewohnten Land in irgendeiner Weise Herr zu werden und das Pflanzen in die Köpfe niemals eine breite Mehrheit hatte erreichen können.
Punkt Drei – die US-gesteuerte Korruptokratie
Oftmals in der Politik kommt es überhaupt nicht darauf an, was in einer Schachtel drin ist, sondern es reicht völlig, das zu glauben, was auf der Schachtel draufsteht. Also ließen die USA mehrmals etwas organisieren, was wie Demokratie aussah und was regelmäßig dafür sorgte, dass irgendwelche Raffzähne als gewählte Politiker ihren Plünderungsfeldzug auf die Ebene bürokratischer Eleganz erhoben und ansonsten den westlichen Besatzern das Schauspiel von der afghanischen Demokratie aufführten.
So flossen sie dahin, die in den europäisch denkenden Staaten mühsam erwirtschafteten Taler, und mit ihnen die Soldaten, die auf eine Mission geschickt worden waren, die weder ein strategisches Ziel noch ein Abschluss- oder Rückzugsszenario kannte. Es kam, was kommen musste: Die USA verloren nach ihren Soldaten irgendwann auch die Lust, weiter in die Unvollendete zu investieren, und läuteten im August 2021 den überstürzten Rückzug von der längst zielverlorenen Aktion ein. Getreue Mitwirkende wie die deutsche Bundeswehr gerieten unvorbereitet in den Strudel des Untergangs und waren nur noch froh, zumindest das verbliebene Menschenmaterial unbeschadet außer Landes zu bringen.
Die scheindemokratische Korruptokratie ploppte einmal kurz auf – dann verdampften die über 20 Jahre mühsam unterrichteten Soldaten der afghanischen Demokratie und die radikalislamischen Allahkämpfer waren wieder an der Macht.
Der erwartbare Niedergang
Es kam, wie es kommen musste. Außer an den paar tausend „Ortskräften“, die den Deutschen während ihres Afghanistan-Ausflugs zumeist gegen gute Bezahlung dienlich waren, geriet das Land aus dem Blickfeld – und spätestens mit dem Überfall Russlands auf sein Nachbarland im Februar 2022 wurde das Land am Hindukusch, in dem erfolglos Deutschlands Sicherheit verteidigt wurde, zu einer Notiz in der Rubrik „Sonstiges“.
Auch mit den Taliban kam es, wie es kommen musste. Da das islamische Konzept der gläubigen Herren auf ein Gemeinwesen mit vergleichsweise geringer Kopfzahl gedacht ist, gelang es den Allahkriegern nicht, das Volk zu ernähren. Denn das hatte sich nach offiziellen Schätzungen von ungefähr 18 Millionen Köpfen im Jahr 2001 bis 2021 fast verdoppelt – was wiederum nur möglich war, weil europäische Medizin und ständiger Nahrungsmittelimport ein Menschenpotenzial geschaffen hatten, welches aus den natürlichen Ressourcen des kargen Landes nicht mehr zu bedienen war.
Die afghanische Wirtschaft kollabierte – und die Zahl jener, die nicht ausreichend Nahrung hatten, erhöhte sich explosionsartig. Der Regierungenverein UN geht davon aus, dass bei der aktuell geschätzten Fertilitätsrate von mindestens vier Kindern pro Frau bis Jahresende über die Hälfte der Kinder unter fünf Jahren unterernährt sein werden. Das wiederum ruft nicht nur den Verein „Welthungerhilfe“ auf den Plan, der zu berichten weiß, dass in Taliban-Land derzeit mindestens neun Millionen Menschen Hunger leiden.
Nicht, dass das wirklich neu und nur den Taliban geschuldet wäre. So meldete beispielsweise im Jahr 2011 das Welternährungsprogramm der UN die Notwendigkeit, rund 7,3 Millionen Afghanen – damals ein knappes Drittel der Gesamtbevölkerung – mit Nahrungsmitteln versorgen zu müssen, wozu damals noch weitere 178 Millionen Euro benötigt wurden, weil bislang nur die Hälfte des tatsächlichen Aufwands auf dem Ernährungskonto eingegangen seien. Das Land im Zentrum Asiens ist für zu viele Menschen nicht gemacht – das war es nie, weshalb dann bei Gelegenheit gelegentlich afghanische Moguln in den indischen Subkontinent einfielen und dort im Hindu-Land islamische Reiche gründeten.
Ein Loch ohne Boden
Afghanistan war nicht nur militärisch ein Loch ohne Boden – es ist es aufgrund der kulturimmanenten Vermehrung vor allem auch und bis heute in Sachen Ernährung. Also tritt 2022 wieder einmal die Welthungerhilfe auf den Plan und klagt: Rund 23 Millionen Menschen, „mehr als die Hälfte der Bevölkerung“, könnten sich nicht mehr allein ernähren. Wobei etwas irritiert, dass in Afghanistan nach offiziellen Schätzungen derzeit rund 38 Millionen Menschen zu ernähren sind, während die Welthungerhilfe und die NGO „Terre des Hommes“ (TdH) bereits von mindestens 40 Millionen Afghanen ausgehen.
Neben dieser durch hohe Fertilität unter europäischer Obhut entstandenen Hungersituation beklagt nicht nur TdH die frauenfeindliche Politik der Taliban: „Eine ganze Generation von Mädchen wird ihre Schulausbildung nicht abschließen können.“ Wer dagegen auf die Straße gehe, riskiere die willkürliche Verhaftung.
Das moralische Dilemma
So stehen nun jene, die vor recht exakt einem Jahr vor die afghanische Tür gesetzt worden waren, vor einem moralischen Dilemma.
Tragen sie aufgrund ihrer langjährigen Anwesenheit eine Mitverantwortung dafür, wenn in diesem Land, das nur eine überschaubare Menge Menschen ernähren kann, eine durch die natürlichen Bedingungen in Afghanistan nicht ernährbare Anzahl Menschen hungern, vielleicht verhungern muss? Und welche Verantwortung tragen die ehemaligen Besatzer und die in ihrem Schlepptau segelnden NGO dafür, dass sie afghanischen Mädchen die Vorstellungen europäischer Emanzipation eingegeben haben, die nun diese Frauen in eine unhaltbare Lage versetzen, weil die islamische Archaik sich eben so überhaupt nicht mit den Vorstellungen der Generation Emma folgende verträgt, deren mentales Wohl und Wehe mittlerweile davon abhängt, aus dem geschlechtsneutralen, generischen Maskulinum einen schluckaufartigen Sprachfehler zu generieren?
Gut gemeint ist nicht immer gut gemacht, weshalb die Vorstandsvorsitzende jener SPD-nahen NGO mit dem Kürzel AWO nun auch einen ebensolchen Lösungsvorschlag unterbreitet. Brigitte Döcker meint, dass in der Bundesrepublik all jene aufgenommen werden müssen, die aufgrund ihrer Tätigkeit als Ortskraft, ihres Einsatzes für Demokratie oder wegen des Geschlechts oder ihrer sexuellen Orientierung besonders exponiert seien und um ihr Leben fürchteten.
Seid umschlungen, Millionen, möchte man geneigt sein, der Dame mit Friedrich Schiller zuzurufen, denn allein die Hälfte der Bevölkerung dürfte aufgrund ihres weiblichen Geschlechts zumindest in ihrer Selbstverwirklichung bedroht sein, wobei dann die paar tausend Männer, die sich für Demokratie eingesetzt haben mögen oder ihre Homosexualität für islamische Verhältnisse zu offen bekennen, nicht mehr wirklich ins Gewicht fallen.
Schuld und Helfersyndrom
Die Situation in Afghanistan reduziert sich einmal mehr auf ein Schuld- und Helfersyndrom, das jedoch in keiner Weise geeignet ist, das Grundproblem der Situation und der moralischen Verantwortung wie das der pragmatischen Vernunft auch nur ansatzweise zu erfassen.
Tatsache ist: Der europäische Export moderner Medizin und Nahrungsmittel in Länder, deren Produktionsmöglichkeiten hohe Bevölkerungszahlen nicht zulassen, ist zu keinem Zeitpunkt ernsthaft diskutiert worden.
Der im wahrsten Sinne des Wortes natürliche Gang der Dinge wäre es, dass die Nahrungsmittelsituation in Afghanistan – und nicht nur dort – jenes natürliche Gleichgewicht wieder herstellt, welches vor der Übernahme der Welt durch die Europäer dort gegeben war. Gleichsam ein Akt der tatsächlichen Dekolonialisierung durch das Zulassen der Rückentwicklung auf den Status quo ante. Dann allerdings werden in den kommenden Jahren in Afghanistan Millionen Menschen verhungern müssen, was dem humanistischen Gewissen unerträglich ist.
Im gegenteiligen Fall aber wird die hohe Fertitilität, die durch das archaische Frauenbild des Islam nun am Hindukusch noch deutlicher zum Tragen kommen wird, ständig noch mehr hungernde Mäuler schaffen, die eines Tages vor der Situation stehen werden, dass ihr Land außerstande ist, ihren Hunger zu stillen. Von Gunnar Heinsohns Kriegsindex soll an dieser Stelle überhaupt nicht die Rede sein – es reicht zu wissen, dass schon heute die Migration auf der Suche nach persönlichem Wohlstand ein ungelöstes Problem ist, das nicht nur die europäischen Gesellschaften in ihren Grundgerüsten berührt, wenn nicht erschüttert.
Wie weit reicht Verantwortung?
Wie weit also reicht jenseits der mitleiderzeugenden Bilder hungernder Kinder die tatsächliche Verantwortung beispielsweise der Deutschen dafür, dass in Afghanistan Menschen hungern und verhungern und emanzipierte Frauen unterdrückt werden? War es nicht am Ende vielleicht sogar gewissenlos, wenn europäische Frauen ihren Geschlechtsgenossinnen in Ländern wie Afghanistan von außen ein Weltbild eingeben, welches in krassem Widerspruch steht zu den dortigen gesellschaftlichen Traditionen und Religionsvorstellungen?
Die gängige Begründung solchen Tuns lautet, dass die Übertragung der Emanzipation den gesellschaftlichen Wandel zu einem modernen, sprich europäischen Frauenbild und damit zu einer demokratischen, liberalen Gesellschaftsauffassung erzeugen sollte. Doch genau da gilt: Ist gut gemeint wirklich zwingend gut gemacht? Wer als NGO in ein Land wie Afghanistan zieht, um dort Frauen aus der systemimmanenten Unterdrückung zu befreien, der muss sich zu jeder Zeit auch der Möglichkeit bewusst sein, manchen dieser Frauen damit ein besonderes Leid zuzufügen, wenn die Illusion einer freien, europäischen Gesellschaft in einer islam-archaischen Gesellschaft an der dortigen Realität scheitert.
Ebenso: Wer mit Nahrungsmittelimporten das eingespielte Gleichgewicht der Natur zerstört, weil die Gesellschaft auch dann noch fünf bis acht Kinder pro Frau erzeugt, wenn eben nicht nur zwei oder drei davon das Erwachsenenalter erreichen, der muss sich der Tatsache bewusst sein, dass er damit in naturgegebene Prozesse eingreift und eine Spirale schafft, die ständig nach mehr und noch mehr rufen wird.
Darf Humanismus die Folgen seines Tuns ausblenden?
Bedeutet Humanismus tatsächlich, die Folgen seines humanistischen Tuns auszublenden, weil das Gewissen gebietet, im Hier und Jetzt ohne jede Verantwortung für die Konsequenz scheinbar menschlich zu agieren? Bei der sogenannten Klimadiskussion wird genau eine solche Verantwortung als zwingend eingefordert – warum dann aber nicht auch bei Ideen-Export und Nahrungshilfe?
Oder müsste nicht vielmehr ein tatsächlich humanistischer Ansatz genau den gegenteiligen Weg gehen? Wenn ich erkenne – und in Afghanistan musste das jeder erkennen, der sich nicht beide Augen mit Lehm zugekleistert hatte –, dass in einem Land die Strukturen derart sind, dass ich mit dem singulären Import meiner eigenen Wertevorstellungen eine unüberbrückbare Diskrepanz zwischen meinen Zielpersonen und der dortigen Wirklichkeit schaffe – ist es dann wirklich humanistisch, die „Opfer“ meiner Werteübertragung zu tatsächlichen Opfern einer damit inkompatiblen Wirklichkeit zu machen?
Anders ausgedrückt: Wenn ich in einem Land wie Afghanistan eine Gesellschaft nach meinem europäischen Bilde schaffen will, dann muss es zwingend der erste Schritt sein, all das zu vernichten, was diesem Bilde im Wege steht. Das hätte in Afghanistan bedeutet, einen absolut rücksichtslosen Kampf gegen die Taliban und den dortigen, archaischen Islam zu führen, um mit den Überlebenden dann nicht 40, sondern vielleicht nur 20 oder auch nur 10 Millionen Menschen, einen demokratischen Staat nach westlichem Vorbild aufzubauen.
Wenn ich dazu nicht bereit bin, weil ich nicht bereit sein kann, einen solchen Massenmord auf mein Gewissen zu laden, dann muss ich mich jedoch gänzlich aus der Entwicklung jenes Landes heraushalten, will ich mich nicht gegen jene schuldig machen, die im Vertrauen auf meine Versprechen nach meinem Rückzug in endloses Leid gefallen sind.
Die Aufnahme löst das Dilemma nicht
Dann kann es auch kein Rezept sein, all jene aufzunehmen, die aus meiner arroganten Sicht in jenem Lande ein unglückliches Leben führen müssen. Eine solche Aufnahme kann immer nur die Ausnahme sein und muss sich auf jene beschränken, die glaubhaft nachweisen, dass sie tatsächlich uneingeschränkt zu den Werten jener Gesellschaftsvorstellungen stehen, die ihnen in der Heimat aufgrund dortiger Traditionen verwehrt werden. Ist die Aufnahme aus archaischen Kulturkreisen nicht die Ausnahme, dann allerdings droht im Gegenteil, dass nicht die sich fortschrittlich empfindende Gesellschaft ihre Werte in die archaischen Länder vermitteln kann, sondern vielmehr die dortige Archaik die fortschrittlichen Gesellschaften übernimmt.
Ansonsten aber ist das Helfersyndrom eine humanistische Falle für alle Beteiligten. Denn gesellschaftlicher Wandel kann in tradierten Gesellschaften nicht erzwungen werden – er muss aus den Gesellschaften selbst entstehen. So, wie der Wandel einst in den archaisch-christlichen Gesellschaften des europäischen Kulturkreises entstanden ist und sich teils unter Mühen und zahllosen Opfern durchgesetzt hat, so muss er sich in anderen Kulturkreisen mit vermutlich nicht weniger Mühen und vielleicht auch Opfern aus diesen heraus durchsetzen. Oder es vielleicht auch nicht tun, wenn eine Gesellschaft sich als unfähig erweist, ihre Archaik zu überwinden.
Humanistische Verantwortung ist gefordert
Eine Vorbildfunktion mag dabei allzeit gerechtfertigt sein – mehr aber auch nicht. Denn die Durchsetzung eigener Weltvorstellungen in Gesellschaften, die hierfür nicht reif sind, setzt entweder den absoluten Willen zur Macht und die uneingeschränkte Rücksichtslosigkeit der Durchsetzung voraus – oder sie endet in solchen Desastern, wie wir sie jetzt in Afghanistan vorfinden. Und wie wir sie in den kommenden Jahrzehnten noch in zahlreichen anderen Ländern, vor allem auf dem afrikanischen Kontinent, vorfinden werden.
Humanistische Verantwortung bedeutet, die Folgen seines Handelns zu bedenken und notfalls auch im Namen des Humanismus inhuman zu erscheinen. Ansonsten gerät der Humanismus in das Paradoxon der Toleranz, die sich selbst vernichtet, wenn sie sich auch gegenüber den Intoleranten als tolerant erweist. Dies ergebnisoffen und ohne ideologische Scheuklappen zu diskutieren, dabei ohne Selbstkasteiung und selbstbemitleidende Schuldgefühle alle Aspekte zu betrachten, wäre unverzichtbar, um tatsächlich eine verantwortungsbewusste Politik für die Zukunft zu entwickeln, die über die bloße, kurzfristige Gewissensberuhigung hinausgeht.
Werteorientierte Außenpolitik, wie sie die Grünen derzeit einfordern, kann nicht bedeuten, den Kopf auszuschalten und blind ins emotive Verderben zu laufen. Vielmehr muss sie bereit sein, Verantwortung zu übernehmen – im Zweifel auch für die Erkenntnis, dass die eigenen Wertvorstellungen nicht das Dogma einer illusionären Welt der allgemeinen Glückseligkeit sein können und dass Verantwortung auch bewusste Verantwortung für das unerträglich Scheinende bedeuten kann.
Afghanistan kann die Wegmarke sein, an der diese Diskussion geführt werden muss – oder der Weg in die Unvernunft eines verantwortungslosen Humanismus ohne Perspektive im Namen einer werteorientierten Politik, die bis in den Untergang fortgesetzt wird.