Tichys Einblick
Im Osten kaum Neues

Putins Rede vor Staatsduma und Föderationsrat

Putin schwärmt, dass Russland alles aus eigener Kraft bewältigen könne. So auch den Wiederaufbau von „Neurussland“, wie Putin die besetzten ukrainischen Gebiete nennt. Dazu sollen nun vor allem jene „Kämpfer, die gestählt und erfahren von der Front zurückkommen“, eine Schlüsselrolle in der Wirtschaft übernehmen.

Russischer Präsident Wladimir Putin, 21. Februar 2023

IMAGO / SNA

Über 90 Minuten sprach Russlands Präsident am Dienstag zu den Vertretern der Russischen Staatsduma und des Föderationsrats. Die Rede verstärkte Zweifel, ob Putin tatsächlich über die reale Lage an der Front und in der internationalen Welt informiert ist.

Wer etwa gar Initiativen für ein Ende des Mordens in der Ukraine erhofft hatte oder wie Frankreichs Präsident Macron immer noch daran glaubt, diesen Terrorkrieg auf dem Verhandlungswege beenden zu können, sah sich enttäuscht. Vor allem aber zeigte Putins Auftritt: Den Abgeordneten fehlte der erwartete, nationale Enthusiasmus. Merklicher Beifall kam nur an wenigen Passagen auf – ansonsten eher starre, nachdenkliche Gesichter.

Der Westen ist an allem schuld

Zum Einstieg wiederholte Putin seine Erzählung von der Situation in der Welt. Nicht Russland sei es, das einen Krieg vom Zaun gebrochen hat – die USA trügen die alleinige Schuld. Sie und ihre westlichen Vasallen hätten „hinter unserem Rücken“ ihre Versprechen gebrochen. Ohne sie zu nennen, bedankt sich Putin für das Geschwätz von Altbundeskanzler Merkel: Minsk und Normandie-Format seien nichts als Lügen gewesen, um die ukrainischen Neonazis zum Angriff auf Russland zu ermuntern und das nationalistische Militär entsprechend zu trainieren. Das habe der Westen nun sogar zugegeben – und er schäme sich dessen nicht einmal. Die damaligen Gespräche, bei denen Russland „alles gegeben hat, um zu einer friedlichen Lösung zu kommen“, würden nun von den damals Beteiligten als „Bluff“ bezeichnet. Der Westen habe mit gezinkten Karten gespielt.

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Ganz anders hingegen Russland. Der Konflikt beginnt für Putin nicht mit der Besetzung der Krim, deren völkerrechtswidrige Annexion für ihn derart selbstverständlich ist, dass er sie nicht einmal mehr bei der Listung der nun besetzten Gebiete erwähnt, und der Unterstützung der Kriminellen im Donbas, sondern mit dem Versuch der Ukraine, ihr Land damals von der russischen Besetzung zu befreien. So, wie dort ein heroischer Kampf aufrechter Russen gegen die „Neonazis“ in Kiew gefochten wurde, stehe Russland heute in einem Krieg von USA und Nato gegen Russland. Sie hätten schon lange vor 2014 damit begonnen, gegen Russland vorzurücken und aus der Ukraine ein „Anti-Russland“ zu schaffen.
Russlands Subversion wird ausgeblendet

Dass es Putins nationalrussische Ideologie ist, die 2013 durch das unmittelbare Einwirken auf die ukrainische Führung zwecks Nicht-Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU den Euromaidan provoziert hatte, wird ausgeblendet. Für Putin, dessen großrussische Ideologie durch Unterwanderung und militärische Einflussnahme dieser Tage erneut mit Blick auf ein entsprechendes Strategiepapier zu Belarus offenbar wurde, war diese Revolution einer prowestlichen Bevölkerung der GAU, den er sich als einen Putsch gegen die verfassungsmäßige Ordnung der Ukraine zu erklären versucht. Die Tatsache, dass sein Einwirken auf Janukovic nicht nur kaum weniger gegen die Verfassung verstieß, sondern zudem noch ein Bruch russischer Zusagen der Nichteinflussnahme gewesen ist, fällt großzügig unter den Tisch.

Wo Putins aktuelle Ziele immer noch liegen, untersteicht er, als er den USA und dem Westen vorwirft, die Weltordnung von Jalta und Potsdam auszuhebeln. Damals hatte der russische Tyrann Stalin durchgesetzt, dass das russische Sowjetimperium ohne jede Rücksicht auf selbstbestimmte Entscheidungen der Bewohner bis an die Elbe vorgeschoben wurde. Der Kalte Krieg und die brutale Niederschlagung zahlreicher Volksaufstände waren seinerzeit die Folge.

Derartige Militäraktionen, mit denen Russland Deutsche, Ungarn und Tschechen niederknüppeln ließ, sind das Muster für Putins „militärische Spezialoperation“. Russland führe keinen Krieg gegen die Ukrainer, gegen die Putin angeblich nichts habe, obgleich er sie im gleichen Atemzug als „Nationalisten“ diffamiert, sondern gegen ein Neonazi-Regime, das der Westen gegen den Willen der Bewohner in Kiew installiert habe, um dort eine Vasallenarmee zu installieren, mit der das große, historische Russland für immer vernichtet werden solle.

Durch Wokeness beflügelter Nationalimperialismus

Hier mengt sich bei Putin reaktionärer Nationalimperialismus mit einem nicht nur in Russland als Bedrohung empfundenen Diktat radikaler Minderheiten. Der Vormarsch der Wokeness mit der Zerstörung traditioneller Bindungen und der Sexualisierung der Gesellschaft durch Minderheitenorientierungen sind der Stoff, mit dem Putin nicht nur in Russland selbst punkten will. Die ambivalente Position des ungarischen Präsidenten im Konflikt ebenso wie die konservative Haltung Polens zu den Wokeness-Wirrungen sollen Putin als Einfallstor dienen, um die Pro-Ukrainefront Stück für Stück über die Zeit aufzuweichen. Süffisant behautet Putin: „Sie zerstören die Familien, die traditionelle und nationale Identität! Nun werden auch noch Priester gezwungen, gleichgeschlechtliche Ehen zu segnen! Dabei müssen sie nur in die heiligen Texte schauen – aber sie fordern sogar noch einen geschlechterneutralen Gott!“

Vor solcher „Degenerierung und Entartung“ gelte es, „unsere Kinder zu schützen“. In den Schulen ebenso wie auf dem Schlachtfeld. Denn so, wie der degenerierte Westen Krieg gegen Russland und die christlichen Traditionen führe, so begingen die (ukrainischen) „Nationalverbrecher“ mit ihrer Verachtung für das (russische) Mutterland ein „Verbrechen gegen die territoriale Einheit“ (Russlands). Dazu gehören für Putin unmittelbar die vier teilbesetzten Provinzen Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson – die Krim wird nicht mehr erwähnt.

Putin unterstreicht: Russland ist auf dem Schlachtfeld unbesiegbar – und die Russen hätten das begriffen. Sie stünden in der alten russischen Tradition, alles für den Sieg zu tun. Sie sind die Guten – der Westen und die Ukrainer die Bösen.

Der Umbau zur staatsgelenkten Ökonomie

In diesem Zusammenhang gibt es dann auch einen heftigen Seitenhieb auf Russlands Finanzelite. Sie (die nicht so genannten Oligarchen) hätten Russland nach westlichem Muster ausgebeutet, seien mit ihren Gewinnen „ins Ausland geflohen“. Deshalb aber habe nun auch niemand „Mitleid mit jenen, die im Westen ihre Jachten und Paläste verloren haben“. In Russland verdientes Geld müsse in Russland bleiben, findet Putin so den Übergang zu seiner Vision einer autarken Nationalökonomie. Der nun folgende Wirtschaftsteil seiner Rede bewegt sich weitestgehend im Illusionären, beginnt mit der Falschdarstellung, wonach die russische Inflation nur vier, höchstens fünf Prozent betrage. Unabhängige Zahlen gehen von mehr als dem Doppelten aus. Schuld daran, dass auch nach zwanzig Jahren Putin in Russland nichts wirklich zusammengeht, trage selbstverständlich ebenfalls der Westen. Er habe dazu den Grundstein in den Neunzigern gelegt, um Russland zu schaden.

Doch Putin schwärmt davon, dass Russland alles aus eigener Kraft bewältigen könne. Das gelte auch für den Wiederaufbau „Neurusslands“, wie Putin die besetzten ukrainischen Gebiete nennt. Dazu sollen nun vor allem jene „Kämpfer, die gestählt und erfahren von der Front zurückkommen“, eine Schlüsselrolle in der Wirtschaft übernehmen. „Russland hat eine große Vergangenheit und Tradition. Sie haben dafür gekämpft, kommen gestählt zurück – ich setze auf sie!“

Den Braindrain, den Russland infolge der Politik Putins mit mittlerweile rund einer Million geflüchteter, zumeist junger Menschen hat hinnehmen müssen, räumt er nur durch die Hintertür ein. Es müssten fünf Millionen Fachkräfte ausgebildet werden, um den Bedarf der russischen Wirtschaft in Technologie, Wissenschaft und Forschung zu decken. Hinter den verschlossenen Türen des Kreml offenbar kein Problem.

Dann erneut gegen den Feind

Nach dem langatmigen Ausflug in die Binnensituation Russlands mit zahllosen Versprechen, deren wirtschaftliche Zukunftsvision ähnlich gesteuerte „Marktwirtschaften“ vorsieht, wie sie einst den nationalen Sozialisten Deutschlands und dem heutigen Bundeswirtschaftsminister vorschweben, schließt Putin den Kreis seiner Rede mit einem letzten Ausflug in sein Kernthema. Dieses Mal geht es nicht um die generelle Schuldzuschreibung des russischen Terrorüberfalls auf das Konto von USA und Nato, sondern um die angebliche Dreistigkeit des Westens, nun sogar noch weiterhin Inspektionen russischer Militäranlagen zu erwarten. Dabei hätten sie offen bekannt, dass ihr Ziel Russlands strategischen Niederlage sei. „Und sie meinen, wir lassen uns darauf ein? Dabei wollen sie die Welt beherrschen und uns die strategische Niederlage bereiten? Das ist ein Höhepunkt des Zynismus!“

Dann kündigt Putin zum Abschluss seines Rede-Marathons faktisch den START-Vertrag von 2010. „Wir steigen nicht aus dem Vertrag aus, aber wir lassen unsere Teilnahme ruhen“, umschreibt er einen Status, der faktisch längst Realität ist. Um dann noch anzukündigen, dass auch die Wiederaufnahme von Atomwaffentests denkbar sei.

Deren Einsatz gegen die Ukraine oder die Nato allerdings droht er nun nicht an. Es bleibt beim Rasseln mit dem Massenmord, den Putin gegen das „neurussische Volk“, das er angeblich von einem Neonaziregime befreien muss, welches es sich selbst in einer demokratischen Wahl gegeben hat, führt, und dessen Lebengrundlagen er deshalb täglich mit neuen Terrorangriffen zu zerstören sucht. Doch auch dafür trägt nicht er, nicht Russland die Verantwortung. Glauben wir Putins Worten, so hat der Westen lange schon vor 2014 die Industrie in dem zerstört, was er für sein natürliches Territorium hält. Weil es eben immer nur darum gegangen sei, die Russen in dem, was gerade Ukraine genannt wird, gegen ihr Mutterland als Hilfstruppe zur Vernichtung des glorreichen Russlands zu missbrauchen.

So endet die Veranstaltung nach einer verbalen Manifestation der ewigen Größe Russlands mit dem Abspielen der russischen Nationalhymne. Einige wenige singen mit, die meisten Gesichter bewegen sich zwischen emotionsloser Starre und einem Hauch von Langeweile. Der Applaus fällt pflichtschuldig aus – kein frenetischer Beifall und auch nicht jene pflichtbewusste Dauerbegeisterung, mit der Putins historisches Vorbild feststellen ließ, wer als erstes die Hände zurückzog und so seinen Weg in den Gulag vorzeichnete.

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