Am Mittwoch konferierten die Verteidigungsminister der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (Shanghai Cooperation Organisation – SCO). Dabei handelt es sich um ein eher informelles Gremium, dem neben der Russischen Föderation und den asiatischen Nachfolgestaaten der Sowjetunion heute auch die Volksrepublik China, Indien und Pakistan angehören.
Anlässlich dieses Treffens nahm der russische Verteidigungsminister Sergei Shoigu Stellung zur strategischen Situation des russischen Überfalls auf das Nachbarland Ukraine. Da derartige Äußerungen stets einerseits in die jeweilige Kriegspropaganda einzubetten sind, andererseits manche Formulierung jedoch auch Einblick in die tatsächliche Situation ermöglicht, lohnt es, hier etwas genauer hinzuhören.
Die These von der Kriegsverlängerung
Shoigu wiederholte den russischen Vorwurf an die USA und die Westalliierten, dass deren Waffenlieferungen an die Ukraine die Zahl der Opfer verdoppele und „den Krieg“ verlängere. Da trifft er sich mit Teetassenphilosophen wie Prechtl und manchen sogenannten Friedensaktivisten, die ebenfalls die Auffassung vertreten, dass ein Überfallener, der sich nicht wehrt, schneller und unblutiger zum Opfer wird. Was nach dieser Logik sogar zutreffend sein könnte, wenn das Opfer überlebt – nur gälte dann gleich der Steinzeit das uneingeschränkte Recht des Stärkeren, von dem die kultivierten Nationen zwischenzeitlich glaubten, es in den vergangenen Jahrhunderten überwunden zu haben.
Shoigu räumt das strategische Versagen ein
Mit seiner Klage über westliche Waffenlieferungen hat Shoigu nun jedoch auch eingeräumt, dass Russland und vor allem dessen Armee strategisch versagt hat. Denn wenn die Lieferungen den Überfall unerwartet verlängern, dann ging Russland ursprünglich davon aus, dass die Aktion gleichsam im Handstreich durchzuführen sei. Das wiederum deckt sich mit Erkenntnissen, wonach der Inlandsgeheimdienst FSB die eigentliche Schuld am russischen Desaster trägt.
Der soll der russischen Führung stets das Gefühl vermittelt haben, dass die Ukrainer nur darauf warteten, von Russland befreit zu werden. Die Möglichkeit eines koordinierten, ukrainischen Widerstands fand in den FSB-Berichten ebenso wenig statt wie die Möglichkeit, dass es tatsächlich eine wehrhafte, ukrainische Nationalidentität geben könne.
Kurzum: FSB und Militärführung haben in der Causa „militärische Spezialoperation“ kläglich versagt. Die einen, weil sie mit Fehleinschätzungen und ineffektiver Vorbereitung das Scheitern vorbereitet hatten – die anderen, weil sie im Vertrauen auf diese Unfähigkeit eine gänzlich falsche Militärstrategie entwickelten. Die unvermeidliche Folge: das aktuelle Gejammer darüber, dass dieser „Krieg“ unnötig in die Länge gezogen werde. Wobei – über den Grad besagter Unnötigkeit dürfte es auf russischer und auf ukrainischer Seite durchaus unterschiedliche Auffassungen geben.
Versagen mit Menschlichkeit kaschieren
Da nun aber die Situation so ist, wie sie ist, und sich die russische Invasionsarmee festgefressen hat, muss der Versager Shoigu selbstverständlich nach Entschuldigungen suchen – und der Widerstand der Ukraine kann diese selbstverständlich nicht liefern, denn das käme dem Eingeständnis eben dieses eigenen Versagens gleich. Also weicht Shoigu aus und macht aus seiner Not eine scheinbare Tugend. Das „niedrige Tempo der Operation“ – soll heißen: das Scheitern bei weiteren, spürbaren Geländegewinnen – entspreche einem militärischen Plan der russischen Armeeführung. Dieser basiere darauf, möglichst zivile Opfer zu vermeiden, wofür – das in Politikerkreisen beliebte – „alles“ genau dafür getan werde. In gewisser Weise also vorgebliches Nichtstun für das entschiedene Nichtstun.
Angesichts der ständigen Flächenbombardements auf ukrainische Dörfer, die in der Nähe zur Frontlinie liegen, und deren Totalzerstörung es offenbar bereits nötig machen, dass Putin sich nordkoreanische Arbeitssklaven zum Wiederaufbau der eroberten Gebiete einfliegen lassen will, kann eine solche Darstellung nur als Hohn verstanden werden. Der einfachste Weg, zivile Opfer zu vermeiden, wäre es, wenn Russland seine Invasionsarmee einfach heim ins russische Reich beordert. Dann müssten keine weiteren Zivilisten sterben – auch die Soldaten auf russischer wie ukrainischer Seite müssten sich nicht mehr gegenseitig zerfleischen.
Gehen Russland bereits die Kräfte aus?
Das allerdings kommt einem Shoigu nicht in den Sinn – weshalb die zivilen Opfer auch nur vorgeschoben sind. Tatsächlich scheitern weitere Geländegewinne daran, dass die russischen Terroristen zum einen nicht mehr mannstark genug sind, um großangelegte Bodenoffensiven durchzuführen, zum anderen aber auch die Hilfstruppen der Ostukrainer mittlerweile an der Sinnfälligkeit des Einsatzes zu zweifeln beginnen.
Shoigus angebliche Rücksichtnahme auf Zivilisten bedeutet insofern: Wir haben bereits zu viele Verluste in den eigenen Reihen hinnehmen müssen, als dass wir uns noch einen nennenswerten Erfolg bei weiteren Offensiven ausrechnen könnten. Da aber Militärführer derartiges niemals eingestehen dürfen, rettet sich Shoigu auf erstaunlich entlarvende Weise in den Satz: „Natürlich verlangsamt das das Tempo der Offensive, aber wir machen das absichtlich.“ – Wie war das noch gleich mit dem Fuchs, dem Raben und den Trauben?
In einem hat Shoigu Recht
Deshalb schließt der Tuwine seine Darlegungen in der usbekischen Hauptstadt Taschkent dann auch mit einem weiteren Vorwurf gegen die USA. Die versuchten, über die Ukraine die russischen Ressourcen zu erschöpfen, um den strategischen Konkurrenten auszuschalten. Grundsätzlich ist Shoigu hinsichtlich dieser Aussage nicht zu widersprechen. Tatsächlich läuft die westliche Unterstützung der Ukraine darauf hinaus, die Russen entweder zur Erkenntnis der Unmöglichkeit des Erreichens ihrer Ziele zu bringen – oder eben alternativ sie solange in der Ukraine zu beschäftigen, bis ihnen der militärische Nachschub für den Überfall ausgeht. Bemerkenswert allerdings ist die Begriffswahl des „Konkurrenten“. Denn ein Konkurrent ist kein Feind.
Das Problem bei solchen Äußerungen ist dann, wenn ihnen heftigste Kriegsrhetorik vorangegangen ist: Sie könnten von der anderen Seite nicht nur als Wunsch nach einer einvernehmlichen nicht-militärischen Lösung, sondern auch als Eingeständnis der Schwäche verstanden werden. So könnte es sein, dass das aktuelle Problem Russlands bereits weniger auf der Ebene eines nicht mehr zu gewinnenden Überfalls liegt, sondern darin, dass die Gegenseite keinen Anlass zu Verhandlungen sieht, weil die Schwäche des Angreifers dazu keine Notwendigkeit erkennen lässt.
Scheinbarer Goodwill und Verzweiflung können gelegentlich eng beieinander liegen. Ebenso wie seinerzeit, als Russland seinen durch die Ukraine erzwungenen Rückzug von der Schlangeninsel als eine „Aktion des guten Willens“ zu kaschieren suchte – und niemand auch nur ansatzweise bereit war, dieser schönen Lüge irgendeine Beachtung zu schenken.