Tichys Einblick
Ukraine

Putins historischer Irrtum – ein Krieg ohne Perspektive

Wladimir Putin hat womöglich sein eigenes Narrativ über die Ukraine geglaubt. Die Gemengelage aus einer Scheinwirklichkeit und der Gefahr, alles zu verlieren, macht ihn unberechenbar. Die Zeit läuft gegen ihn. Aber auch das ist keine beruhigende Aussicht.

Wladimir Putin und sein Verteidigungsminister Sergei Shoigu auf einer Waffenmesse im Dezember 2021

IMAGO / SNA

Der Ukraine-Feldzug Putins ist nicht so verlaufen, wie der Herr des Kreml sich das gedacht hatte. Offensichtlich glaubte Putin den eigenen Horrorgeschichten einer brutalen Nazi-Herrschaft in Kiew, die die russische Bevölkerung knechtet, und ging davon aus, dass die Offiziere der ukrainischen Streitkräfte als alte Kameraden aus Zeiten der Roten Armee mit fliegenden Fahnen überlaufen und die geknechtete Bevölkerung am Straßenrand den russischen Soldaten mit Brot und Salz zujubeln werden. Es sollte ganz anders kommen – und die Erzählung von den Bandera-Banden, die im Hinterhalt lauern, um die Befreier zu ermorden, wandelt sich in ein Volk von Banderista, das keinerlei Vergnügen daran empfindet, sich vom großen Nachbarn zwangsbefreien zu lassen.

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Das ist tragisch, weil es nicht nur eine offensichtliche Spätfolge der geschichtsklitternden, sowjetischen Geschichtsschreibung ist, in der jener ukrainische Selbstbehauptungswillen, den Stalin auch mit dem Holodomor nicht hatte vernichten können, schlicht nicht stattfand. Es ist tragisch umso mehr, weil Putin seine sowjetisch erdachte Geschichte von einem durch den CIA vergewaltigten Volk rassereiner Russen auf dem Boden der mittelalterlichen Rus geglaubt hat und wohl noch immer glaubt. Die Panik des Wladimir Wladimirowitsch, die ihren jüngsten Höhepunkt in dem von seinem Kriegsminister mit einem Hauch von mitleidigem Staunen bedachten Befehl fand, die „Abschreckungswaffen“ in erhöhte Alarmbereitschaft zu versetzen, macht ihn unberechenbar. Es ist diese geschichtlich immer wieder dramatische Gemengelage aus einer erdachten Scheinwirklichkeit und der im konkreten Falle durchaus berechtigten Furcht, im Falle des Versagens nicht nur alles zu verlieren, sondern auch zutiefst gedemütigt zu werden.
Politik folgt nicht Gesetzmäßigkeiten, sondern menschlicher Psyche

Putin sinnierte im März 2018 in einer Fernsehansprache: „Unsere Pläne zur Nutzung, und ich hoffe, dass das niemals passiert, unsere theoretischen Pläne umfassen einen sogenannten Vergeltungs-Gegenschlag. Ja, das wird eine globale Katastrophe für die Menschheit sein. Es wird eine globale Katastrophe für den Planeten sein. Aber als Bürger Russlands und als russischer Präsident frage ich: Wozu brauchen wir eine Welt, in der es kein Russland gibt?“

Das klingt fast wie abgeschrieben vom Verfasser der schlimmsten Nero-Befehle: „Deutschland wird entweder Weltmacht oder überhaupt nicht sein“. Dieser Satz stammt aus „Mein Kampf“. Viele haben darüber gelacht oder den Kopf geschüttelt. Bis sie eines Schlimmeren belehrt wurden.

Die atomare Drohung angesichts des Fehlschlags in der Ukraine ist insofern weder neu noch überraschend. Auch hier gilt: Man hätte nur rechtzeitig zuhören müssen.

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Politik erklärt sich nicht auf der Grundlage herbeitheoretisierter „Gesetzmäßigkeiten“, sondern durch die Psychologie der Akteure. Das ist nur begrenzt problematisch, solange die Akteure in halbwegs rationale Systeme der gegenseitigen Kontrolle eingebunden sind: Ein Paranoiker im Politbüro der Nachkriegs-KPdSU konnte zwar manchen Schaden anrichten – am Ende aber waren immer noch genug Genossen im Saal, um das Schlimmste zu verhindern. Wirklich gefährlich wird es dann, wenn sich Paranoiker zu unangefochtenen Alleinherrschern aufschwingen. Stalin war ein solcher. Sein Counterpart Hitler ebenso. Sie gehen über Leichen, kennen kein Maß und am Ende keine Selbstkontrolle. Das Volk, für das sie sich vorgeblich aufopfern, ist nichts anderes als ein Instrument, das zu funktionieren hat – und das sich als seiner Existenz unwürdig erweist, wenn es dabei versagt. Über Putin hat die Geschichte ihr Urteil erst noch zu sprechen.
Die Suche nach Unsterblichkeit

Putin sieht sich umgeben von Feinden. Von den Großen auf der anderen Seite des Nordpols und von den Kleinen vor der eigenen Haustür. Sein erhoffter Raid over Ukraine legitimiert sich auf der Grundlage des neofaschistischen Konzepts der „Russkij Mir“ des Vordenkers Aleksandr Dugin, in dem das vorläufige Endziel russischer Politik als die Errichtung einer russisch geführten Union von Lissabon bis Anchorage definiert wird. Es ist ein Endziel, bei dem Putin mit seinen nunmehr fast 70 Lebensjahren die Zeit fortzulaufen droht. Also lieber die Menschheit vernichten als scheitern, weil es ein Russland ohne Putin nicht geben kann und dann eben auch die menschliche Existenz an sich überflüssig wird?

Dagegen steht die eigentliche Motivation, die tatsächliche Hybris. Für Hitler war „sein“ deutsches Volk nur das Instrument, um eigene Unsterblichkeit zu erlangen. Er wollte für die Ewigkeit in den Geschichtsbüchern stehen als jener, der die arisch-deutsche Weltherrschaft geschaffen hatte: Ein Alexander der Große der Neuzeit. Wenn man so will, war er trotz der absoluten Niederlage sogar erfolgreich: Weltweit dürfte es keinen Politiker geben, dessen Name häufiger erwähnt wird und der bekannter ist. Auch das Böse kann ewigen Ruhm und Unsterblichkeit schaffen. Doch dazu muss es Überlebende geben.

Diese Hybris der Unsterblichkeit wird bei Putin ergänzt durch die Angst vor dem unmittelbaren Untergang. Längst schon hat der Geschmack von Freiheit und Selbstbestimmung auch die russische Gesellschaft infiziert. Für Putin stellen diese die eigentliche Gefahr dar – die Hinweise auf angebliche NATO-Aggressionen und eine herbeifantasierte Übernahme durch die USA dienen lediglich dem Ziel, von dieser Urangst abzulenken, seinem Volk und sich selbst ein Argument dafür zu liefern, Demokratie und Selbstbestimmung zu unterdrücken. Deshalb aber auch darf der Überfall auf die Ukraine nicht scheitern. Ein Rückzug oder auch ein ewiger Krieg wären im wahrsten Sinne des Wortes tödlich für den Leningrader; Diktatoren dürfen keine Schwäche zeigen. Das macht Putin so gefährlich und die weitere Entwicklung unberechenbar. Und es erfordert die Frage, wie diese Verstrickung Russlands in einen selbstproduzierten Sog des Untergangs dennoch zu einer Lösung gelangen kann. 

Keine Kapitulation der Ukraine

Was immer auch geschehen wird: Eine Kapitulation der Ukraine wird es nicht geben. Russlands Armee wird trotz der erkennbaren Schwächen immer noch die Kapazitäten haben, die Metropolen zu zerbomben und die Trümmer zu besetzen. Doch was macht es für einen Sinn für Russlands Führung, sich selbst zum Weltparia zu machen? Die Strategie des Militärs scheint es daher zu sein, auf eine Taktik der Belagerung der Millionenstädte umzuschalten. Die Erwartung, man könne mit seinem Militärgerät zum Rathaus fahren und die Verwaltung übernehmen – gescheitert.

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Doch wie belagert eine demotivierte Armee eine Millionenstadt? Wieviel Militärmaterial benötigt eine Armee, um einen undurchdringbaren Ring um eine Metropole wie Kiew zu legen? Und was dann? Die Infrastruktur vernichten, um das widerborstige Volk in die Knie zu zwingen? Das mag möglich sein – doch der Sieger wird zum verhassten Besatzer, zum Schlächter und Mörder von Frauen und Kindern. Kann es das sein, was die russische Führung will, weil ein Putin nicht scheitern darf?

Das Denken des 19. Jahrhunderts, in dem sich die russische Führung verfangen hat, glaubt, den Sieg dadurch erreichen zu können, indem das Volk enthauptet wird. Den gewählten Präsidenten Selenskyj, von Putin als drogensüchtiger Nazi geschmäht, ausschalten? Die Klitschko-Brüder, die mittlerweile neben dem Präsidenten zu Symbolfiguren des Kampfes gegen die Invasoren geworden sind, ermorden?

Der russische Militärapparat kann Helden des ukrainischen Widerstands schaffen – aber dadurch den Krieg nicht gewinnen. Wen immer Putin dann auch als willfährigen Erfüllungsgehilfen zum Nachfolger einsetzen will – diese Marionetten werden dem Volk zutiefst verhasst sein und dieses auch ohne seine ermordeten Helden mit passivem und aktivem Widerstand den russischen Besatzern das Leben zur Hölle machen. Die Zeiten, in denen der Sowjetmensch Putin lebt und in denen brutale Staatsgewalt Völker knechten konnte, sind vorbei und nicht wiederherstellbar. Um der Ukraine einen „Russischen Frieden“ aufzuzwingen, muss Russland entweder einen Völkermord begehen oder das Volk vertreiben. Aber selbst damit wäre nichts gewonnen, sondern alles verloren, was man angeblich gewinnen wollte.

Kein Ausweg für den Aggressor

Putin hat sich verrannt in eine Situation, aus der er nicht mehr herauskommt. Keine Wahrnehmung der Realität, verfangen in der Hybris des eigenen Narrativs; und über allem die Illusion, eine wie auch immer gestrickte Vorsehung würde im letzten Moment alles „zum Guten“ kehren. Denn es kann doch nicht sein, dass die historische Mission, auf der er sich zu befinden glaubt, am Plebs, am Druck der Straße scheitern wird.

Militärisch könnte Russland überlegen sein, auch wenn langsam Zweifel aufkommen, ob das Pokerface Putin nicht doch all die Jahre militärtechnisch Potemkinsche Dörfer aufgestellt hat. Putins Raketen und Superpanzer – nichts anderes als Fake?

Chruschtschow wird mit dem Satz zitiert, Russland müsse all die vorgeblichen Waffen nicht haben – der Westen müsse nur glauben, dass es sie hat. Orientiert sich Putin an jenem KP-Chef, der die Entstalinisierung einleitete und die Verbrechen des Vorgängers öffentlich machte? Noch jedenfalls zeigt sich Russlands Militärmaschine in der Ukraine mit Kriegswerkzeug des vergangenen Jahrhunderts, das von ukrainischen Bürgern zerlegt wird.

Warum aber haben Kriegsminister Shoigu und Armeechef Gerassimow ihren Überfall mit unzureichendem Gerät gestartet? Warum wird der Armata-Panzer nicht eingesetzt, warum nicht das angeblich so effektive Kriegsgerät? Möglich, dass auch das Militär jener Selbsttäuschung aufgesessen ist, dass der Einmarsch zum bejubelten Triumphzug wird. Dann allerdings wäre dieses ein Totalversagen der russischen Geheimdienste. Selbsttäuschung statt Aufklärung.

Ein Marionettenregime im Partisanenkampf

Angenommen, es gelänge den russischen Invasoren trotz aller Widerstände, Kiew zu besetzen und eine Marionettenregierung einzusetzen. Und dann? Aus Moskau gesteuerte Verhandlungen, in denen die Ukraine den Osten an Russland abtritt und der Rest der Ukraine zum russischen Mündel wird? Das wären nur Verträge, die international keine Relevanz besitzen, weil zu offenkundig ist, dass sie gegen den Willen des Volkes erzwungen wurden. Sie hielten nur so lange, bis in Russland das Volk die Macht übernimmt und die Diktatoren aus dem Kreml jagt – wann immer das sein wird.

Doch ohnehin sind das nur ferne Ideen, denn vielleicht kann Russland die Ukraine besetzen. Vielleicht kann Putin eine Marionettenregierung einsetzen. Vielleicht kann Putin Teile oder auch die gesamte Ukraine annektieren. Aber auch damit hat er nichts gewonnen. Weil er jetzt schon alles verloren hat.

So sehr Glosse, dass es keine mehr ist
Wladimir Putin ist kein ungezogenes, trotziges Kind
Falls es noch eines Anlasses bedurfte, um aus den Exbürgern der Sowjetunion auf dem Boden der Ukraine ein geeintes, patriotisches Volk zu machen, dann hat Putin ihn geliefert. Sollte es damals noch so gewesen sein, wie der russische Propagandasender RT im Juli 2021 meldete, dass 41 Prozent der Ukrainer der Auffassung seien, Russen und Ukrainer seien ein Volk – nach dem russischen Überfall dürfte der Prozentsatz gegen Null gehen. Dabei gilt: Noch wissen die Ukrainer mehrheitlich, dass sie ihren Krieg gegen einen Diktator führen – nicht gegen das russische Volk. Doch je länger der Krieg und die unvermeidbare militärische Besetzung dauern wird, desto tiefer wird der Riss werden zwischen jenen, die sich einst als Brudervölker verstanden.

Falls Putin davon geträumt hat, die Völker der europäischen Demokratien auseinander definieren zu können – das Gegenteil ist der Fall. Es rücken auch jene zusammen, die zuvor gegeneinanderstanden. Schon immer hat die gemeinsame Gefahr von außen als Einigungsbeschleuniger gewirkt: Der eigentliche Gründer des Deutschen Reichs war nicht Otto von Bismarck, sondern der Franzose Napoleon III.

Falls Putin davon geträumt hat, die NATO zu zerstören – das Gegenteil ist der Fall. Auch hier gilt: Nichts eint mehr, als ein gemeinsamer Feind. Und nichts macht attraktiver als das Gefühl, in der Gemeinschaft stark genug zu sein, um auch einen unberechenbaren Gegner bezwingen zu können.

Auch in Russland regt sich Widerstand

Doch Putin hat sich nicht nur außenpolitisch verkalkuliert. Falls er davon geträumt hat, mit einem militärischen Erfolg in der Ukraine die Russen hinter sich zu bringen, so wird er auch damit scheitern. Es sind nicht nur Intellektuelle, Sportler und Künstler, die trotz Androhung martialischer Konsequenzen ihren Widerstand formulieren. Selbst aus dem erweiterten Umfeld des Diktators sind erste Absetzbewegungen festzustellen. Die Russen werden einen Vernichtungskrieg gegen die ukrainischen Nachbarn nicht ewig dulden – und spätestens dann, wenn Russlands Söhne in Särgen zurück in die Heimat kommen, weil ukrainische Partisanen die Besetzung ihres Landes zu einem ewigen Krieg machen, wird die russische Führung den Halt verlieren.

Womit wir wieder bei jener Unberechenbarkeit sind. Putin kann diesen Krieg nicht gewinnen. Doch er kann auch nicht eingestehen, ihn längst verloren zu haben auch dann, wenn er die Söhne seiner Russen als Besatzer überall in der Ukraine stationieren muss.

Der Nero-Befehl als Ultima ratio?

Also doch die atomare Endzeitperspektive? Möglich, dass nicht nur Putin in dem Wahn verfangen ist, dass NATO und USA ihn mit militärischen Mitteln beseitigen wollen. Möglich auch, dass sein Verteidigungsminister Shoigu einer ähnlichen Vorstellung verfallen ist – doch anders als Putin weiß der Halbtuwine, dass es für ihn keine Unsterblichkeit geben wird. Gewinnt er Kriege, kann er seinen beiden Töchtern ein paar mehr Orden hinterlassen. Doch wozu Töchter, wenn es keine Menschheit mehr gibt, weil Putin eine Erde ohne Russland für unnötig erklärt hat?

Selbstverständlich meldet der Militär pflichtgemäß die Erfüllung des Befehls, die „Abschreckungswaffen“ in Alarmbereitschaft versetzt zu haben. Das gehört zum militärischen Spiel, zu Bluff und Druck in der Hoffnung, einen bereits verlorenen Krieg dennoch zum Erfolg machen zu können. Möglich auch, dass Shoigu und sein Militärchef sogar bereit sind, die Schuld eines Massenmords an widerborstigen Ukrainern und anderen auf sich zu laden. Aber ist ein Shoigu auch bereit, die Vernichtung der eigenen, genetischen Linie zu verantworten, indem er einen dann vielleicht doch finalen Nerobefehl exekutiert und damit jegliche Debatte über einen Klimawandel und all die anderen Themen der verwirrten Menschheit final beendet?

Menschen sind Menschen auch dann, wenn sie sich unmenschlich verhalten. Es sei denn, sie hätten nichts mehr zu verlieren. Putin, Verlierer auch dann, wenn er sich in der Ukraine als Gewinner feiern sollte, mag dann, wenn er nichts mehr zu verlieren hat, die Welt mit in den Untergang nehmen wollen. Nicht so aber jene, die hinter den Kulissen die Fäden im Kreml ziehen. Auch nicht jene Oligarchen, die zwar mit Putin vieles verlieren können, aber immer noch genug von ihrem geraubten Vermögen werden retten können, um ein sorgenfreies Leben leben zu können. Vor allem aber nicht jene Russen, die wirklich nichts anderes als Menschen sind. Einfache Menschen mit Empathie, mit Familien, mit Träumen und mit dem Kompass der Menschlichkeit, der ihnen sagt, was Recht und was Unrecht ist.

Putin mag sich in einen ewigen Besatzungskrieg in der Ukraine verstricken – doch mit jedem Tag, mit jeder Stunde, die vergeht, vergeht sein Ansehen, sein Einfluss, seine Macht. Bevor er die Welt und damit Russland vernichtet, wird Russland ihn vernichten. Die Zeit läuft gegen ihn – und sie läuft von Sekunde zu Sekunde schneller. 

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