Tichys Einblick
Europa, Russland und China im Niedergang

Russland, China und US-amerikanische Ängste

Tomas Spahns fünfter Teil seiner Antworten auf Leserkommentare zum Themenkreis Russland und Ukraine. – Die US-Furcht vor einem deutsch-russischen Eurasien ist schon allein durch den Zustand Russlands und Deutschlands obsolet geworden. Und China steht vor schweren inneren Problemen.

Putin und Xi am 4.2.2022 in Peking

IMAGO / SNA

Die 2001 von Putin angestrebte Eurasische Union als Machtpol des Zusammenschlusses von Europäischer Union und Russland musste, obgleich seinerzeit noch ohne jede Aggressivität vorgetragen, eine mögliche Urangst der USA berühren:

„Niemand bezweifelt den großen Wert der Beziehungen Europas zu den Vereinigten Staaten. Aber ich bin der Meinung, dass Europa seinen Ruf als mächtiger und selbstständiger Mittelpunkt der Weltpolitik langfristig nur festigen wird, wenn es seine eigenen Möglichkeiten mit den russischen menschlichen, territorialen und Naturressourcen sowie mit den Wirtschafts-, Kultur- und Verteidigungspotenzialen Russlands vereinigen wird. Die ersten Schritte in diese Richtung haben wir schon gemeinsam gemacht. Jetzt ist es an der Zeit, daran zu denken, was zu tun ist, damit das einheitliche und sichere Europa zum Vorboten einer einheitlichen und sicheren Welt wird.“

Mit diesem Absatz beschreibt Putin seine politische Vision, die in der Vorstellung einer multipolaren Weltordnung mit einem euro-russischen Machtpol ohne US-Einfluss gipfeln sollte. Putin ging 2001 noch nicht offen in Konfrontation zu den USA, machte aber deutlich, dass er deren Einfluss in Europa (und nicht nur auf die EU) verringert sehen möchte. Putin rührte damit an US-amerikanische Befindlichkeiten, wie sie beispielhaft der Strategie-Thinktanker George Friedman im Jahr 2011 in seinen Büchern „The Next Decade“ und „The next 100 Years“ zum Ausdruck bringen sollte.

Ukraine und Russland
Auf der Suche nach der Scheinwelt
Friedman reagierte damals auf die sich verbreitende Auffassung, dass sich die USA und die EU im weltpolitischen Niedergang befänden, während das 21. Jahrhundert das Chinas werde – von einer russischen Dominanz in Europa flankiert. Zutreffend stellte Friedman gleichwohl fest, dass die Volksrepublik China (VRC) aufgrund ihres unerwarteten, wirtschaftlichen Aufschwungs maßlos überschätzt werde. Zehn Jahre später darf unterstrichen werden: Die nicht zuletzt durch den Überfall auf die Ukraine einsetzende De-Globalisierung, mehr noch aber eine volkswirtschaftlich in jeder Hinsicht desaströse Corona-Politik der Pekinger Regierung geben Friedman in dieser Hinsicht recht.

Tatsächlich haben beide Entwicklungen aufgezeigt, dass das „Reich der Mitte“ auf tönernen Füßen steht. Wobei wir offenlassen, ob die Corona-Politik den Auslöser für den Exporteinbruch gegeben hat – oder ob dieser maßgeblich durch die globalstrategischen Entwicklungen verursacht wurde. Denn die Suche nach der unmittelbaren Ursache gliche der nach der Frage, was zuerst da war: Das Huhn oder das Ei.

Exkurs: Der Niedergang der VRChina

Tatsache ist, dass durch die restriktive Corona-Politik die Produktions- und Logistik-Abläufe der VRC in sich zusammengebrochen sind. Im Hauptexporthafen Shanghai stapelten sich Güter, welche aufgrund fehlenden Hafenpersonals nicht in den Export gehen konnten. Gleichzeitig brachen die Produktions- und Lieferketten zusammen, weil einerseits auch dort das Personal fehlt, andererseits der Auslieferstau keine Weiterproduktion auf Halde zuließ.

Welche Konsequenzen diese Entwicklung vor allem für China haben wird, ist nicht absehbar – so, wie auch nicht wirklich erklärbar ist, warum die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) wegen einiger Corona-Fälle ganze Landstriche und Stadtteile in Geiselhaft nimmt und damit die eigene Volkswirtschaft lahmlegt.

Ukraine und Russland – Teil 2
Patrioten, Nationalisten, Faschisten, Antifaschisten
Erklärbar wäre dieses rational nur, wenn die KP-Führung etwas über das Virus wüsste, das dem Rest der Welt nicht bekannt ist – was wiederum nur zutreffen könnte, wenn es, wie häufig spekuliert, eine chinesische Laborzüchtung ist. Alternativ stünde als Erklärung nur die Panik vor einem Massensterben im Raum, welches die KPCh aus ihrer Führungsposition fegen könnte – so, wie auch in Westeuropa die rigiden Anti-Corona-Maßnahmen ihre Ursache vor allem in den von Katastrophenschützern prophezeiten „Aufständen“ im Falle einer Pandemie mit zahlreichen Toten finden.

Nun mag die Frage erlaubt sein, wie hoch die Sterberate an einem pandemischen Virus sein muss, um in einer gut 1,4 Milliarden Menschen umfassenden, an staatliche Restriktion gewöhnten Population tatsächlich zu Regime-gefährdenden Aufständen zu führen. Es liegt daher der Verdacht nahe, dass die Führung der KPCh mit ihrer Corona-Rigorosität andere Ziele verfolgte.

In diesem Zusammenhang mag jene unbedacht in die Öffentlichkeit geratene Passage höchst informativ sein, mit der ein Polizist des Systems eine revoltierende, eingesperrte ältere Dame in Shanghai mit dem Hinweis gefügig machen wollte, dass man sich doch bald im Krieg mit den USA befände und nur die KPCh das chinesische Volk retten könne.

Die Gefahr des Zerfalls des Reichs der Mitte

Sollte dieses Narrativ gleichsam als offizielles Erklärungsmodell aus Kreisen der Pekinger Führung kommen und nicht auf dem persönlichen „Mist“ des Polizisten gewachsen sein, so kann es zweierlei bedeuten:

Unabhängig davon, welche Version präferiert wird, organisiert der KP-Angriff auf die eigene Volkswirtschaft jedoch ganz andere Gefahren für das ostasiatische Großreich. Tatsächlich könnte die restriktive Politik der KPCh dafür sorgen, dass die chinesische Mittelschicht, die sich gerade erst an den Wohlstand nach den Katastrophenjahren des Maoismus gewöhnt hatte, abrupt gezwungen sein wird, von diesem Wohlstand Abschied zu nehmen.

Die Illusion von 1813
Die deutsch-russische Superweltmacht
Nicht nur die Blase einer Wohnungsbaupolitik, die einen jungen Mann aus der Mittelschicht angesichts der demografischen Geschlechtertaufteilung zwingt, als Mitgift für eine künftige Ehe mindestens eine unbewohnte Wohnung vorzuhalten, könnte beim Platzen das komplette Wirtschaftssystem in den Abgrund ziehen. Wenn zudem noch Exporteinschränkungen als Folge der Deglobalisierung die Aktienkurse chinesischer Unternehmen in den Keller treiben, wird die KPCh kaum noch Chancen haben, die landesweit zu erwartenden Proteste gegen den Niedergang ähnlich jenen Demokratiebewegungen am Platz des Himmlischen Friedens und in Hongkong mit brutalem Einsatz von Sicherheitskräften in Zaum zu halten.

Landesweite Unruhen könnten unterschiedliche Konsequenzen haben:

Wie auch immer die Entwicklung voranschreiten wird: Friedmans Erwartung, dass es zum Ende des Jahrhunderts kein chinesisches Großreich mehr geben wird, ist zumindest nicht gänzlich aus der Luft gegriffen.

Der russisch-deutsche Wirtschaftsraum als Machtoption

Mit Blick auf die „Alte Welt“ skizzierte Friedman eine US-amerikanische Urangst, die aus dem Zusammenschluss des „deutschen Genies“ mit den Rohstoffen Russlands eine Gegenmacht zur Dominanz der USA würde entstehen lassen können. Genau diese Vorstellung ist es, die sich hinter Putins Darlegungen von 2001 versteckt.
Putin beschrieb Europa – oder besser: Eurasien – als „mächtigen und selbstständigen Mittelpunkt der Weltpolitik“, in dem sämtliche Potenziale Russlands mit den „eigenen Möglichkeiten“ der westeuropäischen EU-Staaten – wobei er gezielt Deutschland als Führungsmacht im Auge hatte – einen von den USA und von China unabhängigen Machtraum auf dem Globus bilden.

2001 und 2022
Putin, die russisch-deutsche Großmacht und neue Bedrohungen
Es ist genau dieses auch die Vorstellung, die vor allem in Deutschland von Putin-Anhängern und Russophilen als Zielperspektive deutsch-russischer Politik befürwortet wurde, weshalb sich diese Bevölkerungskreise in der Regel einig waren und sind in der Ablehnung der USA als Weltführungsmacht.

Putin selbst ging 2001 nicht so weit, das Verdrängen des US-Einflusses aus Europa explizit zu fordern und umschiffte dieses mit dem Hinweis auf „den großen Wert“ der Beziehungen; doch die dann von ihm aufgezeigte Perspektive lässt wenig Zweifel daran, dass in seinem Weltbild die USA in Europa keinen Einfluss mehr nehmen können sollten.

Die tatsächliche Tragweite der entsprechenden Darlegungen Putins dürften den damals applaudierenden, deutschen Parlamentariern kaum bewusst gewesen sein. In ihren immer noch von der „Wandel-durch-Annäherung“-These geprägten Köpfen sprach Putin hier die Vorstellung an von einem Prozess der Entwicklung gemeinsamer Wirtschaftsinteressen zum gegenseitigen Nutzen. Dass dahinter allerdings das Konzept einer globalen Machtverschiebung stehen konnte, welches neben dem Machtzentrum USA ein eurasisches schaffen sollte, in dem Russland maßgeblichen Einfluss hatte und bei dem die USA außen vor bleiben sollten, wurde nur in den Vereinigten Staaten entsprechend gesehen – oder, wenn man so will, erkannt. Friedman folgerte daraus, dass die USA ein ausgeprägtes Eigeninteresse daran haben müssten, die russisch-deutsche Annäherung zu verhindern.

Deutschland gegen Russland isolieren

Der Einstieg des ehemaligen SPD-Bundeskanzlers Gerhard Schröder in die Russische Energieindustrie nebst Abhängigkeit der Bundesrepublik von Energieträgerimporten aus Russland wurde in den USA als Erfolg Putins hinsichtlich der Korrumpierbarkeit, sprich „Russifizierung“, der deutschen Politik und als Bestätigung der von Friedman formulierten Befürchtungen betrachtet. Seitdem ist die US-Politik bis in die Ära Biden hinein durch eine vorsichtige Distanz zur Bundesrepublik geprägt, welche in Sicherheitsfragen den von Friedman empfohlenen Cordon sanitaire der ehemaligen Ostblockstaaten zwischen Deutschland und Russland stärkt – eine Entwicklung, die ihrerseits angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine deutlich forciert wurde, obgleich dieser Überfall zugleich jegliche Vorstellung eines russisch-deutschen Großraums bis auf weiteres zunichte gemacht hat.

EU-Politik
Italien und Frankreich: „Dracron“ über Europa
Gleichzeitig ist zumindest zu erwägen, dass diese Politik der USA bei Putin nicht nur als vorsätzliches Hintertreiben der eigenen welt- und europapolitischen Ziele verstanden wurde, sondern auch das Gefühl einer unmittelbar gegen Russland gerichteten Bedrohung verstärkte, obgleich eine solche als gegen die Russische Föderation gerichtet nicht Ziel der USA und der Friedmanschen Überlegungen gewesen ist. Das allerdings könnte sich, folgt man Äußerungen aus den Reihen der US-Administration, infolge des russischen Überfalls zumindest insofern geändert haben, als zwar in Washington nach wie vor keine territoriale Veränderung der russischen Grenzen im Status des Jahres 2000 angestrebt wird, allerdings die imperiale Fähigkeit der Russischen Föderation durchaus nachhaltig eingeschränkt werden soll. Weitgehend unabdingbar erscheint zudem die Rückgabe der russischen Eroberungen nach 2000, allen voran der Krim und der besetzten Teile der Ukraine.
Ein Deutschland-Bild des frühen 20. Jahrhunderts

Was Friedman trotz der russischen Vorstellungen übersehen und nicht bedacht hatte, ist die Vernichtung deutscher Innovationsfähigkeit seit 1970. Die Vorstellung einer eurasischen Großmacht mit Russen und Deutschen an der Spitze setzt voraus, dass neben den russischen Ressourcen eben auch jenes deutsche Genie vorhanden ist.

Blendete Friedman nun bereits den Brain-drain mit Ziel USA der 1930er und den Brain-loss der 1940er aus, die der von den deutschen Tribalisten verursachte Exodus der jüdischen Deutschen und die anschließende Vernichtung des europäischen Judentums verursacht hatte, so kann das kurzzeitige Anknüpfen an deutsche Qualitäten und Tugenden in den 50er und 60-Jahren des vergangenen Jahrhunderts nicht darüber hinwegtäuschen, dass durch die egalistisch-sozialistische Bildungspolitik seit den 70ern des vergangenen Jahrhunderts die Entwicklung konkurrenzfähiger wissenschaftlicher und technischer Eliten in der Bundesrepublik zunehmend verunmöglicht wurde. Der Import des identitätspolitischen Konstruktivismus sowie des pseudowissenschaftlichen Genderismus aus den linksradikalen Studierstuben der USA sollte seit der Jahrtausendwende ein weiteres dazu beitragen, die frühere Leistungsfähigkeit deutscher Studienabsolventen fort von technischer, medizinischer und geisteswissenschaftlicher Weltspitze auf nicht einmal mehr weltweites Mittelmaß zu reduzieren.

Drei Gruppen „westlicher” Länder
Warum „der” Westen nicht geeint ist gegen Putin
Die tatsächliche Gefahr, mit deutscher Leistungsfähigkeit und russischen Ressourcen in einer multipolaren Welt einen Antipol zur Weltführungsmacht USA zu etablieren, ist allein schon durch die deutsche Politik der vergangenen fünfzig Jahre zur Schimäre geworden – und es spricht manches dafür, dass die, nennen wir sie hier Verbitterung des Wladimir Wladimirowitsch Putin ihre Ursachen auch in der Erkenntnis hat, im Jahr 2001 ebenso wie bis heute Friedman einem Deutschlandbild aufgesessen zu sein, welches aus früheren Jahrhunderten stammt.

Unabhängig davon jedoch hatte Friedman selbst wiederholt dargelegt, weshalb das von ihm skizzierte Szenario auch ohne US-Handeln wenig erfolgversprechend war: Zutreffend geht der US-Denker bis heute davon aus, dass die Wirtschaftsfähigkeit Russlands weit entfernt ist davon, irgendwann einmal an die Weltspitze vorstoßen zu können.

Vor allem die system-immanente Korruption, die nach Erkenntnissen westlicher Dienste auch einen nicht unwesentlichen Anteil an den mangelnden Erfolgen des militärischen Vorstoßes der Russen in der Ukraine hatte, wird der Entwicklung Russlands zu einer ernstzunehmenden Wirtschaftsmacht auch weiterhin im Wege stehen. Zudem hat die Dekonstruktion von der Ukraine eroberter, russischer Waffensysteme aufgezeigt, dass diese ohne westliche Chiptechnologie nicht funktionsfähig sind. Russland verfügt über keine ernstzunehmende, leistungsfähige Halbleiterproduktion und ist hier auf den Import vor allem aus den USA angewiesen. Auch das ist ein Faktor, der den Putinschen Visionen langfristig im Weg stehen wird.

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