Tichys Einblick
Rezo darf das natürlich

„Regeln, die im Wahlkampf gelten“ – Das Demokratieverständnis der AKK

Lange dachten Parteien und Medien, auf YouTube und Instagram tobe sich eine entpolitisierte, wohlstandsverwöhnte Jugend mit Schminktipps und Musikvideos aus. Keine Gefahr für die gefühlten Meinungsmonopole. Und nun plötzlich der Schock namens Rezo.

• imago images / Emmanuele Contini

Es ist noch nicht lange her, da feierten am 15. Mai die CDU-Hinterbänkler Elisabeth Winkelmeier-Becker und Carsten Müller den bislang heftigsten Angriff auf die Meinungsfreiheit, der in der Bundesrepublik seit deren Gründung zu verzeichnen ist. Jenes vom damaligen Bundesminister der Justiz, Heiko Maas, im Eiltempo durch den Bundestags gepeitschte Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG), mit dem erstmals originäre Aufgaben der Strafverfolgungsbehörden an private Institutionen übertragen wurden, welche gleichzeitig die Rolle von Staatsanwalt- und Richterschaft übernahmen, wurde nicht nur als wirkmächtig gefeiert – die beiden Hinterbänkler setzten gleich noch einen drauf, indem sie wissen ließen: „Die Unionsfraktion setzt sich für eine zeitnahe Anpassung des Gesetzes ein, um die Wirksamkeit des NetzDG weiter zu erhöhen.“ Übersetzt in verständliche Sprache: CDU und CSU im Deutschen Bundestag werden aktiv die Verschärfung der Zensur betreiben – und dieses möglichst schnell.

"Regulierung von Meinungsäußerungen"
Wahldesaster der CDU: Wahlanalyse voller Schuldzuweisungen
Wie notwendig dieses aus christdemokratischer Sicht ist, unterstrich nun angesichts des Unions-Desasters bei der Abstimmung über die Besetzung des EU-Parlaments deren erst im vergangenen Herbst installierte Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer. Noch voll des Schmerzes darüber, dass es zusammen mit der Schwesterpartei nicht einmal mehr für 30 Prozent der abgegebenen, gültigen Stimmen gereicht hatte, befand sie vor der Presse:

„Die Frage stellt sich schon mit Blick auf das Thema Meinungsmache, was sind eigentlich Regeln aus dem analogen Bereich und welche Regeln gelten eigentlich für den digitalen Bereich, ja oder nein. Das ist eine fundamentale Frage, über die wir uns unterhalten werden, und zwar nicht wir in der CDU, mit der CDU, sondern, ich bin mir ganz sicher, in der gesamten medienpolitischen und auch demokratietheoretischen Diskussion der nächsten Zeit wird das eine Rolle spielen.“

Die Union kalt erwischt

Hintergrund dieser Eloge war die Attacke eines YouTubers mit dem Namen „Rezo“, die die Union im wahrsten Sinne des Wortes kalt erwischt hatte. Rezo hatte eine Woche vor der Wahl ein „Zerstörungs-Video“ veröffentlicht, in dem er vor allem der CDU vorwarf, seit Jahren eine falsche Politik zugunsten der Reichen, gegen Klimapolitik und für die Unterstützung aus seiner Sicht inhumaner Kriegshandlungen der USA zu betreiben. Gezielt hatte er einige besonders schwache Vertreter der Parteinomenklatura herausgepickt und deren inhaltliche wie rhetorische Unfähigkeit anhand öffentlich zugänglicher Materialien an den Pranger gestellt. Es gipfelte in dem Aufruf, keinesfalls die CDU zu wählen.

Begegnung fremder Welten
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Dieses Video verbreitete sich vor allem unter jüngeren Wählern wie ein Lauffeuer – und es liegt nahe, dass dieses der Union nicht gefällt. Und doch hat Rezo nichts Verwerfliches, und schon gar nicht etwas Verbotenes getan. Er hat die sich ihm bietenden Möglichkeiten der Kommunikation genutzt, um seine Auffassung darzulegen und aus dem von ihm zusammengestellten Informationen und Quellen jene, die ihm lauschen, zu einer bestimmten Handlung aufzufordern. Es war – völlig unabhängig vom Inhalt dessen, was er verbreitete – nichts anderes als jene Speaker’s Corner im Londoner Hydepark, auf die die Briten als Dokument ihrer freien und toleranten Demokratie zu Recht stolz sind. Jeder kann sagen, was er für richtig hält. Wer ihm zuhören will, kann dieses tun. Und ob der Zuhörer sich durch das Gehörte in seinem Handeln beeinflussen lässt, liegt ausschließlich bei diesem.
Ein alltäglicher Vorgang

Das alles ist nichts anderes als ein alltäglicher Vorgang, der in jeder Familie, jeder Bürogemeinschaft, jedem Verein stattfindet. Menschen tauschen sich aus, einer positioniert sich, andere diskutieren darüber. Völlig normal.

Und doch meint Annette Kramp-Karrenbauer, einen solchen, normalen Vorgang zum Anlass nehmen zu müssen, eine „medienpolitische und demokratietheoretische Diskussion“ veranlassen zu wollen. Denn eines – das wollen wir nicht unterschlagen – unterscheidet Rezos Zerstörungstrip eben doch von Speaker’s Corner. Der Querulant oder Diskutant im Hydepark erreicht vielleicht gerade einmal ein paar hundert Personen. Tritt er im Rahmen einer Großdemonstration auf, sind es vielleicht sogar ein paar tausend. Und wenn er großes Glück hat, dann berichten irgendwelche Medien darüber, picken zwei oder drei Sätze heraus, die dann einer breiteren Öffentlichkeit bekannt gemacht werden.

Rezo aber brachte es innerhalb einer Woche auf satte 12 Millionen Aufrufe. Einmal abgesehen davon, dass das YouTube-Prinzip damit auch einige Talerchen in seine Kasse spült, sind zwölf Millionen deutlich mehr, als selbst im TV in einer Nachrichtensendung wie der ÖR-Tagesschau erreicht werden. Die freute sich beispielsweise am 27. Mai gerade einmal über 4,9 Millionen Zuschauer. Plasbergs „Hart aber …“ kam sogar nur auf 2,67 Millionen.

Wenn die Sicherungen durchbrennen …

Nun weiß kaum jemand, ob sich die Rezo-Klicker tatsächlich die gesamten 55 Minuten angetan haben. Aber das spielt auch keine Rolle, denn in der Community wurde das Zerstörungsvideo zum Großereignis. Rezo nahm – daran führt keine Erkenntnis vorbei – durchaus Einfluss auf das Denken und Handeln vor allem der jungen Generation. Und als dann noch zahlreiche andere YouTube-Heroen sich ihm anschlossen, müssen offensichtlich bei „AKK“ ein paar Sicherungen durchgebrannt sein.

Nach dem grünen Tsunami
Ach, wenn‘s doch wirklich nur das Klima wäre …
Oder auch nicht? Denn tatsächlich betten sich die Äußerungen der CDU-Vorsitzenden perfekt ein in den Dauerangriff der etablierten Parteien auf die Meinungsfreiheit ihrer Bürger. Hintergrund ist, dass es nach Jahrzehnten eines gesunden Misstrauens zwischen Politik und Medien gelungen war, die veröffentlichte Meinung aus Print, Funk und TV auf Staatslinie zu bringen. Ob Tageszeitung oder Relotius-Press, ob Morgenmagazin oder Abendschau – ernsthafte, fundierte Kritik am Regierungshandeln fand seit Jahren kaum noch statt. Die etablierte Medienöffentlichkeit hatte sich zu einem Geleitzug entwickelt, in deren Mitte unangreifbar die Frau Bundeskanzler fuhr. Jeder Angriff auf ihr Handeln und dessen Konsequenzen wurde entweder zur FakeNews oder – wenn es ganz hart kam – zur HateSpeech.
… weil man den Zug verpasst hat

Und nun geschah plötzlich etwas, welches dieses sorgsam errichtete Gebäude der gesteuerten Meinung zum Einsturz bringen kann. Lange hatten sich Parteien und Medien in dem Gefühl gewähnt, auf YouTube und Instagram tobe sich eine entpolitisierte, wohlstandsverwöhnte Jugend mit Schminktipps und Musikvideos aus. Keine Gefahr für die gefühlten Meinungsmonopole.

Und nun plötzlich dieses. Verbunden mit der Erkenntnis: Ein solch 27 Jahre alter Bengel mit blauer Stirnlocke erreicht im Zweifel mehr Publikum als die Partei in ihrer gesamten Wahlkampagne. Nachvollziehbar: Das schmerzt in den Parteizentralen. Mehr noch schmerzt aber die Erkenntnis, hier einen Zug verpasst zu haben, von dem nicht einmal mehr die roten Schlusslaternen zu erkennen sind. Denn in diesen neuen Medien bewegt sich die Union wie eine Feldmaus auf dem Mond.

Statt mit Dynamik neue Formate zu wagen, feierte die Unionsvorsitzende in ihrem letzten parteiinternen Aufruf vor dem EU-Sonntag ein „Video, in dem ein geheimnisvoller Professor die Zukunftsformel für Europa entdeckt“. In der Bildersprache eines Jerry Lewis der Fünfzigerjahre steht dort in einem weißen Kittel EU-Parlament-Auslaufmodell Elmar Brok vor einer mit Kreide vollgekritzelten Schiefertafel, um nach mehreren Anläufen irgendwie zu dem Ergebnis zu kommen, dass EU gleich Frieden und Wohlstand gleich CDU sei. „Gähn!“ – mit solchem Schmonz erreicht die Partei nicht einmal mehr die Generation 60+.

Aus Totalversagen wird der Totalangriff auf die Freiheit

National-EU
EU-Wahl: Deutscher Sonderweg
Dieses Totalversagen der Altparteien im Umgang mit den neuen Kommunikationsmöglichkeiten, das bereits bei den sozialen Medien zu radikalen Eingriffen in die Meinungsfreiheit, zur Überwindung des staatlichen Strafverfolgungsmonopols und letztlich zur kontinuierlichen Zerstörung der freiheitlichen Demokratie führte, soll nun also durch einen weiteren Angriff auf die grundgesetzlich verbürgten Freiheitsrechte führen. Die Aussage der Kramp-K. war eben kein Ausrutscher, sondern klares Bekenntnis in einer stringenten Linie des Kampfes um das Meinungsmonopol. Um die von ihr unerwartet heftigen Abwehrreaktionen auf ihr mittägliches Bekenntnis abzufedern, unternahm die Saarländerin dann noch einen nicht minder untauglichen Versuch, indem sie via Twitter nachschob:

„Es ist absurd, mir zu unterstellen, Meinungsäußerungen regulieren zu wollen. Meinungsfreiheit ist hohes Gut in der Demokratie. Worüber wir aber sprechen müssen, sind Regeln, die im Wahlkampf gelten. #Rezo #Youtuber — Wenn einflussreiche Journalisten oder #Youtuber zum Nichtwählen oder gar zur Zerstörung demokratischer Parteien der Mitte aufrufen, ist das eine Frage der politischen Kultur. Es sind gerade die Parteien der Mitte, die demokratische Werte jeden Tag verteidigen. #Rezo“

Das Mantra der selbsthypnotischen Standortbestimmung als Partei der Mitte – immer nach dem Motto „Le midi cèst moi“ – wird als Beleg angeführt, dass man selbst dann nicht undemokratisch sein könne, wenn man die Demokratie abschafft. Denn genau darauf läuft der seit geraumer Zeit vollführte Angriff auf das Recht des Bürgers, seine Meinung in Wort, Bild und Ton jederzeit kundtun zu können, hinaus.

Der Rechtsstaat bedarf keine Spezialregeln

Journalisten zittern
Rezo vs. die alten Medien
Eigentlich – aber auch nur eigentlich – ist doch alles ganz klar. Wer sein Recht auf freie Meinungsäußerung missbraucht, um andere zu beleidigen, ihr Ansehen zu diskreditieren, sie zu beschimpfen oder zu verleumden, der gehört vor den Kadi. Dazu bedarf es strafrechtlicher Ermittlungen staatlicher Stellen und eines ordentlichen, unabhängigen Gerichts. Und selbstverständlich demokratie-kompatibler Gesetze, die keine einseitigen Straftatbestände schaffen. Denn mit solchen Gesetzen begibt sich der Staat ins Fahrwasser jener Gesinnungsjustiz, wie sie auf deutschem Boden unter den nationalen und sowjetisch-installierten Sozialisten zum Machtsystem gehörte.

Ansonsten ist in einer freiheitlichen Demokratie alles erlaubt. Es bedarf keiner „Regeln, die im Wahlkampf gelten“. Denn auch in Wahlkämpfen gelten längst all die Regeln, die außerhalb derselben das gesellschaftliche Zusammenleben organisieren sollen.

Hat jemand wie Rezo vorsätzlich oder auch aus Dummheit Lügen verbreitet, die Union oder deren Vertreter verleumdet oder beleidigt, dann steht der Union der Weg vor die ordentlichen Gerichte offen. Hat er es nicht, muss die CDU damit leben, dass Rezo sie nicht mag und das öffentlich kundtut. Sie kann gern zum Gegenschlag ansetzen und Rezos Argumente widerlegen. Ist sie dazu nicht in der Lage oder ist ihr teurer PR-Apparat mit diesem neuen Medium überfordert – nun, dann ist es eben so.

Gewogen und für zu leicht befunden

Erste Prognosen
EU-Parlament, Bremen-Wahl und Österreich: Lauter Denkzettel
Die Einlassungen der AKK machen insofern mehreres unübersehbar deutlich: Gewogen und für zu leicht befunden. Fest in totalitären Denkstrukturen verfangen – in einem Gesellschaftsbild, in dem Junge und Andersdenkende zu kuschen haben, bis die Führer den einzig wahren Weg in die gesellschaftliche Kompetenz gewiesen haben.

Aber so funktioniert Demokratie nun einmal nicht. Hier kann jeder sagen, was er für sagenswert hält. Gefällt mir das Gesagte nicht, muss ich in den Disput einsteigen und die besseren Argumente hören lassen.

Wer das nicht begreift, darf in diesem Staat niemals eine tragende Funktion übernehmen und gehört als Vorsitzende der immer noch größten Partei dann umgehend in die Wüste geschickt, wenn diese Partei sich tatsächlich noch zu den freiheitlichen Werten des Grundgesetzes bekennt.

Das, werte Frau Kramp-Karrenbauer, ist meine Meinung. Die darf ich äußern, weil es das Grundgesetz mir ausdrücklich erlaubt. Und weil keine Parteivorsitzende auch nur einen Hauch von Recht hat, irgendwelche Regeln zu fordern, die beispielsweise Kritik an total überforderten Parteivorsitzenden untersagen. Das gilt auch dann, wenn das grundgesetzlich verankerte Recht durch NetzDG, Uploadfilter und einseitige Hassgesetzgebung ohnehin bereits ständig unterlaufen wird.

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