Die 2001 von Putin angestrebte Eurasische Union als Machtpol des Zusammenschlusses von Europäischer Union und Russland musste, obgleich seinerzeit noch ohne jede Aggressivität vorgetragen, eine mögliche Urangst der USA berühren:
„Niemand bezweifelt den großen Wert der Beziehungen Europas zu den Vereinigten Staaten. Aber ich bin der Meinung, dass Europa seinen Ruf als mächtiger und selbstständiger Mittelpunkt der Weltpolitik langfristig nur festigen wird, wenn es seine eigenen Möglichkeiten mit den russischen menschlichen, territorialen und Naturressourcen sowie mit den Wirtschafts-, Kultur- und Verteidigungspotenzialen Russlands vereinigen wird. Die ersten Schritte in diese Richtung haben wir schon gemeinsam gemacht. Jetzt ist es an der Zeit, daran zu denken, was zu tun ist, damit das einheitliche und sichere Europa zum Vorboten einer einheitlichen und sicheren Welt wird.“
Mit diesem Absatz beschreibt Putin seine politische Vision, die in der Vorstellung einer multipolaren Weltordnung mit einem euro-russischen Machtpol ohne US-Einfluss gipfeln sollte. Putin ging 2001 noch nicht offen in Konfrontation zu den USA, machte aber deutlich, dass er deren Einfluss in Europa (und nicht nur auf die EU) verringert sehen möchte. Putin rührte damit an US-amerikanische Befindlichkeiten, wie sie beispielhaft der Strategie-Thinktanker George Friedman im Jahr 2011 in seinen Büchern „The Next Decade“ und „The next 100 Years“ zum Ausdruck bringen sollte.
Tatsächlich haben beide Entwicklungen aufgezeigt, dass das „Reich der Mitte“ auf tönernen Füßen steht. Wobei wir offenlassen, ob die Corona-Politik den Auslöser für den Exporteinbruch gegeben hat – oder ob dieser maßgeblich durch die globalstrategischen Entwicklungen verursacht wurde. Denn die Suche nach der unmittelbaren Ursache gliche der nach der Frage, was zuerst da war: Das Huhn oder das Ei.
Exkurs: Der Niedergang der VRChina
Tatsache ist, dass durch die restriktive Corona-Politik die Produktions- und Logistik-Abläufe der VRC in sich zusammengebrochen sind. Im Hauptexporthafen Shanghai stapelten sich Güter, welche aufgrund fehlenden Hafenpersonals nicht in den Export gehen konnten. Gleichzeitig brachen die Produktions- und Lieferketten zusammen, weil einerseits auch dort das Personal fehlt, andererseits der Auslieferstau keine Weiterproduktion auf Halde zuließ.
Welche Konsequenzen diese Entwicklung vor allem für China haben wird, ist nicht absehbar – so, wie auch nicht wirklich erklärbar ist, warum die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) wegen einiger Corona-Fälle ganze Landstriche und Stadtteile in Geiselhaft nimmt und damit die eigene Volkswirtschaft lahmlegt.
Nun mag die Frage erlaubt sein, wie hoch die Sterberate an einem pandemischen Virus sein muss, um in einer gut 1,4 Milliarden Menschen umfassenden, an staatliche Restriktion gewöhnten Population tatsächlich zu Regime-gefährdenden Aufständen zu führen. Es liegt daher der Verdacht nahe, dass die Führung der KPCh mit ihrer Corona-Rigorosität andere Ziele verfolgte.
In diesem Zusammenhang mag jene unbedacht in die Öffentlichkeit geratene Passage höchst informativ sein, mit der ein Polizist des Systems eine revoltierende, eingesperrte ältere Dame in Shanghai mit dem Hinweis gefügig machen wollte, dass man sich doch bald im Krieg mit den USA befände und nur die KPCh das chinesische Volk retten könne.
Die Gefahr des Zerfalls des Reichs der Mitte
Sollte dieses Narrativ gleichsam als offizielles Erklärungsmodell aus Kreisen der Pekinger Führung kommen und nicht auf dem persönlichen „Mist“ des Polizisten gewachsen sein, so kann es zweierlei bedeuten:
- Entweder, die KPCh geht davon aus, dass ihre expansionistische Politik eher über kurz als über lang eine militärische Reaktion der USA provozieren wird, oder
- Die KPCh plant bereits einen aus ihrer Sicht unvermeidlichen Angriffskrieg gegen die USA.
Unabhängig davon, welche Version präferiert wird, organisiert der KP-Angriff auf die eigene Volkswirtschaft jedoch ganz andere Gefahren für das ostasiatische Großreich. Tatsächlich könnte die restriktive Politik der KPCh dafür sorgen, dass die chinesische Mittelschicht, die sich gerade erst an den Wohlstand nach den Katastrophenjahren des Maoismus gewöhnt hatte, abrupt gezwungen sein wird, von diesem Wohlstand Abschied zu nehmen.
Landesweite Unruhen könnten unterschiedliche Konsequenzen haben:
- Der verzweifelte Versuch, durch eine militärische Aktion beispielsweise gegen die Republik China auf Taiwan einen außenpolitischen Konflikt zu erzeugen, der das Volk im Sinne des Shanghaier Polizisten hinter der KPCh eint. Das allerdings könnte in einen bewaffneten Pazifik-Konflikt führen, in dem die VRC gegen ein Bündnis aus USA, Japan, Süd-Korea, Australien, Neuseeland und möglichen weiteren Partnern steht.
- Ein neuer chinesischer Bürgerkrieg, in dem die staatliche Einheit zerbricht, weil Teile der Sicherheitskräfte, angeführt von regionalen Einheiten und Oligarchen der ehemaligen KP-Eliten, sich weigern, gegen die eigenen Eltern und Geschwister zu kämpfen.
- Der schnell voranschreitende Zerfall des Reichs, weil die regionalen Zentren ohne die Gängelung aus Peking nicht nur überlebensfähig sind, sondern den regionalen Eliten sogar einen erheblichen Zuwachs an Macht, wirtschaftlicher Prosperität und damit individuellem Reichtum sichern könnten. Die traditionelle Konkurrenz zwischen der Metropole Shanghai und der südchinesischen Region Kanton-Hongkong ebenso wie zur Nordchinesischen Metropolregion um Peking könnte wirtschaftlich in jeder Hinsicht lebensfähige Nachfolgestaaten schaffen, die je nach Ausrichtung der regionalen Eliten sich eher am staatswirtschaftlich-totalitären Modell der KPCh oder an marktwirtschaftlich-liberalen Vorstellungen orientieren.
Wie auch immer die Entwicklung voranschreiten wird: Friedmans Erwartung, dass es zum Ende des Jahrhunderts kein chinesisches Großreich mehr geben wird, ist zumindest nicht gänzlich aus der Luft gegriffen.
Der russisch-deutsche Wirtschaftsraum als Machtoption
Mit Blick auf die „Alte Welt“ skizzierte Friedman eine US-amerikanische Urangst, die aus dem Zusammenschluss des „deutschen Genies“ mit den Rohstoffen Russlands eine Gegenmacht zur Dominanz der USA würde entstehen lassen können. Genau diese Vorstellung ist es, die sich hinter Putins Darlegungen von 2001 versteckt.
Putin beschrieb Europa – oder besser: Eurasien – als „mächtigen und selbstständigen Mittelpunkt der Weltpolitik“, in dem sämtliche Potenziale Russlands mit den „eigenen Möglichkeiten“ der westeuropäischen EU-Staaten – wobei er gezielt Deutschland als Führungsmacht im Auge hatte – einen von den USA und von China unabhängigen Machtraum auf dem Globus bilden.
Es ist genau dieses auch die Vorstellung, die vor allem in Deutschland von Putin-Anhängern und Russophilen als Zielperspektive deutsch-russischer Politik befürwortet wurde, weshalb sich diese Bevölkerungskreise in der Regel einig waren und sind in der Ablehnung der USA als Weltführungsmacht.
Putin selbst ging 2001 nicht so weit, das Verdrängen des US-Einflusses aus Europa explizit zu fordern und umschiffte dieses mit dem Hinweis auf „den großen Wert“ der Beziehungen; doch die dann von ihm aufgezeigte Perspektive lässt wenig Zweifel daran, dass in seinem Weltbild die USA in Europa keinen Einfluss mehr nehmen können sollten.
Die tatsächliche Tragweite der entsprechenden Darlegungen Putins dürften den damals applaudierenden, deutschen Parlamentariern kaum bewusst gewesen sein. In ihren immer noch von der „Wandel-durch-Annäherung“-These geprägten Köpfen sprach Putin hier die Vorstellung an von einem Prozess der Entwicklung gemeinsamer Wirtschaftsinteressen zum gegenseitigen Nutzen. Dass dahinter allerdings das Konzept einer globalen Machtverschiebung stehen konnte, welches neben dem Machtzentrum USA ein eurasisches schaffen sollte, in dem Russland maßgeblichen Einfluss hatte und bei dem die USA außen vor bleiben sollten, wurde nur in den Vereinigten Staaten entsprechend gesehen – oder, wenn man so will, erkannt. Friedman folgerte daraus, dass die USA ein ausgeprägtes Eigeninteresse daran haben müssten, die russisch-deutsche Annäherung zu verhindern.
Deutschland gegen Russland isolieren
Der Einstieg des ehemaligen SPD-Bundeskanzlers Gerhard Schröder in die Russische Energieindustrie nebst Abhängigkeit der Bundesrepublik von Energieträgerimporten aus Russland wurde in den USA als Erfolg Putins hinsichtlich der Korrumpierbarkeit, sprich „Russifizierung“, der deutschen Politik und als Bestätigung der von Friedman formulierten Befürchtungen betrachtet. Seitdem ist die US-Politik bis in die Ära Biden hinein durch eine vorsichtige Distanz zur Bundesrepublik geprägt, welche in Sicherheitsfragen den von Friedman empfohlenen Cordon sanitaire der ehemaligen Ostblockstaaten zwischen Deutschland und Russland stärkt – eine Entwicklung, die ihrerseits angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine deutlich forciert wurde, obgleich dieser Überfall zugleich jegliche Vorstellung eines russisch-deutschen Großraums bis auf weiteres zunichte gemacht hat.
Gleichzeitig ist zumindest zu erwägen, dass diese Politik der USA bei Putin nicht nur als vorsätzliches Hintertreiben der eigenen welt- und europapolitischen Ziele verstanden wurde, sondern auch das Gefühl einer unmittelbar gegen Russland gerichteten Bedrohung verstärkte, obgleich eine solche als gegen die Russische Föderation gerichtet nicht Ziel der USA und der Friedmanschen Überlegungen gewesen ist. Das allerdings könnte sich, folgt man Äußerungen aus den Reihen der US-Administration, infolge des russischen Überfalls zumindest insofern geändert haben, als zwar in Washington nach wie vor keine territoriale Veränderung der russischen Grenzen im Status des Jahres 2000 angestrebt wird, allerdings die imperiale Fähigkeit der Russischen Föderation durchaus nachhaltig eingeschränkt werden soll. Weitgehend unabdingbar erscheint zudem die Rückgabe der russischen Eroberungen nach 2000, allen voran der Krim und der besetzten Teile der Ukraine.
Ein Deutschland-Bild des frühen 20. Jahrhunderts
Was Friedman trotz der russischen Vorstellungen übersehen und nicht bedacht hatte, ist die Vernichtung deutscher Innovationsfähigkeit seit 1970. Die Vorstellung einer eurasischen Großmacht mit Russen und Deutschen an der Spitze setzt voraus, dass neben den russischen Ressourcen eben auch jenes deutsche Genie vorhanden ist.
Blendete Friedman nun bereits den Brain-drain mit Ziel USA der 1930er und den Brain-loss der 1940er aus, die der von den deutschen Tribalisten verursachte Exodus der jüdischen Deutschen und die anschließende Vernichtung des europäischen Judentums verursacht hatte, so kann das kurzzeitige Anknüpfen an deutsche Qualitäten und Tugenden in den 50er und 60-Jahren des vergangenen Jahrhunderts nicht darüber hinwegtäuschen, dass durch die egalistisch-sozialistische Bildungspolitik seit den 70ern des vergangenen Jahrhunderts die Entwicklung konkurrenzfähiger wissenschaftlicher und technischer Eliten in der Bundesrepublik zunehmend verunmöglicht wurde. Der Import des identitätspolitischen Konstruktivismus sowie des pseudowissenschaftlichen Genderismus aus den linksradikalen Studierstuben der USA sollte seit der Jahrtausendwende ein weiteres dazu beitragen, die frühere Leistungsfähigkeit deutscher Studienabsolventen fort von technischer, medizinischer und geisteswissenschaftlicher Weltspitze auf nicht einmal mehr weltweites Mittelmaß zu reduzieren.
Unabhängig davon jedoch hatte Friedman selbst wiederholt dargelegt, weshalb das von ihm skizzierte Szenario auch ohne US-Handeln wenig erfolgversprechend war: Zutreffend geht der US-Denker bis heute davon aus, dass die Wirtschaftsfähigkeit Russlands weit entfernt ist davon, irgendwann einmal an die Weltspitze vorstoßen zu können.
Vor allem die system-immanente Korruption, die nach Erkenntnissen westlicher Dienste auch einen nicht unwesentlichen Anteil an den mangelnden Erfolgen des militärischen Vorstoßes der Russen in der Ukraine hatte, wird der Entwicklung Russlands zu einer ernstzunehmenden Wirtschaftsmacht auch weiterhin im Wege stehen. Zudem hat die Dekonstruktion von der Ukraine eroberter, russischer Waffensysteme aufgezeigt, dass diese ohne westliche Chiptechnologie nicht funktionsfähig sind. Russland verfügt über keine ernstzunehmende, leistungsfähige Halbleiterproduktion und ist hier auf den Import vor allem aus den USA angewiesen. Auch das ist ein Faktor, der den Putinschen Visionen langfristig im Weg stehen wird.