Tichys Einblick
Ukraine und Russland – Teil 2

Patrioten, Nationalisten, Faschisten, Antifaschisten

Tomas Spahns zweiter Teil seiner Antworten auf Leserkommentare zum Themenkreis Russland und Ukraine. Die Umkehrung der Faschismus-Antifaschismus-Agenda wird zur Pseudo-Legitimation des großrussischen Herrschaftsanspruchs eingesetzt.

Russische Soldaten in der Ukraine

IMAGO / SNA

In gewisser Weise charakteristisch für die Vorstellungswelt der Pro-Putin-Kommentatoren ist die unreflektierte Übernahme jenes Narrativs, mit dem die usurpatorischen Sozialismusrevolutionäre ihren Kampf gegen die bürgerliche Demokratie begründen, und welches von den Neorussen um Putin in Umkehrung der tatsächlichen Faschismus-Antifaschismus-Agenda nun zur Pseudo-Legitimation des großrussischen Herrschaftsanspruchs eingesetzt wird.

So wird den zuletzt im zerstörten Mariupol Widerstand leistenden Männern des Asowschen Regiments vorgeworfen, sie stünden in der Tradition des Stepan Banderas, seien deshalb „Faschisten“, „Nationalisten“ oder – eingekürzt – „Nazis“.

Das Asowsche Regiment

Fakt bleibt: Diese Männer waren und sind Teil der regulären Ukrainischen Armee. Sollte daraus abgeleitet werden, dass die ukrainischen Streitkräfte ein, wie es in der BRD synthetisiert wird, „Rechtsextremismusproblem“ haben, so ist dieses nichtsdestotrotz eine ausschließlich ukrainische Angelegenheit, solange diese Einheiten nicht einen unprovozierten Vorstoß auf ein Nachbarland in die Wege leiten. Das haben sie seit der Gründung der Ukraine zu keinem Zeitpunkt getan, weshalb dieser mögliche, aber unbewiesene Vorwurf des Kremls diesen und die russische Duma nicht das Geringste angeht.

Tatsache ist: Diese Männer sind ohne jeden Zweifel Patrioten. Patrioten einer freien und unabhängigen Ukraine. Das macht sie angesichts der von Berlin bis Moskau verbreiteten Internationalismusthetik für Sozialisten und Kommunisten zu real existierenden Nationalisten.

Nun müssen Soldaten allerdings, wenn sie im Namen und im Auftrag eines Landes als Soldaten und nicht als Söldner dieses Landes unter dessen Befehl für dieses Land kämpfen, zwangsläufig immer „Nationalisten“ sein, denn es ist ihre wichtigste Aufgabe, die eigene Nation, ihr Land, ihre Familien zu schützen.

Wenn aus Patrioten zuerst Nationalisten und daraus dann Faschisten werden, so ist dieses ausschließlich kommunistische Agitprop – der Versuch einer vorgeblich „antifaschistischen Gesinnung“, Fakten derart mit Behauptungen und Unterstellungen zu vermengen, dass sie dem eigenen, ungerechtfertigten Machtanspruch eine scheinbare Legitimation verleihen. Folglich entlarvt sich zwangsläufig ein jeder, der dieses Narrativ unreflektiert übernimmt, entweder als Agitator der illegalem Machtansprüche des Kreml oder als Vertreter einer sozialistischen Weltdiktatur. In den (a)sozialen Medien wird eine solche Person der ersten Kategorie gemeinhin als „Putin-Troll“ bezeichnet. Als Person der zweiten Kategorie ist sie in der neosozialistischen und postbürgerlichen BRD in den 2020ern zum Objekt staatlicher Förderung geworden.

Held oder Antiheld – oder einfach nur in die Tragik der Zeit geboren?

Bleibt bei Asowschen Regiment noch die Nähe zu Stepan Bandera. Bei diesem 1909 in der damals österreichischen Westukraine geborenen Mann handelt es sich um eine fast schon typische Figur der politisch-ideologischen Wirrungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Als ukrainischer Nationalist bekämpfte er die Republik Polen, die nach der Zerstörung des K.u.K-Vielvölkerstaats der Habsburger durch die Alliierten die Kontrolle über den Großraum Lemberg/Lwiw übernommen hatten. Von 1934 bis 1939 in polnischer Haft, kam er nach der Besetzung Ostpolens durch Stalins Rote Armee frei und kooperierte mit der Deutschen Wehrmacht gegen jene, die er wie die Polen als Feinde eines unabhängigen ukrainischen Vaterlands verstand.

Gemeinsame Gegner schaffen Verbündete – auf Zeit, häufig wider die Vernunft, nicht selten wider die dann doch nicht vereinbaren politischen Ziele. Banderas Feind war nun Stalins Sowjetunion.

Der von Bandera geführten „Organisation Ukrainischer Nationalisten – Banderiwzi“ wird zurecht vorgeworfen, sich vergleichbar den Vorgängen in anderen Ex-UdSSR-Republiken aktiv an antijüdischen Pogromen beteiligt zu haben. Belegt ist zudem die Verhaftung von rund 3.000 Juden, die von der Bandera-Miliz der SS-gesteuerten, deutschen „Sicherheitspolizei“ zugeführt und am 4. Juli 1941 ermordet wurden. Historiker gehen davon aus, dass diese Taten, an der Bandera, der sich zu diesem Zeitpunkt in Krakau aufgehalten haben soll, nicht unmittelbar beteiligt gewesen ist, auch eine Reaktion auf ein unmittelbar zuvor begangenes Verbrechen des sowjetischen Geheimdienstes NKWD gewesen ist. Einheiten des Moskauer Inlandsgeheimdienstes hatten vor ihrer Flucht vor der Wehrmacht rund 4.000 ukrainische Häftlinge ermordet – vermutlich, da deren Befreiung und der Einsatz politischer Häftlinge an der Seite der Wehrmacht gegen die Rote Armee erwartet wurde.

Das rechtfertigt nichts, kann aber ein wenig helfen, die damalige Situation zu verstehen. Bandera selbst wurde noch im selben Monat von der Gestapo verhaftet und überlebte den Krieg als sogenannter „Ehrenhäftling“ im KZ-Sachsenhausen. Offenbar wollte sich die Reichsführung den Nationalukrainer für mögliche Vasallendienste als Präsident eines Reichs-abhängigen Vasallenstaats Ukraine nach dem Sieg über Stalin sichern.

Am 25. September 1944 kam Bandera aus der Haft frei – sein Versuch, ein anti-sowjetisches Nationalkomitee der Ukraine zu gründen, scheiterte am schnellen Vorstoß der Roten Armee. 1946 setzte er sich über Österreich nach München ab, wo er am 15. Oktober 1959 von einem KGB-Agenten im Auftrag Moskaus ermordet wurde.

Tradition und politische Interpretation

Der Lebenslauf des ukrainischen Nationalisten lässt Bandera, wobei auf beiden Seiten die Verstrickungen in den Holocaust in den Hintergrund geraten, für Russen und Kommunisten zu einem Monster in Menschengestalt werden – für national gesinnte Ukrainer hingegen ist er ein Freiheitsheld im Kampf gegen die russische Okkupation ihrer Heimat.

Eine nationale Identität, die keine Helden hat, schafft sich welche, die den nationalen Kampf gegen einen übermächtigen Gegner verkörpern. Bei Bandera ist es die kompromisslose Gegnerschaft zu den Moskowitern, die ihn den Ukrainern zu einem Helden macht. Die negativen Aspekte der Heldenfigur zu reflektieren, bleibt in vergleichbaren Situationen stets einer Zeit vorbehalten, in der der Befreiungskampf zu seinem Ende gekommen ist.

Ausschließlich dieser Aspekt des Freiheitshelden gegen Russland auch prägte das ursprüngliche Freiwilligenbataillon, welches 2014 nach der Abtrennung der östlichen Ukraine durch russisch unterstützte Personenkreise aufgestellt wurde und das seitdem erfolgreich gegen die sogenannten „Separatisten“ gekämpft hatte.

Es ist naheliegend, dass diese russisch-sprachige Einheit der Ukrainischen Armee Anfangs auch für radikale Nationalisten, die im sozialistischen Sprachgebrauch als „Faschisten“ oder „Rechtsextremisten“ bezeichnet werden, attraktiv war. Antirussisch war sie ohnehin – der Kampf gegen die rechtswidrigen Ansprüche des großen Nachbarn auf Teile der Ukraine war die Gründungsmotivation.

So blieb bis zur Aufgabe des Regiments in Mariupol ihr verbindendes Element die unversöhnliche Gegnerschaft zum national- bzw. großrussischen Machtanspruch, der den Ukrainern sowohl eine eigene Nationalidentität als auch das Eigenstaatlichkeitsrecht grundsätzlich abspricht.

Experten unterstreichen jedoch, dass der Vorwurf des „Rechtsextremismus“ in jenem Regiment, welches sich zuletzt in der von Russland vernichteten Hafenstadt auf Gedeih und Verderb der russischen Übermacht ergeben musste, schon lange keine Rolle mehr gespielt hatte. So war das Festhalten am Regimentssymbol der an die SS-Runen erinnernden „Wolfsangel“, geboren aus der Absicht, sich in die Tradition der antirussischen Freiheitskämpfer zu stellen, gleichwohl mehr als nur ein marketingtechnischer Fehlgriff. Es war die Einladung an die Verfechter der großrussischen Ideologie, den „Asowschen“ eine ewige Nazinähe aufzuframen. Es war eine Einladung, die sich Putin und dessen Propagandaorgane nicht entgehen lassen konnten.

Tatsache allerdings bleibt: Seit seiner Gründung hat das Regiment als reguläre Einheit der Ukrainischen Armee seinen Dienst für sein Vaterland getan, ohne dass irgendwelche „Nazi“-Exzesse bekannt geworden wären. Der Übergang zwischen Traditionalismus und politischem Radikalismus mag dabei, wie anderorts auch, fließend sein – doch auch das wäre, sollte es tatsächlich so sein, ausschließlich eine innere Angelegenheit der Ukraine.


Es folgen weitere Teile. Teil 1 „Auf der Suche nach der Scheinwelt“ lesen Sie hier.

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