Tichys Einblick
Recht oder Propaganda?

Putin – nach russischem Rechtsverständnis ein Kriegsverbrecher?

Mit einem Wort hat US-Präsident Joe Biden den Konflikt der USA mit Russland eskaliert: Biden nennt Putin einen „Kriegsverbrecher“, und der reagiert darauf mit weitreichenden Drohungen. Nur Propaganda, weil am Ende doch der Sieger Recht schreibt?

IMAGO / Russian Look

Welch eine Aufregung: US-Präsident Joe Biden dreht sich wie zufällig um und erklärt einem Reporter dezidiert, er glaube, dass Putin ein Kriegsverbrecher sei! Daraufhin, wie erwartet und vermutlich erwünscht, Zeter und Mordio in der Zentrale jener Personen, die gerade ein friedliches Land mit einem Angriffskrieg überziehen. Es handele sich um „inaktzeptable und unverzeihliche Rhetorik“, schimpft Putins Sprachrohr Dmitri Peskow und droht mit dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen. Diplomatische Beziehungen haben sogar die kältesten Tage des Kalten Krieges überstanden. Was ist dran an diesem Vorwurf, und was sind die Folgen?

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Tatsächlich wiegt die Feststellung, dass der Akteur in einem Krieg ein Kriegsverbrecher sei, schwer. Denn sie lässt heute sogar die lebenslange Inhaftierung des als solcher Verurteilten zu – vorausgesetzt, man wird der Person habhaft. Doch selbst wenn nicht: Kann man sich mit einem Kriegsverbrecher noch an einen Tisch setzen, beispielsweise um ein Ende von Kämpfen zu erreichen? Wird man nicht selbst zum Kriminellen, wenn man einem Kriminellen in seinem Tun auch nur das geringste Zugeständnis macht? Und wie ist das eigentlich, wenn man von einem Kriegsverbrecher Waren einkauft – wohl wissend, dass er ein Kriegsverbrecher ist und er seine Einkünfte aus dem Warenverkauf dafür einsetzen kann, weitere Verbrechen zu begehen?
Das deutsche Strafrecht

Nicht nur die Bundesregierung, die dank der unverantwortlichen Politik der beiden letzten bundesdeutschen Kanzler in die Abhängigkeit von einem Kriegsverbrecher geraten ist, machte sich durch den Kauf russischer Energieträger möglicherweise der Unterstützung einer kriminellen Vereinigung schuldig. Zudem: Müsste nicht die oberste deutsche Anklagebehörde längst aktiv geworden sein, wenn der „Glaube“ Bidens zutrifft, dass Putin ein Kriegsverbrecher ist? Denn ist der russische Präsident dieses, greift unmittelbar §129a StGB, wonach bereits die Gründung einer Vereinigung zur Anklage ausreicht, wenn diese darauf gerichtet ist, folgende Handlungen zu erfüllen:

Putin – schuldig im Sinne des Strafrechts

Es ist nicht nötig, all jene Punkte juristisch zu prüfen, die das Strafgesetzbuch listet: Zu allen vorstellbaren, anzuklagenden Punkten finden sich angesichts des russischen Angriffskriegs mehr als ausreichende Hinweise, die die Oberstaatsanwaltschaft auch ohne konkrete Klageeinreichung längst hätten zu Ermittlungen veranlassen müssen. Zudem schreibt das StGB fest, dass zu belangen sei, „wer sich an einer solchen Vereinigung als Mitglied beteiligt, wenn eine der in den Nummern 1 bis 5 bezeichneten Taten bestimmt ist, die Bevölkerung auf erhebliche Weise einzuschüchtern, eine Behörde oder eine internationale Organisation rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit Gewalt zu nötigen oder die politischen, verfassungsrechtlichen, wirtschaftlichen oder sozialen Grundstrukturen eines Staates oder einer internationalen Organisation zu beseitigen oder erheblich zu beeinträchtigen, und durch die Art ihrer Begehung oder ihre Auswirkungen einen Staat oder eine internationale Organisation erheblich schädigen kann.“

Es sollte keinerlei Debatte bedürfen, um solches nicht nur beim Handeln der politisch-militärischen Führung Russlands nicht nur in der Ukraine festzustellen, sondern auch beim einfachen Soldaten in der Ukraine, der auf Befehl seiner Führung auf dem Boden eines souveränen Landes entsprechende Handlungen begeht.

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Nach bundesdeutschem Recht kann folglich kein Zweifel bestehen: Vom russischen Präsidenten bis hinunter zum einfachen, russischen Gefreiten wäre Anklage nach §129a zu erheben, zudem das bundesdeutsche Recht sich hier auch nicht auf Handlungen beschränkt, die gezielt gegen Deutschland gerichtet sind oder von Deutschen begangen werden. All jenen Herrschaften, die sich am russischen Überfall auf die Ukraine beteiligen, droht somit in Deutschland zwischen einem und zehn Jahren Inhaftierung. Weshalb es hilfreich wäre, nicht nur die bekannten Namen der Rädelsführer zu listen, sondern auch die Namen all jener, die mit der Absicht des Kampfes die ukrainische Grenze überschritten haben. Denn diese könnten eines Tages vielleicht auf die Idee kommen, in Berlin auf Einkaufstour zu gehen. Und die dann unmittelbar nach Ankunft zu inhaftieren und abzuurteilen wären.

Nebenbei und in gewisser Weise delikat: Mit Haft bis zu fünf Jahren zu bedrohen wären bereits heute Olaf Scholz, Robert Habeck und Christian Lindner, die gegenwärtig die unmittelbare Verantwortung dafür tragen, dass russisches Gas und Öl von Deutschland eingekauft wird. Denn mit der Bezahlung dieser Ware erfüllen sie den Straftatbestand nach §129a(5), welcher die Unterstützung einer solchen Vereinigung thematisiert. Zudem – was in besonderem Maße den einen oder anderen beflügeln könnte, entsprechend im Sinne der Anklage aktiv zu werden – besteht nach §129a(8) die Möglichkeit, Tätern und Unterstützern die Ausübung öffentlicher Ämter abzuerkennen. Ob es Begründungen geben kann, trotz der offensichtlichen Erkenntnis eine solche terroristische Vereinigung zu unterstützen, definiert das Gesetz nicht. Ob die Befürchtung, durch die Nichtunterstützung der Vereinigung persönliche Nachteile hinnehmen zu müssen, ausreicht, darf jedoch bezweifelt werden.

Schuldig auch nach internationalem Recht

Doch richten wir unseren Blick fort vom deutschen Strafrecht, welches Putin und seine Mittäter im Zweifel ohnehin nicht interessiert, und schauen wir, ob wir Präzedenzfälle finden, in denen Russland aktiv an der Durchsetzung des Rechts gegen Kriegsverbrecher beteiligt gewesen ist.

Der Blick zurück auf jüngere Aburteilungen beispielsweise gegen serbische Kriegsverbrecher reicht hier nicht aus, da Russland den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag nicht anerkannt hat. Dass russische Kriegsverbrecher dennoch zur Verantwortung gezogen werden können, wenn sie ihre Verbrechen auf dem Boden der Ukraine begangen haben, steht dahin, denn die Ukraine hat sich und damit ihr Territorium der entsprechenden Gerichtsbarkeit unterworfen.

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Jenseits dessen jedoch gab es eine historische Situation, in der Russland aktiv sowohl in Anklage wie in Aburteilung an der strafrechtlichen Verfolgung von Kriegsverbrechen beteiligt war. Folglich ist davon auszugehen: Was bei diesen Prozessen seitens der russischen Vertreter in Anklage und Aburteilung bestätigt oder sogar vorangetrieben wurde, kann und muss seine unmittelbare Anwendung auch auf Personen mit russischer Staatsbürgerschaft finden, so diesen entsprechende Handlungen nachgewiesen werden können. Wäre es nicht so, dann verlören jene in besagten Prozessen erfolgten Aburteile jedweden juristischen Wert und wären tatsächlich das, als was sie von Gegnern seinerzeit bezeichnet wurden: Willkür- und Siegerjustiz.

Die Rede ist selbstverständlich von den Nürnberger Prozessen. Statt, wie es auch im Sinne der Aufarbeitung der im Namen Deutschlands begangenen Verbrechen sinnvoll gewesen wäre und die Angeklagten vor deutsche Gerichte zu stellen, die bereits mit dem zutreffenden Vorwurf des Hochverrats hätten beginnen können, weil alle Beschuldigten wissentlich und vorsätzlich gegen die nach wie vor geltende Reichsverfassung von Weimar verstoßen hatten, zogen es die Siegermächte vor, Anklage und Verurteilung durch international besetzte Tribunale vollziehen zu lassen. So entstand neues, bis zu diesem Zeitpunkt nicht bestehendes Recht, welches zur Grundlage des Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag wurde.

Wollen wir folglich feststellen, ob Putin und seine Mitakteure Kriegsverbrecher sind, ist der Blick auf die Nürnberger Prozesse der zweckmäßigste Weg, denn Anklagen und Urteile erfolgten seinerzeit auch im Namen des großrussischen Imperiums mit der Bezeichnung UdSSR.

Anklagepunkte der Nürnberger Prozesse

Die seinerzeit zur Anklage gebrachten Handlungen konnten im Wesentlichen vier Punkte umfassen:

  1. die Planung von Verbrechen gegen den Frieden, das Kriegsrecht und die Humanität;
  2. die Teilnahme von Planung bis Führung von Angriffskriegen, die internationale Verträge und Abkommen verletzen;
  3. Verbrechen gegen Mitglieder feindlicher Truppen und der Zivilbevölkerung;
  4. Ermordung und Verfolgung Oppositioneller sowie entsprechendes nebst Deportation der Zivilbevölkerung.

Abzuurteilen war jegliche Person vom Staats- und Armeeführer bis zum einfachen Bürger, der im Sinne dieser Punkte Schuld auf sich geladen hatte. Soll heißen: Wäre es gelungen, Adolf Hitler und andere, die sich der Aburteilung durch Selbsttötung entzogen, zu verhaften, so hätten auch diese ungeachtet ihres früheren diplomatischen Status vor Gericht gestellt werden müssen.

Schauen wir nun darauf, ob und wieweit die aktuelle russische Führung nach ihren eigenen Kriterien des Kriegsverbrechens schuldig und folgerichtig zur Anklage zu bringen ist.

1) Schuldig der Planung und des Verstoßes gegen Kriegsrecht

Zu Position 1 ist festzustellen, dass die Konzentration russischer Truppen an den Grenzen zur Ukraine notwendig einer erheblichen Planung bedürfen. Solange diese Truppen dort verharren, wird das internationale Recht von Nürnberg davon nicht berührt. In dem Moment allerdings, in dem diese Einheiten die Grenzen des eigenen Territoriums verlassen und in einen souveränen Staat einmarschieren, ohne von den dortigen Verantwortlichen dazu aufgefordert worden zu sein, ist die Planung eines Verbrechens gegen den Frieden offenkundig. Da zudem Russland das Nachbarland ohne Kriegserklärung überfallen hat, kann auch die Planung eines Verbrechens gegen das Kriegsrecht als erfüllt gelten.

2) Schuldig der Verletzung internationaler Verträge

Zu Position 2 ist offenkundig, dass Russland mit dem Einmarsch in die Ukraine einen Angriffskrieg begonnen hat, der internationale Verträge und Abkommen verletzt. Russland hatte 1994 das Budapester Memorandum unterzeichnet, in welchem es völkerrechtlich verbindlich die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine nicht nur anerkannt hatte, sondern als Garantiemacht auftrat. Bereits die Annexion der Krim und faktische Besetzung des Donbass 2014 war ein einseitiger Vertragsbruch durch Russland, der spätestens mit dem Überfall im Februar 2022 als Angriffskrieg den Nürnberger Anklagepunkt 2 erfüllt.

3) Schuldig der Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung

Inwieweit gemäß Position 3 Verbrechen gegen Mitglieder feindlicher Truppen anzuklagen sind, ist gegenwärtig mangels konkreter Nachweise offen. Unmissverständlich und eindeutig sind jedoch entsprechende Handlungen gegen die Zivilbevölkerung belegt. Damit ist auch Anklagepunkt 3 erfüllt.

4) Schuldig der Verfolgung Oppositioneller

Die Verfolgung Oppositioneller nach Position 4 ist durch die russische Führung spätestens mit der massenhaften Inhaftierung von Kriegskritikern im eigenen Land festzustellen. Das Vorgehen gegen die Proteste in Cherson könnten geeignet sein, ebenfalls den Anklagepunkt nach Position 4 zu erfüllen – ebensolches gilt für die Deportation von ukrainischer Zivilbevölkerung in den russisch besetzten Donbass oder sogar nach Russland selbst, die nach aktuellen Erkenntnissen zumindest teilweise über die sogenannten humanitären Fluchtkorridore erfolgt. Auch hier dürften auf Grundlage der Nürnberger Prozesse entsprechend abzuurteilende Handlungen festzustellen sein, an deren Anwendung Russland als damaliger Tribunalsteilnehmer eine Kritik geltend machen kann.

Kriegsverbrechen sind nicht zu relativieren

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 Es bleibt insofern jenseits des bundesdeutschen Rechts oder der Ankläger in Den Haag die Feststellung: Putin und seine Helfer und Helfershelfer sind nach den Kriterien der Nürnberger Prozesse als Kriegsverbrecher unter Anklage zu stellen und entsprechend der seinerzeit durch Russland mitgetragenen und mitformulierten Anklagepunkte zu verurteilen.

Biden muss nicht glauben, dass Putin ein Kriegsverbrecher ist – er kann es wissen, denn er muss lediglich auf die Nürnberger Prozesse schauen. Und um an dieser Stelle bereits entsprechenden und zu erwartenden Einwürfen entgegenzutreten: Nein, die kriegsverbrecherischen Handlungen der am Überfall auf die Ukraine beteiligten Personen relativieren sich nicht dadurch, dass man anderen unterstellt oder vielleicht sogar nachweist, dass auch sie bei manchen ihrer Handlungen nach dem Nürnberger Kriegsverbrecherrecht hätten angeklagt werden können.

Der völkerrechtswidrige Überfall auf den souveränen Staat Ukraine ist ein singuläres Ereignis, welches eine entsprechende, singuläre Betrachtung erfordert. Die Feststellung des Kriegsverbrechens auch nach russischem Rechtsverständnis ist hier zwingend, wenn die Rechtsgültigkeit der Nürnberger Prozesse Bestand haben soll. Sie gilt unabhängig davon, ob Putin und jene Mittäter, die nach deutschem Strafrecht als Terroristen bezeichnet werden müssten, jemals tatsächlich für ihr Handeln zu Rechenschaft gezogen werden. Doch das sind Ableitungen aus Paragraphen. Geschichte wird aber von den Siegern geschrieben, und damit auch das Recht.

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