Tichys Einblick
Ukraine-Krise

Putins Pyrrhus-Sieg

Russland ist wieder da. So scheint es. Wladimir Putin hat innerhalb weniger Jahre Russlands Einfluss deutlich ausgedehnt und nun USA und NATO an den Verhandlungstisch gezwungen. Doch was nach großen, außenpolitischen Erfolgen aussieht, könnte sich für Putin als Pyrrhus-Sieg erweisen.

Russlands Präsident Wladimir Putin bei einer Parteikonferenz am 4.12.2021

IMAGO / SNA

Für Russlands Präsident Wladimir Putin ist die Implosion des russisch-sowjetischen Imperiums „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“. Aus Sicht eines KGB-Offiziers, der 1989 die Implosion des menschenverachtenden SED-Regimes im russischen Satellitenstaat DDR miterlebte, eine nachvollziehbare Position. Sie gab jenem postimperialen Phantomschmerz Ausdruck, der maßgebliche Teile der unter sowjetischer Sozialisation herangewachsenen Generation der heute Ü-50-Jährigen immer noch prägt. Und der, zumindest was seine russischen Vertreter betrifft, besonderes Leiden erzeugte, als der damalige US-Präsident Barack Obama angesichts des russischen Vorgehens gegen die Ukraine die ehemalige Supermacht als „Regionalmacht, die einige ihrer unmittelbaren Nachbarn bedroht“, verspottete.

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Von einer Weltmacht, die die Welt erzittern lassen konnte, zur Regionalmacht? Das einst mächtige Russland auf dem Weg in die weltpolitische Bedeutungslosigkeit, den vor ihm schon die früheren Großmächte Deutschland, Frankreich und England gegangen waren? Für Putin, der aus kleinen Verhältnissen des damaligen Leningrads stammt und früh gelernt hatte, sich gegen Stärkere durchzuboxen, war der Hohn des farbigen US-Präsidenten letzter Ansporn, sein Ziel, Russland den ihm aus seiner Sicht gebührenden Respekt zu erweisen, forciert anzugehen.

Putin scheint erfolgreich zu sein:

Schaut man auf die Erfolge, die maßgeblich der Politik Putins zuzuschreiben sind, so scheint sich der neue Zar auf der Siegerstraße zu befinden. Die von ihm 2014 aufgestellte Putin-Doktrin, wonach sich Russland einen Ring abhängiger Staaten um sich herum zu schaffen gedenkt, in denen jegliche revolutionäre oder gewaltsame Änderung der bestehenden Machtverhältnisse als unmittelbare Bedrohung Russlands definiert wird, hat Moskaus Einfluss deutlich erweitert. Und dem eher schmächtig wirkenden Mann im Kreml nun offenbar den Mut gegeben, sich auch mit seinem gefühlt mächtigsten Gegner anzulegen.

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Die Forderungen, die Russland im Vorfeld der erzwungenen Gespräche mit USA und NATO auf den Tisch gelegt hat, sind für das westliche Militärbündnis unannehmbar. Moskau fordert eine „Sicherheitszone“, in der die NATO keinerlei Aktivität entfalten darf. Die Ukraine soll faktisch umgehend zur russischen Einflusszone werden. Aber auch die noch neutralen Staaten an den Grenzen zu Russland – hier vor allem Finnland und Schweden – sollen jegliche NATO-Beitrittsambitionen vergessen. Die ehemaligen Sowjetrepubliken im Baltikum ebenso wie die Satellitenstaaten des Warschauer Pakts in Zentraleuropa und auf dem Balkan, die seit 1997 dem von den USA angeführten Verteidigungsbündnis beigetreten sind, sollen faktisch wieder neutralisiert werden. Die NATO, so letztlich Russlands Forderung, soll sich zurückziehen auf jene Linien, die vor dem Zusammenbruch der UdSSR die jeweiligen Armeen voneinander trennten.

Für die USA und die NATO sind solche Forderungen unannehmbar und werden dennoch Zugeständnisse an Russland erwirken. Ein erstes solches ist letztlich schon erreicht. Wie aus regierungsnahen Kreisen in Washington zu erfahren ist, hat sich die US-Administration mit dem Rückzug aus Afghanistan von jeglichen geopolitischen Ambitionen in Zentralasien verabschiedet. Die „Stan-States“, wie die Nachfolgerepubliken von Kasachstan über Kirgistan bis Usbekistan in Washington genannt werden, werden als russischer Hinterhof akzeptiert. Dabei spielt ein wenig auch internationale Spieltheorie eine Rolle.

Die ehemals sowjetrussischen Länder sind klassisches Siedlungsgebiet turkmongolischer Völker, die durch die Zaren gewaltsam unterworfen und kolonisiert wurden. Was bis 1990 UdSSR war, war noch bis ins 18. und 19. Jahrhundert Einflussgebiet der Chinesen. Ähnlich wie Moskau verfolgt auch Peking eine Politik der Restauration vergangener Größe – dabei immer auch den Blick darauf gerichtet, dass in Zentralasien und Sibirien nicht nur überaus wertvolle Bodenschätze zu finden sind, sondern die Klimaveränderung auch die Grundlagen dafür zu schaffen scheint, in ehemals nicht nutzbaren Flächen Ackerbau und Viehzucht in großem Stil anzusiedeln. Vor allem für das stetig anwachsende Milliardenvolk Chinas liegt die Kornkammer im Norden – dort, wo heute noch das schrumpfende Volk der europäischen Russen das Sagen hat.

Ohnehin hat sich Washington bereits unter Obama, mehr noch aber unter Trump, neu ausgerichtet. Für die USA stehen die verbündeten Demokratien im pazifischen und atlantischen Raum im Mittelpunkt. Verläuft die Bündnislinie im Stillen Ozean von Kanada und Alaska über Japan, Taiwan, die Philippinen sowie Australien und Neuseeland entlang dem geografischen Feuerring vorrangig gegen die imperialen Ambitionen der Volksrepublik China, so definiert sie sich im Atlantik maßgeblich an den Konsequenzen des Zweiten Weltkriegs und den Ergebnissen des sowjetischen Machtverfalls. Träumten Amerikaner und Europäer jedoch in den Neunzigerjahren noch davon, mit einem demokratischen Russland in enge Partnerschaft treten zu können, sollte die Re-Sowjetisierung nach den erratischen Demokratieversuchen des alkoholkranken Boris Jelzin die Konfrontation des Kalten Kriegs neu beleben.

Putin ist geprägt durch die Implosion des Moskauer Imperiums. Und tatsächlich stellte der Zusammenbruch des Russischen Reichs das Ende einer fast 700-jährigen imperialen Erfolgsgeschichte dar, die aus einem Fürstentum um Moskau das mit Abstand flächengrößte und zusammenhängende Kolonialreich der Geschichte entstehen lassen sollte. Auf seinem Höhepunkt sollte es fast vom Atlantik im Westen bis zum Pazifik im Osten und vom Nordmeer bis in die Steppen Asiens reichen. Das imperiale Gen Russlands, dieser Drang nach stetig mehr Territorium, paart sich bei Putin mit der Paranoia ständiger Bedrohung. Es ist diese Kombination, die den Russen unberechenbar und nicht zuletzt auch gefährlich macht.

Außerstande, anders als in den Kategorien eines Geheimdienstes zu denken, ist für Putin jedweder Bürgerprotest eine Machenschaft außenpolitischer Feinde. Bürgerbewegungen sind ohne fremde Agenten nicht vorstellbar; Oppositionelle die Handlanger des Feindes. Die Liste derjenigen, die infolge ihres Widerstands gegen Putin zu Tode kamen, ist lang. Boris Nemzow, Pawel Sheremet und Alexei Nawalny sind nur einige der prominenten Namen, die Opfer des Systems Putin wurden. Der Petersburger hat die brüchige Demokratie des postsowjetischen Russlands innerhalb von zwei Dekaden in einen totalitären Obrigkeitsstaat – böswillige Zungen sprechen auch von Mafiastaat – umgeformt.

Solche Macht macht nicht nur stark – sie macht auch ohnmächtig. Denn sie kennt kein Ausstiegsszenario, das dem Mächtigen eine realistische Zukunftschance böte. Die Angst, so zu enden, wie Putin das bei den Genossen in der DDR persönlich erlebt hat; wie er es überall dort sieht, wo Diktatoren vor ihrem biologischen Tod die freiwillige oder erzwungene Übergabe der Macht riskieren, ist täglicher Begleiter und bestimmt das Tun. Wenn Putin Bürgerproteste in Nachbarländern grundsätzlich als agentengesteuerte Putschversuche versteht, steht dahinter mehr noch als die Angst vor einem Machtwechsel in der Peripherie die Furcht, der revolutionäre Funke könnte auf sein Russland überspringen und ihm ein Ende bescheren, wie er es bei einem Janukovic, Mubarak und Gaddafi sehen, jedoch bei Assad, Lukashenko und nun gefühlt auch Toqajev verhindern konnte.

Putin fürchtet keinen Überfall der USA oder der NATO. Doch er fürchtet, dass das Virus der westlichen Selbstbestimmung aus Nachbarländern unbemerkt in sein Russland eindringen könnte. Deshalb war die Revolution gegen den früheren KGB-Kollegen in Minsk mit allen Mitteln zu unterbinden – deshalb griff die aus Moskau gesteuerte Militärallianz der kleinen und großen Autokraten umgehend ein, als sich in Kasachstan eine ähnliche Entwicklung andeutete.

Der Fall Ukraine beschreibt nicht vorrangig den möglichen Verzicht auf etwas, das die Briten noch vor 100 Jahren als russische Kronkolonie bezeichnet hätten. Der Fall Ukraine ist für Putin die Erkenntnis, die Schwäche des Systems und seines dortigen Statthalters nicht rechtzeitig genug erkannt zu haben und sich deshalb mit seinen Ambitionen auf die Aktionen auf der Krim und im Donbass beschränken zu müssen. Der Truppenaufmarsch an der Grenze zur Ukraine ist insofern erst einmal nur der Versuch, die paranoide Bedrohung präventiv abzuwenden. Die frühere Peripherie, in Moskau getreu klassisch-imperialistischer Sicht als Einflusszone bezeichnet, soll als Aufmarschgebiet unberechenbarer Bürgerproteste neutralisiert werden. Das wiederum ist aus Moskaus Sicht nur möglich, wenn der unmittelbare Eingriff Russlands als ultima ratio eine zulässige Option bleibt. Deshalb die Forderung, das Rad der Zeit um dreißig Jahre zurückzudrehen.

Doch auch Putin muss bewusst sein, dass Geschehenes nicht ungeschehen zu machen ist. Die ehemaligen Sowjet-Satelliten hatten sich nicht ohne Grund schnellstmöglich in die offenen Arme der NATO begeben. Genau dieser Anspruch der russischen Führung, ein unmittelbares Eingriffsrecht zu haben, lässt den Beitritt zum mächtigsten Verteidigungsbündnis der Gegenwart alternativlos erscheinen. Das Baltikum, aber auch Staaten wie Polen oder Bulgarien sind fest davon überzeugt, ohne den Beistand vor allem aus den USA längst dem Putin’schen Machtanspruch zum Opfer gefallen zu sein. Und nichts hat Russland in den vergangenen 20 Jahren unterlassen, was genau diese Ängste befeuert. Es sind nicht nur die Cyber-Attacken, die auf russischen Ursprung zurückgeführt werden können – es ist auch das ständige Austesten der Verteidigungsbereitschaft an der Nahtstelle der Systeme, wenn russische Kampfjets mehr oder weniger unzufällig die Hoheitsgebiete der NATO über Ostsee und Schwarzem Meer verletzen.

So droht – ungewollt – der anscheinende Erfolg Putins als Akteur auf der weltpolitischen Bühne zu einem Pyrrhus-Sieg für Russland zu werden. Das harte, aus NATO-Sicht unverschämte Auftreten Moskaus hat einem Bündnis, das nach dem vorläufigen Ende des Kalten Krieges in eine grundlegende Sinnkrise gefallen war, neues Leben eingehaucht. Wie seit Jahrzehnten nicht mehr begreifen die Bündnispartner angesichts der russischen Drohkulisse, von welcher sicherheitspolitischen Bedeutung das Nordatlantische Verteidigungsbündnis ist. In bislang neutralen Partnern wie Finnland und Schweden beflügelt die aktuelle Situation die Debatte über einen Beitritt. Vor allem die Ukraine wird noch mehr Energien entfalten, die bislang zögerlichen Herrschaften in Brüssel von seiner Mitgliedschaft zu überzeugen.

Die Unerfüllbarkeit des russischen Forderungskatalogs wird, statt den russischen Vorstellungen zu helfen, das Gegenteil bewirken, indem all jene jungen, demokratisch verfassten Staaten, die sich vom russischen Hegemonialanspruch bedroht sehen, hin zur NATO drängen. Das Bündnis mag dabei zwar aus tagesaktueller Sicht zögerlich sein – doch es wird sich solcher Wünsche nicht lange erwehren können. Auch die Europäische Union ist plötzlich wach und sich ihrer Schwäche im Konzert der Mächte bewusst geworden. Putin wird ungewollt dafür Sorge tragen, dass die Ideen einer EU-Armee deutlich an Zuspruch gewinnen.

Steht deshalb, weil sich USA und NATO hartleibig geben, nun der bewaffnete Konflikt unmittelbar bevor? Ein Selbstmörder ist Putin nicht. Seine bisherige Salami-Taktik war deshalb erfolgreich, weil er die Interessen der USA und der NATO immer nur peripher berührt hat. Ein Überfall mit Ansage jedoch ist ein casus belli – auch wenn dieser Krieg in seiner ersten Phase nur mit Sanktionen ausgefochten werden sollte, die das russische Wirtschaftswesen in die Knie zwingen können.

Weil das so ist, ist aus den Reihen der nun miteinander sprechenden Top-Diplomaten Russlands und der USA unter der Hand zu hören, dass man sich auf ein Verhandlungsmarathon einstellen möchte. Diplomatische Gespräche über die Sicherheitsbedürfnisse Russlands und der NATO sollen den Status quo bis auf weiteres einfrieren. Solange minimalste Fortschritte zu verzeichnen sind – und sei es nur die Erkenntnis, dass man sich offen und direkt ausgetauscht habe – schweigen die Waffen. Den Rest soll die Biologie erledigen, indem die Verhandlungen über gegenseitige Rüstungskontrolle und Sicherheitsgarantien die Führungen der beteiligten Staaten überdauern werden.

Die START-Verhandlungen begannen 1982 und waren erst 1994 abschließend ausverhandelt. Wenn 2022 neue START-Verhandlungen beginnen, die allen derzeit Beteiligten zumindest die Gesichtswahrung ermöglichen; und wenn diese Verhandlungen, vielleicht noch unter Einbeziehung der Volksrepublik China ähnlich lange dauern, dann wird, so die Spekulation der Berufsdiplomaten, Joe Biden längst Geschichte sein. Putin hätte im Jahr 2034 das 82ste Lebensjahr erreicht. Bis dahin kann viel geschehen – vor allem aber ein bewaffneter Konflikt vermieden werden. Vorausgesetzt, den Diplomaten auf beiden Seiten gelingt es, ihre jeweiligen Führungen in diesen Prozess einzubinden. Glaubt man den aktuellen Tönen aus Moskau, scheint dieses allerdings wenig wahrscheinlich.

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