Als die ungleichen Verbündeten 1945 das besiegte Deutsche Reich unter sich aufteilten, schob Imperator Stalin sein Sowjetunion genanntes, großrussisches Reich viele hundert Kilometer weiter nach Westen. Die heute zur Ukraine gehörenden, früher österreichischen Gebiete um Lemberg (Lwiw) und Stanislau (Ivano-Frankiwsk) wurden ebenso von Russland eingemeindet wie das polnische Brest und die baltischen Staaten. Die in den zuvor polnisch verwalteten Gebieten lebende, zumeist nicht-russische Bevölkerung wurde mit mehr oder weniger sanftem Druck aufgefordert, nach Westen zu migrieren. Rund 1,7 Millionen Polen und auch Ukrainer sollen den Gang in die ehemals deutschen Ostprovinzen angetreten haben.
Aus Königsberg wurde Kaliningrad – benannt nach Michail Iwanowitsch Kalinin. Der 1875 in Nordrussland geborene Berufsrevolutionär gehörte zu jenen, die 1917 die russische Macht usurpierten und das sozialistische Terrorregime aufbauten. Mehrmals offiziell Staatsoberhaupt der UdSSR, war er ein getreuer Gefolgsmann Stalins und zeichnete unter anderem den Massenerschießungsbefehl an polnischen Offizieren und Intellektuellen in Katyn ab. Kaliningrad wäre insofern – gemessen an deutschen Verhältnissen – in etwa so, als würde man eine Metropole „Göringstadt“ nennen. Weshalb und aus historischen Gründen die Stadt Kants ebenso wie die derzeit von Russland verwaltete, gleichnamige Oblast im Weiteren als Königsberg genannt werden wird.
Königsberg als Vorposten in Nato-Territorium
Dieses derzeit russisch verwaltete Königsberg, für Stalin gleichsam westlicher Vorposten des Imperiums innerhalb des eigenen Staatsgebiets, wurde mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion zur Exklave. Michail Gorbatschow soll deshalb, so wird erzählt, das nördliche Ostpreußen im Zuge der Verhandlungen über die DDR der bundesdeutschen Regierung zum Kauf angeboten haben. 48 Milliarden Deutschmark hätten damals im Raum gestanden – doch die Deutschen hätten abgelehnt und dem damaligen Außenminister Hans-Dietrich Genscher wird das Zitat zugesprochen, er wolle Königsberg nicht einmal geschenkt haben.
Sollte es so gewesen sein, so wird Genschers Ablehnung vor allem in den damals zu erwartenden, polnischen Ängsten ihre Ursache gehabt haben – zu präsent noch war die Erinnerung daran, dass die deutsche Forderung nach einem Korridor zwischen Reich und Exklave Ostpreußen maßgeblich zur Begründung des deutschen Überfalls auf den Nachbarn diente. Nun allerdings, rund dreißig Jahre später, wären vermutlich Balten, Polen und Deutsche froh, hätte damals der Bundesfinanzminister die in Euro knapp 25 Milliarden locker gemacht und auf das Konto der sowjetischen Regierung überwiesen. Denn im Jahr 2022, dem Jahr Eins des russischen Terrorüberfalls auf die Ukraine, ist Königsberg ein unsinkbarer Raketen- und Flugzeugträger der Moskowiter inmitten des Nato-Territoriums.
Selbst hochmoderne und atomwaffenfähige Iskander-Systeme sind nach Aussagen des Kreml in der Oblast stationiert – von der Nato als Verstoß gegen bestehende Abrüstungsverträge eingestuft, weshalb US-Präsident Donald Trump 2019 den Ausstieg aus dem INF-Vertrag erklärte. Auch liegt in Königsberg die russische Ostseeflotte – was sie allerdings äußerst anfällig macht für den Fall, dass es zwischen Russland und der Nato zu einem bewaffneten Konflikt kommen sollte. Behauptet wird zudem, dass Russland in Königsberg Atomwaffen stationiert hat.
Der Transit nach Königsberg
Wie am Vorabend des deutschen Überfalls auf Polen wird nun die Exklave einmal mehr zum propagandistischen Zankapfel. Denn nun hat das an Königsberg angrenzende Litauen Russlands Bahntransit durch sein Staatsgebiet erheblich eingeschränkt. Waren, die auf der Sanktionsliste der Europäischen Union stehen, verwehren die Balten die Durchfahrt. Das soll bis zur Hälfte der Transitgüter betreffen, darunter Erze und Metalle sowie Baumaterialien, aber auch Technologieprodukte.
Das entbehrt zwar nicht einer gewissen Ironie, wenn es von Menschen formuliert wird, die seit einigen Wochen einen anhaltenden Terrorakt organisieren, der gegen jeden Grundsatz zivilisierter Koexistenz und gegen jedes Völker- und Kriegsrecht verstößt und zudem noch zigtausenden Ukrainern Leben und Existenz kostet, doch es bedient jene russischen Hitzköpfe und Falken, die ihren eigenen Lügen glauben und mittlerweile einen militärischen Überfall auf Litauen und damit den offenen Krieg gegen die Nato fordern, um – wie einst die nationalen Sozialisten im Deutschen Reich – einen „Korridor“ zur Exklave zu erkämpfen und dabei gleich das gesamte, dazwischen liegende Land zu erobern.
Russland fehlen die militärischen Mittel
Davor allerdings wird sich Russlands nicht nur nach Völkerrecht kriminelle Führung hüten. Russlands konventionelle Streitkräfte haben sich in der Ukraine längst zum Gespött gemacht, weil es ihnen nach der Überraschung geschuldeten Anfangserfolgen nicht einmal mit Flächenbombardement und Totalzerstörung ganzer Landstriche gelingt, spürbare territoriale Gewinne zu verzeichnen. Auch soll nach westlichen Geheimdiensterkenntnissen bereits weit mehr als ein Viertel der gesamten russischen Streitmacht dem anhaltenden Widerstand der Ukrainer zum Opfer gefallen sein.
Einen offenen Krieg gegen die Nato kann sich Russland nicht leisten – konnte es noch nie, auch wenn alle Welt etwas anderes glauben sollte und wollte. Im Ernstfall, auf den die Nato mittlerweile vorbereitet ist, wird die Effizienz vor allem der US-Armee die russischen Landstreitkräfte derart treffen, dass weitere russische Vorstöße chancenlos blieben. Moskau bliebe dann nur der finale Griff zur Atomwaffe – wobei nach wie vor unbekannt ist, wie viel des angeblich verfügbaren Arsenals lediglich Putinsche Dörfer sind. Selbstmord aus Angst vor dem Tod? Auch wenn sich die russische Führung bis hin zum früher pragmatisch-rationalen Außenminister Sergej Lawrow in ihren Kokon aus paranoiden Lügen, Illusionen und Fehleinschätzungen eingesponnen hat, wird den Herren im Kreml immer noch ein Rest an Rationalität zugesprochen.
Also bleibt es bei der bislang erfolgreichen Taktik, den Westen mit wüsten Drohungen und Beschimpfungen vor sich her zu treiben. Litauen soll verängstigt werden – dessen Außenminister Gabrielius Landsbergis verweist allerdings zutreffend darauf, dass sein Land nur EU-Vorgaben erfülle. „Es ist nicht Litauen, das etwas tut – es sind die europäischen Sanktionen, die am 17. Juni in Kraft getreten sind“, ließ er am Rande des EU-Außenministertreffens in Luxemburg wissen. Josep Borell, dem Titel nach „Hoher Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik“, flankiert: „Es handelt sich nicht um eine Blockade, sondern lediglich um das Transportverbot für bestimmte Arten von Waren. Der Transit auf dem Landweg zwischen Russland ist nicht gestoppt oder verboten worden.“
Es droht der totale Gaslieferstopp
Das allerdings wird die Moskowiter nicht davon abhalten, das begrenzte Transportverbot zur Versorgung der rund 430.000 in Königsberg lebenden Menschen mit nicht lebensnotwendigen Gütern zum Anlass zu nehmen, um weitere Daumenschrauben gegen die Europäer anzulegen. Dazu könnte in absehbarer Zeit ein Totalstopp der Gaslieferungen gehören.
Hier ist vor allem Deutschland äußerst anfällig, solange es aus ideologischen Gründen trotz Verlängerung der Kohleverstromung am Aus für die umweltfreundliche AKW-Technologie festhält. In gewisser Weise stellen die EU-Länder gegenwärtig bereits auf Kriegswirtschaft um, wenn nun beispielsweise auch Dänemark die Frühwarnstufe im Gas-Notfallplan ausgibt. Die russische Gazprom hatte Ende Mai den Lieferstopp an die dänische „Orsted“ mitgeteilt. Martin Hansen, Leiter der dänischen Energie-Agentur: „Die Situation ist ernst, sie wurde durch gedrosselte Lieferungen weiter verschärft.“ Deutschland hatte einen solchen Schritt bereits Ende März verkündet – die drastischen Lieferkürzungen durch Russland setzen die bundesdeutsche Regierung nun zusätzlich unter erheblichen Zugzwang.
Zudem könnte Moskau darauf hoffen, die bisher recht einige Front gegen seine Terrorpolitik in der EU in absehbarer Zeit bröckeln zu sehen. Die Parlamentswahlen in Frankreich haben mit dem moskautreuen Altkommunisten Melanchon und der Putin-affinen LePen zwei Gruppen stark gemacht, die bereit scheinen, in ihrer EU-Aversion die Ukraine an Russland zu verraten. In Italien kriselt es ebenfalls: Die linksorientierte Chaotentruppe der „Cinque Stelle“ hat ihre ursprüngliche Zustimmung für Waffenlieferungen zurückgezogen – Mario Draghis Notkabinett ist in Nöten.
Nicht nur deshalb verhandeln die USA gegenwärtig mit Partnern und Verbündeten darüber, durch einen Ölpreisstopp und eine verstärkte Förderung die von Russland provozierte Energieknappheit abzufedern. Vor allem den ärmeren Ländern, die unter den aktuell extrem hohen Ölpreisen besonders leiden, soll damit geholfen werden – eine Maßnahme auch, um sie nicht länger in die Arme Putins zu treiben, der sie durch Sonderkonditionen lockt, in der internationalen Auseinandersetzung die Seiten zu wechseln.
Kein Krieg, nur eine Krise
Der russische Terrorangriff auf die Ukraine hat sich längst zum unerklärten Weltkrieg entwickelt. Alle wissen es – aber niemand traut es sich zu sagen. Selbst Peskow spricht nur von „einer langen Krise“, die es geben werde. Wobei er mit Blick auf zwei US-Bürger, die von russischen Einheiten als Kämpfer für die Ukraine gefangen genommen wurden, selbst ein Sakrileg begeht, wenn er trotz des russischen Kriegserwähnungsverbots davon spricht, dass für diese Gefangenen der Schutz der Genfer Konvention nicht gelte. Linientreu hätte er es auch damit begründen können, dass es sich nach russischer Lesart in der Ukraine um eine „militärische Spezialoperation“ und nicht um einen Krieg handelt – womit die Genfer Konvention ohnehin aus dem Spiel wäre.
Allerdings ist die Halbwertzeit solcher „nie-wieders“ in der Politik erfahrungsgemäß eher kurz. Spätestens, falls irgendwann nach Putin eine rational-gemäßigte Regierung Russlands Geschicke in die Hand nehmen wird, wäre allen Beteiligten zu empfehlen, behutsam das verlorene Vertrauen wieder aufzubauen. Bis dahin allerdings werden weiterhin Drohungen und Lügen, Massenmord und Zerstörung die Tagespolitik bestimmen und zunehmend mehr als die Normalität des Faktischen akzeptiert werden.
Offenbar sind die Menschen so. Wenn ein Psychopath irgendwo zehn oder auch nur einen Menschen ermordet, greift völlig zu Recht über das berechtigte Entsetzen ein ausgeklügelter und effizienter Justizapparat, um den Täter seiner Strafe zuzuführen. Wenn jedoch ein Soziopath ein Nachbarvolk überfallen lässt und Tausende metzelt, dann ist das nur internationale Politik und der Massenmörder darf sich sogar noch auf internationalen Konferenzen feiern lassen. Aber so waren sie schon immer, die Fugen, aus denen die Welt immer dann zu geraten scheint, wenn die Normalität des Krieges die kurzen Zwischenphasen der Normalität einer zivilisierten Menschheitsepoche ablöst.