Tichys Einblick

Samarkand – Kleinster gemeinsamer Nenner: Die Angst vor dem Volk

Es ist immer so viel einfacher für Autokraten und Despoten, eigenes Verschulden auszublenden und die eigenen Bürger, mit denen sich die Staatsmacht überwirft, zu ausländischen Agenten und Verrätern zu erklären. Das erspart zumindest den konzentrierten Blick auf das eigene Versagen und legitimiert den Anspruch der ungeteilten und zeitlich wie inhaltlich unbegrenzten Macht.

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Es ist die vielleicht faszinierendste Stadt in Zentralasien, die sich die Herren der „Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit“ (SCO) für ihr Familientreffen ausgesucht hatten. Samarkand – eigentlich Samarqand für „Steinerne Stadt“ – ist eine der ältesten Metropolen dessen, was der Westeuropäer unter Orient versteht. Sie steht als solche gleichzeitig symbolisch für den euro-russischen Kolonialismus des 18. und 19. Jahrhunderts ebenso wie für die Interessen der unterschiedlichen Gruppen, die von außen in das Herz Asiens streben.

Dieses Samarkand mit seiner islamisch geprägten Architektur, heute Provinzhauptstadt des UdSSR-Nachfolgestaats Usbekistan, war in der dritten Septemberwoche des Jahres 2022 Treffpunkt zahlreicher Länderherren, die am Ende nur eines wirklich eint: die Angst vor dem eigenen Volk.

Der gescheiterte Versuch, Konflikte friedlich zu lösen

Die ursprüngliche Intention der SCO (Shanghai Cooperation Organisation) war es, die durch den Zerfall des sowjetischen Imperiums entstandenen Grenzkonflikte auf friedliche Weise zu lösen. Derer gab es viele, denn vor allem der Imperator Stalin hatte in kolonialer Manier seine Sozialistischen Sowjetrepubliken nach dem Motto des Divide et Impera geschnitten. Einander traditionell skeptisch bis feindlich gegenüberstehende Bevölkerungsgruppen wurden willkürlich getrennt und vereint und zugeordnet mit dem Ziel, die Abhängigkeit von der Moskauer Zentralregierung möglichst groß zu halten.

Als die Sowjetunion implodierte und kolonisierte Völker und Ethnien den Weg in die Selbstbestimmung gingen, orientierten sie sich notgedrungen an jenen willkürlich von Moskau gezogenen Linien. Die daraus resultierenden Konflikte lodern regelmäßig auf – sei es der russische Anspruch auf die Krim und die Ostukraine, sei es der ungelöste Konflikt zwischen Aserbeidschan und Armenien um die Enklave Berg-Karabach, seien es die von Moskau etablierten, sogenannten „Republiken“ auf georgischem Boden oder der Grenzstreit zwischen Tadschikistan und Kirgistan, der pünktlich zum Treffen in Samarkand in die nächste heiße Phase ging.

Im Zentrum steht Asien

So liegt es auf der Hand, dass der SCO ursprünglich vor allem jene zentralasiatischen Länder angehörten, die in der Phase des Demokraten Boris Jelzin vielleicht noch tatsächlich gehofft hatten, dass sich die Sowjetfolgekonflikte auf friedlichem Wege würden lösen lassen. Die ursprünglichen „Shanghai Five“ waren 1996 die Volksrepublik China (VRC), die Russische Föderation (RF), Kasachstan, Kirgistan (Kirgisien) und Tadschikistan. Mit der Umwandlung in die SCO im Jahr 2001 stieß Usbekistan dazu. 2017 traten Indien und Pakistan bei, was besonders interessant ist, da diese beiden Länder seit der Unabhängigkeit der ehemaligen, britischen Kronkolonie sich faktisch in einem Dauerkrieg befinden.

Bemerkenswert auch, welche Länder nur Beobachtungsstatus haben: die Mongolei als quasi Schlüsselnation Zentralasiens bereits seit 2004, Afghanistan mit einem gegenwärtig überaus indifferenten Zustand seit 2012, das von Russland abhängige, europäische Belarus seit 2015 und der Iran, der vor einem Jahr die Vollmitgliedschaft beantragt hat. Als Dialogpartner werden Armenien, Aserbeidschan, Kambodscha, Nepal, Sri Lanka und die Türkei gelistet, Gaststatus hat Turkmenistan sowie die ASEAN als Vereinigung der südostasiatischen Staaten und die drei von Moskau geführten Vereinigungen GUS (als Nachfolgeversuch der UdSSR), OVKS (als Versuch Russlands, den Warschauer Pakt auf Grundlage früherer Sowjetrepubliken zu beleben) und die Eurasiatische Wirtschaftsunion als Versuch Russlands, eine Anti-EU zu schaffen.

Nicht mehr als ein informelles Forum

Die Zusammensetzung der SCO macht deutlich, dass die Organisation weit davon entfernt ist, ein einheitlich vorgehendes Instrument gegen westliche Wirtschafts- und Militärbündnisse zu sein. Sie verdeutlicht jedoch das aktuelle Ringen um die Macht in der Mitte Asiens – und letztlich über die ehemaligen Kolonien Russlands.

Neben der RF, die sich gegenwärtig nicht nur durch ihr Ukraine-Abenteuer schwächt und ihren Einfluss auf die Ex-UdSSR-Republiken behalten und mehren möchte, steht in der SCO vor allem die VRC, die das mongolische und sibirische Asien als sein Einflussgebiet sieht. Weitere Mitwirkende sind Indien, das traditionell gute Beziehungen vor allem zu Russland unterhält, jedoch auch kein Interesse an einer zu deutlichen chinesischen Dominanz hat. Dann ist der Iran zu nennen, dessen Mullahs vorrangig daran interessiert sind, einen schiitisch-islamischen Block gegen den Westen und zugleich gegen die Sunniten zu bilden, und nicht zuletzt die sunnitische Türkei und die turkstämmigen Republiken, die in ihrer historischen Distanz zur russischen Expansion ebenso wie in ihrer ewigen Konkurrenz zum Iran und zudem neuerlich in der Ambivalenz zu Chinas Hegemonialstreben und dessen Umgang mit den turkstämmigen Uiguren eine gänzlich eigene Position vertreten.

Treffen der SCO sind insofern derzeit nicht darauf ausgerichtet, global wirksame, gemeinsame Handlungen zu beschließen, sondern leisten bestenfalls ein Forum des Austausches und des Abbaus möglicher zwischenstaatlicher Krisen. Unter diesem Aspekt wird es nun besonders spannend, auf die beiden Hauptakteure und deren Erwartungen einen Blick zu werfen.

Putin und Xi als ungleiche Protagonisten

Wladimir Putin gilt seit seinem Überfall auf die Ukraine im Westen als Paria. Umso mehr war ihm daran gelegen, in die Welt das Signal zu schicken, dass er nicht allein steht und im Ernstfall viele und auch mächtige Verbündete hinter sich hat, sollte er seinen Anti-Ukraine-Terror in einen Krieg gegen die Nato ausufern lassen wollen. Insofern dürfte er derjenige der Anwesenden gewesen sein, der mit den größten Erwartungen nach Samarkand gereist ist – und, um es gleich vorweg zu schicken, zutiefst enttäuscht wurde.

Xi Jinping wiederum denkt deutlich langfristiger als der um seine Reputation ringende Kollege an der Moskwa. Der Nachfolger Maos hat Putins Überfall nie offiziell unterstützt – ihn aber auch nicht verteidigt. Er beschränkt sich auf die russische Lesart, wonach die USA und die Nato die eigentlichen Verursacher des Konflikts seien, weil sie Russland in den vergangenen Jahren zu nah gekommen sind. Das entspricht seiner eigenen Begründung für den Fall, dass er eines Tages die gewaltsame Übernahme der demokratischen Inselrepublik China befehlen sollte.

Zudem eint ihn mit Putin die Ablehnung der angeblich monopolaren, aus Washington gesteuerten Welt – mit dem entscheidenden Unterschied allerdings, dass die RF sich in einem Prozess des kolonialen Niedergangs befindet, wie ihn bereits das Vereinigte Königreich und Frankreich hinter sich haben, während sich die VRC als entscheidender Faktor einer künftigen, neuen Weltordnung sieht. Xis Sirenengesänge von einer „multipolaren Welt“ dienen hierbei lediglich der Beruhigung der tatsächlichen Multipolaristen wie Russland, Türkei, Indien und Iran.

Putins enttäuschte Hoffnungen

Insofern lagen die Erwartungen an den Gipfel auf gänzlich unterschiedlichen Ebenen mit unterschiedlicher Intention. Moskau sucht nicht erst seit seinem Überfall auf die Ukraine nach militärischen Auxiliarii, für die es die ehemaligen Sowjetrepubliken einspannen möchte. China hingegen bedarf keiner militärischen Unterstützung und weitet sein Einflussgebiet wirtschaftlich aus. Entsprechend waren die Treffen und Äußerungen der führenden Vertreter anlässlich des Gipfels in Samarkand vor allem in dem interessant, was nicht oder wie es gesagt wurde. Für Putin war es zudem der persönliche Versuch, sich selbst als Staatsmann von Bedeutung und nicht als Kriegstreiber präsentieren zu können, weshalb er allein schon deshalb aus der Defensive kommend die schlechteren Karten in der Hand hatte.

Putin agierte nach dem Prinzip Hoffnung, wiederholte die Erzählung von der Notwendigkeit, „die internationale Ordnung neu zu gestalten“. Es ist der verzweifelte Versuch des Russen, irgendwie wieder an die Bedeutung der ehemaligen Sowjetunion anzuknüpfen – und die gleichzeitig mangelnde Erkenntnis, dass es Russland selbst gewesen ist, das nach dem Zusammenbruch der UdSSR die Chance verspielt hatte, von einem Entwicklungsland mit Weltmachtanspruch zu einer Wirtschaftsmacht mit Weltgeltung zu werden.

Dass die Verantwortung für dieses Versagen eines der an Möglichkeiten reichsten Länder der Erde maßgeblich Putin nach seinen nunmehr über 20 Herrschaftsjahren selbst anzulasten ist, wird sich der Leningrader jedoch niemals eingestehen können, weshalb er die Schuld für sein persönliches Versagen gleichermaßen bei Vorgängern wie Lenin, angeblichen Nationalisten wie den Ukrainern und nicht zuletzt immer wieder bei den bösen Kapitalisten in Washington sucht.

Die Not, in der sich Putin längst befindet, wird deutlich, wenn er „Instrumente des Protektionismus, illegale Sanktionen und wirtschaftlichen Egoismus“ verurteilt, derer er sich selbst jederzeit gern bedient und die er nur anderen untersagen möchte. Putin lobt „die ausgewogene Position unserer chinesischen Freunde in der Ukraine-Krise“, und er habe Verständnis für chinesische Bedenken in dieser Frage.

Schälen wir die diplomatischen Floskeln von dieser Aussage ab, dann bleibt: Xi hat Putin dargelegt, dass Peking alles andere als zufrieden mit der Situation ist. Er erwartet, dass Putin die Angelegenheit beendet – entweder so, wie er es vor den Pekinger Winterspielen zugesagt hatte, mit der faktisch bereits gescheiterten Totalübernahme, oder eben mit einer diplomatischen Lösung, die Putin zumindest viel Gesicht kosten wird.

Xi schaut zu, wie sich Putin verschleißt. Er hält ihm das solidarische Stöckchen hin, doch er wird in den Ukraine-Konflikt nicht auf Russlands Seite eingreifen. Viel zu eng sind die wirtschaftlichen Abhängigkeiten der sich nach dem Corona-Debakel gerade wieder erholenden, chinesischen Wirtschaft vom ungeliebten Westen. Für Xi gab es niemals etwas anderes und wird es niemals etwas anderes geben als „China first“! Russland mag nützlich sein – aber am Ende ist es immer noch eine europäische Kolonialmacht, die mit Gewalt in den asiatischen Vorhof Chinas eingedrungen ist.

Keine Freu(n)de in Samarkand

Noch deutlicher wurde Nahendra Modi, dessen Indien zwar traditionell enge Beziehungen zu Russland unterhält, das aber ebenfalls keinerlei Interesse an der Fortsetzung des Ukraine-Konflikts hat. Wie für Xi gilt für ihn: „India First!“ Will Russland eigene Abenteuer starten, soll es damit die anderen nicht belästigen und deren Interessen gefährden. Doch genau das tut Putin mit der gescheiterten Invasion. Er schafft keine neue, multipolare Weltordnung – er schafft eine globale Weltunordnung. Daran hat außer Putin keiner der Anwesenden der SCO-Runde Interesse. Deshalb lässt der Hindu ganz im Geist der SCO wissen: „Es ist nicht die Zeit für einen Krieg“ und fordert ein Ende der Kampfhandlungen.

All das kann Putin nicht gefallen haben. Er hatte auf Solidarität gehofft – nicht auf Kritik. Und so rettet er sich einmal mehr in das Prinzip Hoffnung seines mächtigen Russlands in einer künftigen Welt: „Die wachsende Rolle neuer Machtzentren, die miteinander kooperieren, wird immer deutlicher.“ Es ist der Traum, dass das aufstrebende China Russland und die anderen Mittelmächte tatsächlich dauerhaft als gleichberechtigte Partner wahrnehmen könnte.

Xi zockt Putin ab

„Xi zockt Putin ab – und der merkt es nicht einmal“, sagte ein Beobachter, der mit den Regularien autokratisch-sozialistischer Systeme bestens vertraut ist. Nichts beschreibt die Situation besser. Der Pekinger spielt seine Karten geschickt aus. Die Vision der multipolaren Welt für Putin und die anderen, dabei gleichzeitig die Finger bereits tief ausgestreckt in die Gefühlslagen jener künftigen Partner in Zentralasien, die sich zwischen allen Stühlen sitzend fühlen.

Putin selbst hat Xi das Tor geöffnet – oder besser: Sein Adlatus Medwedew. Der zum Oberfalken mutierte, frühere Hoffnungsträger der westlichen Welt spielt nicht nur immer noch mit der Atomdrohung gegen die Nato, von der sich Russland längst schon zurückgezogen hat, weil es weder einen konventionellen Krieg gewinnen noch einen atomaren Gegenschlag überleben könnte – er hat vor allem sichergestellt, dass in allen Ex-Sowjetrepubliken die Warnsignale auf Rot stehen.

In seinen Rundumschlägen gegen die Ukraine hat Putins Gefolgsmann zu häufig darauf hingewiesen, dass aus Moskauer Sicht kein einziger der Nachfolgestaaten ein Recht auf nationale Souveränität hat. Außer Russland selbstverständlich, welches eben bereits in der Sowjetunion faktisch die imperiale Hoheit über die Eroberungen der Zaren und Stalins hatte. Hier geht es nicht einmal mehr um Völker – hier geht es ganz unmittelbar um jene Autokraten, die sich ein Leben am Gängelband Moskaus nicht mehr vorstellen möchten.

Xi sammelt die Ex-Republiken ein

Wussten die Balten und die ehemaligen Ostblockstaaten dieses bereits, bevor Medwedew es unmissverständlich proklamierte, so haben es nun auch die kleinen und größeren Republiken in Zentralasien verstanden. Xi muss sie nur noch einsammeln, um Russland abschließend aus seinem Vorhof zu verdrängen. Beim größten zentralasiatischen Ex-UdSSR-Staat hat Xi dieses demonstrativ während der SCO-Tagung bereits getan. Seine Staatsmedien ließen zielgenau verlauten: „China wird jederzeit die Wahrung der nationalen Unabhängigkeit Kasachstans unterstützen.“

Es ist eine Botschaft, die sich explizit gegen Putin richtet: Egal, wie Deine europäischen Abenteuer ausgehen – in Asien stellt Peking die Schutzmacht. China wird nicht zulassen, das Russland aus Kasachstan eine zweite Ukraine macht. Und was für Kasachstan gilt, das gilt auch für die vielen Kleinen, die nach russischer Sicht dem früheren Hegemon auch heute noch zu dienen haben. Faktisch hat China Zentralasien bereits in der Tasche – und Moskau steht mit leeren Händen da.

Xi weiß, dass China am Zug ist

Dabei hat es die VRC gegenwärtig überhaupt nicht nötig, territoriale Ansprüche zu stellen. Sie hat es auch nicht nötig, die vielen kleinen Republik zu annektieren. Noch nicht – und den Rest wird die Zeit zeigen, wenn China wie längst schon in die im 19. Jahrhundert abgepressten Gebiete Chabarowsk und Wladiwostok von Tag zu Tag mehr über viele arbeitsame Chinesen einsickert und Abhängigkeiten schafft. So lässt Xis Satz, wonach sich „die internationale Ordnung in eine gerechtere und vernünftigere Richtung entwickelt“, für Putin zwar den von ihm ersehnten, interpretatorischen Spielraum – doch er zeigt ihm gleichzeitig seine Grenzen auf, ohne dass sich Putin Gewahr wird.

Am Ende der SCO-Tagung bleibt dann nur noch ein Satz stehen, auf den sich fast alle der Anwesenden widerspruchslos einigen können. Xi formuliert die Urangst aller Autokraten, wenn er die russische Erzählung übernimmt, wonach die Revolution des Euromaidan ein CIA-gesteuerter Putsch gewesen sei und fordert: „Wir müssen ausländische Kräfte daran hindern, ‚Farbenrevolutionen‘ anzuzetteln!“

Es ist auch so viel einfacher, eigenes Verschulden auszublenden und die eigenen Bürger, mit denen sich die Staatsmacht überwirft, zu ausländischen Agenten und Verrätern zu erklären. Das erspart zumindest den konzentrierten Blick auf das eigene Versagen und legitimiert den Anspruch der ungeteilten und zeitlich wie inhaltlich unbegrenzten Macht.

Und so bleibt am Ende des Treffens in Samarkand der einzige gemeinsame Nenner, auf den sich alle Anwesenden einigen können, die Angst vor dem eigenen Volk.

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