Wie verzweifelt muss Putin darüber sein, dass sein Überfall auf die Ukraine offenbar so ganz anders verläuft, als er sich das vorgestellt hat? Nach seinem unkontrollierten Ausfall am Freitag, in dem er die ukrainische Armee zum Überlaufen aufforderte und die demokratisch gewählte Regierung als drogensüchtige Bande von Nazis bezeichnete, soll der Kremlherrscher nun den tschetschenischen Bandenchef Ramzan Kadyrow gebeten haben, mit seinen islamischen Terrorbanden – einer bis zu 15.000 Mann starken Privatarmee – die Schmutzarbeit der Beseitigung der legitimen Regierung um Wolodymir Selenskyj zu übernehmen.
Sollten die Berichte über den Einsatz der Tschetschenen zutreffen, wäre dieses ein kaum zu übertreffender Misstrauensbeleg Putins gegen seinen eigenen Militärchef Sergej Schoigu. Diesem lastet Putin offenbar an, mit einer militärischen Fehleinschätzung des Widerstandswillens der Ukrainer das sich anbahnende Desaster zu verantworten zu haben. Tatsächlich gingen der russische Geheimdienst und die Armeeführung davon aus, dass die ukrainische Armee weitgehend widerstandslos überlaufen und die Ukrainer tatsächlich die Invasionskräfte begrüßen würden. Tatsächlich aber zeigt sich die Armee unerwartet widerstandsfähig – und die Bevölkerung folgt in weiten Teilen dem Aufruf Selenskyjs, zu den Waffen zu greifen und die Invasoren an jedem Ort der Ukraine zu bekämpfen.
Dennoch wird sich Schoigu dagegen wehren, als Sündenbock für die Fehleinschätzungen der Echokammer ans Kreuz genagelt zu werden. So könnte sich in der russischen Führung der ewige Konflikt zwischen Armeeführung und Geheimdienst neu entfachen – und die Loyalität der Armee zu Putin ins Schwanken geraten. Wie einst zu Zeiten des Kalten Krieges ist es jedoch kaum möglich, hinter die Kremlmauern zu schauen. Bislang galt Putin als unantastbarer Diktator und Alleinherrscher – ob dieses jedoch noch gilt, wenn die Oligarchen bemerken, dass es an ihr Erspartes geht, und mehr noch: Wenn das Militär feststellt, dass es zum Sündenbock für politisches Versagen herhalten soll? So ist nicht auszuschließen, dass Schoigus Generalität beginnt darüber nachzudenken, ob Putins Aufforderung an die ukrainische Militärführung, die Regierung Selenskyj abzusetzen, nicht auch in Russland eine Option sein könnte, um einen Krieg, der Russland international isoliert und der zudem in Russland selbst zunehmend weniger Unterstützung findet, schnellstmöglich zu beenden.
Vom Komiker zum Nationalheld
Doch auch dann, wenn Putin sich wird halten können, weil seine Kadyrow-Islamarmee die ukrainische Regierung ausgeschaltet und seine Armee wesentliche Teile der Ukraine besetzt hat, könnte das Ergebnis des Feldzuges ein deutlich anderes sein, als in Moskau erwartet. Wie aus internen Kreisen zu erfahren ist, soll Selenskyj von einer westeuropäischen Spezialeinheit persönlich geschützt werden. Zwar wird der Präsident bis zum letzten Moment in Kiew bleiben und von dort den Widerstand repräsentieren, doch es soll auch konkrete Pläne, ihn in dem Moment, wo der Zugriff durch Putins Schergen nicht mehr abzuwehren scheint, in eine westeuropäische Hauptstadt zu evakuieren, von wo aus er die legitime Exilregierung gegen Putins Marionettenkabinett führt und den Partisanenkrieg gegen die Besatzer leitet.
Anders als in Moskaus Echoblase erwartet – und auch das eine Ursache für Putins Panik – hat sich der jüdische Komiker, der zum Präsidenten der Ukraine gewählt worden ist, längst zum unangefochtenen Symbol der ukrainischen Freiheit gemausert und ist zum neuen Nationalhelden der unabhängigen Ukraine geworden.
Das aber ist das genaue Gegenteil von dem, was man Putin versprochen zu haben scheint. In Moskau wurde offenbar erwartet, dass Selenskyj wie einst der Moskau-treue Janukovic umgehend die Flucht ergreifen und sich Richtung Westen absetzen würde. Doch Selenskyj hat sich in den Mittelpunkt des ukrainischen Widerstands gestellt und beweist seinen Patriotismus durch ungebrochenen Kampfwillen. Seine Gegenwart in Kiew mobilisiert das ukrainische Volk gegen den Aggressor aus Moskau – selbst im Falle einer militärischen Besetzung wird es Putin nicht mehr gelingen, dieses Land zu russifizieren. Ganz im Gegenteil hat es der KGB-Mann geschafft, die frühere Nähe der Ukrainer zu Russland ins Gegenteil zu verkehren.
Putins Spieß umkehren
Neben der möglichen Perspektive einer ukrainischen Exilregierung in Westeuropa gibt es jedoch auch weitere Szenarien, die Putins Kalkül erschüttern könnten. Sollte es Russland gelingen, die gewünschte Marionettenregierung in Kiew zu installieren, könnten die westlichen Provinzen der Ukraine den Spieß umdrehen und das russische Konzept der „unabhängigen Republiken“ kopieren. Mit der Begründung eines bevorstehenden Genozids an der katholisch-polnisch geprägten Minderheit und der ukrainisch-orthodoxen Mehrheit durch die russische Marionettenregierung könnten die polnisch geprägten, westlichen Provinzen eine Freie Republik Lwiw (Lemberg) ausrufen, die sich von dem russisch besetzten Rest lossagt. Sollte Russland planen, diese Provinzen mit Gewalt zu übernehmen, soll als ultima ratio sogar darüber nachgedacht werden können, dass das Parlament der prowestlichen Separatisten den Beitritt ihrer Republik zur Republik Polen erklärt.
Das Risiko einer solchen Entwicklung: Putin könnte abschließend in Panik geraten und zu irrationalen Entscheidungen kommen. Seine bisherigen Drohungen werden bereits als die Bereitschaft interpretiert, notfalls auch die Atomwaffen einzusetzen. Doch ob die russische Armeeführung tatsächlich bereit wäre, für Putin in einen Krieg der Selbstvernichtung gegen die NATO zu ziehen, darf angesichts der ohnehin schon erkennbaren Verwerfungen fraglich sein.
Insofern bleibt die Feststellung: Putins Überfall hat Situationen geschaffen, mit denen er nicht gerechnet hat. Selbst ein Sieg in der Ukraine könnte schnell zum Pyrrhussieg werden. Putin wäre nicht der erste, der sich in seiner Hybris am Ende selbst die Schlinge um den Hals gelegt hat.