Am 9. Mai feiert Russland seinen Sieg über das Deutsche Reich, manifestiert mit der extra für die Sowjetarmee inszenierten, zweiten Unterzeichnung der Kapitulationserklärung der Deutschen Wehrmacht am 9. Mai 1945 um 0.16 Uhr in Berlin-Karlshorst. Zu diesem Zeitpunkt waren die Kriegshandlungen in Europa offiziell bereits beendet, denn schon am 7. Mai hatte in Reims der Generaloberst Alfred Jodl auf Anordnung des Militärchefs Karl Dönitz gegenüber dem Oberbefehlshaber der Alliierten, Dwight D. Eisenhower, die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht gegenüber allen alliierten Streitkräften erklärt. Die Waffenruhe sollte am 8. Mai um 23.01 Uhr in Kraft treten – doch an der längst tief ins Reichsland vorgeschobenen Ostfront gingen die Kämpfe noch weiter. Bis dann auf spezielle Anordnung Stalins der deutsche Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel am gegenwärtigen Sitz des Marschall Georgi Schukow in Karlshorst ein weiteres Mal – diese Mal gegenüber der Sowjetunion, die Erklärung unterzeichnete.
Mit dieser Unterzeichnung ruhten auf dem europäischen Kriegsschauplatz im Wesentlichen die Waffen – sieht man von Einzelaktionen verwirrter Hitler-Jünger und Racheaktionen aus den Reihen der zuvor vom Reich besetzten Völker einmal ab.
Russlands großer, sowjetischer Sieg
In der Sowjetunion feierte man diese Kapitulationserklärung als großen Sieg Russlands – und verdrängte darüber, dass dieser Sieg nur möglich geworden war, weil die USA die Kriegsverbündeten massiv mit Waffen und Material unterstützt und Japan entgegen den Wünschen Hitlers im fernen Osten Russlands keine zweite Front eröffnet hatte.
Putins unerwartet kurze Rede
Die Siegesfeier am 9. Mai ist seitdem vor allem eine militärische Leistungsschau – auch wenn, wie 2015 beim Vorzeige-Panzer T-14 Armata, dann schon mal was zumindest bei der Generalprobe daneben geht. In diesem Jahr, nachdem Russland mit dem als „Spezialoperation“ camouflierten Überfall auf die Ukraine die Nachkriegsordnung in Europa zerlegt hat, blickten vor allem die westlichen Regierungen gespannt nach Moskau. Viel wurde im Vorfeld spekuliert, was Putin an diesem Tag verkünden könnte und welche konkreten Schritte er möglicherweise einläuten werde. TE berichtete darüber.
Nun hat er sie also gehalten, die mit Spannung erwartete Rede. Rund zehn Minuten dauerte sie – unterbrochen von einer mehr als 60 Sekunden langen Schweigeminute für die „tapferen Soldaten“, die aktuell ihr Leben lassen. Doch von all dem, was im Vorfeld spekuliert worden war, geschah – nichts!
Weder annektierte Putin offiziell den Donbass, noch erklärte er der Ukraine offiziell den Krieg, um so eine Generalmobilmachung zu rechtfertigen. Noch etwa gar drohte er der NATO mit konkreten Angriffen oder malte den Atomkrieg an die Wand. Vielmehr folgte Putin in seiner kurzen Ansprache, in der er sich in sowjetischer Manier immer wieder an die „Genossen“ richtete, im Wesentlichen der Deeskalationsstrategie, die in der vorangegangenen Woche bereits bei seinem Außenminister Sergej Lawrow zu beobachten war.
Gute Russen, böse Amis
Selbstverständlich: Auch wenn die Bezeichnung „Genozid“ nicht mehr fiel, so wurden dennoch im Kreml erdachten Lügenmärchen von einem Vernichtungsfeldzug gegen jene Russen, die durch den Zerfall der Sowjetunion wider Willen auf dem Territorium der Ukraine leben mussten und dort von ukrainischen Nazis geknechtet würden, ebenso wiederholt wie der haltlose Vorwurf, die Ukraine habe sich mit Atombomben gegen Russland aufrüsten wollen.
Von der Spezialoperation zum Erstschlag
In all diesen Punkten richtete sich der Aggressor vorrangig an sein eigenes Volk, wiederholte ihm die narrativen Märchenerzählungen von einem fiktiven Vernichtungsschlag, den der russophobe Westen geplant habe, um Russland als unabhängiges, stolzes Land zu vernichten.
Aus dieser Erzählung nun leitete Putin eine neue, andere Legitimation für seinen Überfall ab. War die „militärische Spezialoperation“ bislang gleichsam als polizeilicher Eingriff in ein von Menschenfeinden gekapertes, russisches Land beschrieben worden, so bezeichnete Putin den russischen Überfall nun erstmals als „Erstschlag gegen den Aggressor“. Damit deutet er nun tatsächlich eine neue, veränderte Perspektive der russischen Kriegssicht an.
Ein „Erstschlag“ setzt zwangsläufig einen bereits kurz vor dem Einsatz stehenden Angriff des nun zuerst zu Schlagenden voraus. Demnach habe also ein Angriff gegen Russland unmittelbar bevorgestanden. Wer diesen Angriff geplant haben soll, deutet Putin nur an: Die bösen USA stehen irgendwie hinter allem, was Russland als misslich und gegen seine Interessen gerichtet betrachtet – doch der „Erstschlag“ erfolgte weder gegen die USA noch gegen die NATO, sondern ausschließlich gegen die Ukraine. Weshalb folgerichtig zu unterstellen ist, dass Putin von dort einen Angriff erwartet haben müsste.
Da nun aber dem Leningrader, auf dessen Parade zwar auch wieder Sowjetflaggen zu sehen waren, aber nicht das taktische „Z“ auf den Militärfahrzeugen, selbst bewusst sein muss, wie absurd die Vorstellung ist, dass in Kiew ein Angriffskrieg auf das große und mächtige Nachbarreich geplant gewesen sein könnte, einvernimmt Putin die von russischen Truppen und Kollaborateuren besetzten ukrainischen Staatsgebiete im Donbass und auf der Krim als russisches Territorium – und damit zum Anlass, sein Erstschlagsnarrativ zu belegen. Die ukrainischen Nazis hätten demnach geplant gehabt, „unser historisches Territorium“ anzugreifen und zu erobern – kein Wort davon, dass Russland im bis heute ungekündigten Freundschaftsvertrag mit der Ukraine die besagten Territorien ausdrücklich als ukrainisch anerkannt hatte. Kein Wort auch davon, dass diese „historischen Territorien“ erst im späten 18. Jahrhundert gewaltsam erobert und als „Neu-Russland“ von den Moskauer Zaren annektiert worden waren.
Die Andeutung einer Verhandlungsstrategie
Mit der ausdrücklichen Erwähnung des Donbass und der Krim als „historische, russische Territorien“ machte Putin jedoch deutlich, dass aus seiner Sicht die Einverleibung dieser Gebiete in sein großrussisches Imperium unabdingbar ist. Die Erwähnung der „Helden von Odessa“, jener russisch gesteuerten Terrorgruppe, die 2014 den Versuch unternommen hatte, die ukrainische Schwarzmeermetropole gleich Donezk und der Krim zu russischen „Volksrepubliken“ umzuwandeln, und die dabei im Brand des Gewerkschaftshauses ihr Leben verloren, macht jedoch auch deutlich, dass für den russischen Diktator sein „historisches Territorium“ bis mindestens an die Grenzen Moldawiens, wenn nicht Rumäniens reicht.
Ohnehin scheint Putin in seiner Rede auch Signale an „den Westen“, der für ihn die USA ist, ausgesendet zu haben. Ausdrücklich unterstrich er Russlands „Stolz auf die Heldentaten der amerikanischen Veteranen“, denen jedoch leider verboten worden sei, an der Siegesparade teilzunehmen. Hier also steht die Tür noch einen Spalt offen. Schaut her: Ihr aggressiven Amerikaner seid russophob – wir aber sind nicht amerikafeindlich! Es ist nur eure falsche Politik, die uns stolze Russen unterwerfen will! – Möglich, dass Putin darauf hofft, damit eine Verhandlungslösung in seinem Sinne anschieben zu können.
Die hohen Opferzahlen machen vorsichtig
Hintergrund der unerwarteten Zurückhaltung Putins sowohl in der Definition seiner Militärziele als auch gegenüber der Nato, mit der er offensichtlich keinen Konflikt riskieren will, kann auch die unerwartet hohe Zahl der russischen Opfer beim Überfall auf die Ukraine sein. Zwar nannte Putin erwartungsgemäß keine Zahlen, sprach jedoch vom Heldenmut, den die Männer „unseres Vielvölkerstaats, die Seite an Seite kämpfen“ aufbrächten. Es lässt sich nicht mehr verschweigen, dass manch russischer Sohn nicht mehr lebend in seine Heimat zurückkehren wird, weshalb Putin großzügige Unterstützung für alle Hinterbliebenen ankündigt. Hier scheint es ihm darum zu tun zu sein, einen ersten Unmut in der Bevölkerung abzufedern – wie weit das allein durch patriotische Ehrbezeugung und Finanzhilfe möglich sein wird, wenn die Zahlen der gefallenen Russen, die von manchen Instituten bereits als höher als im gesamten Afghanistan-Feldzug geschätzt werden, weiterhin stetig steigen, muss die Zukunft zeigen.
Insgesamt darf festgestellt werden, dass Putins Rede weitaus weniger martialisch ausgefallen ist, als von den meisten Beobachtern zuvor erwartet. Streicht man die unvermeidbare Propaganda für die russische Volksseele weg, so könnte sich sogar der Wunsch nach einer Verhandlungslösung ohne allzu große weitere Opfer andeuten. Dazu allerdings müsste die Ukraine bereit sein, nicht nur auf die bislang russisch besetzten Gebiete verbindlich zu verzichten, sondern auch die Annexion der Regionen Mariupol und Cherson durch Russland zu akzeptieren. Bislang ist Kiew dazu aus nachvollziehbaren Gründen nicht bereit. Vielleicht auch deshalb hat Putin Odessa, den wichtigsten Hafen der Ukraine, in die Verhandlungsmasse eingebracht.
Offensichtlich ist, dass Putin zwar pflichtgemäß weiter gegen den Westen poltert, aber keinerlei Interesse an einem direkten Konflikt mit der Nato hat. Die Ermüdung der konventionellen russischen Kräfte scheint mittlerweile zu groß zu sein, als dass er sich dabei irgendwelche Chancen ausrechnet.
Und jener wiederholt als Menetekel an die Wand gemalte, große Atomkrieg? Den hatte vergangene Woche bereits Lawrow eingesammelt. Bei Putin, der ihn anfänglich gehypt hatte, wurde er nun nicht einmal mehr angedeutet.
Das kann bedeuten, dass dem russischen Präsidenten ein wenig die Luft ausgeht, weil sie seinen „Spezialkräften“ ausgeht. Einen „echten“ Krieg will er gegenwärtig nicht riskieren – nicht einmal gegen die Ukraine. Und das vielleicht auch deshalb, weil dadurch völkerrechtliche Konsequenzen auf Russland zukämen, die Putin mit seiner Legende von der „Spezialoperation“ immer noch hofft, vom Tisch wischen zu können und am Ende zumindest noch ein wenig seines Diebesguts einheimsen zu können.