Tichys Einblick

Parteienstaat Deutschland – beherrscht, gelähmt, geplündert

Nach Union und Grünen demonstriert jetzt die SPD dass sie nicht reformierbar ist und Politik immer mehr zur Diätenbeschaffung verkommt. Deutschland wird immer mehr zum Parteienstaat und seiner unqualifizierten Funktionäre.

© Carsten Koall/Getty Images

Ein guter Freund, gelernter Ossi, wiederholt in unseren Gesprächen regelmäßig, Parteien – und damit meint er Systeme – seien von innen heraus nicht zu reformieren. Der Blick auf die Selbstbeschäftigung der SPD, die fast ein Jahr lang ihre Ablenkung vom eigenen Versagen durch Vorsitzendenkandidatenvorschlagsabstimmungen organisierte, scheint ihm Recht zu geben. Wobei: Auch die CDU, in der eine Gretl von der Saar die Parteiführung von Merkels Gnaden übernehmen durfte und der Dauerloser Merz mediale Kieselchen ins ohnehin knirschende Parteigetriebe werfen darf, stellt sich kaum besser dar. Beide Gruppierungen, einstmals als „Volksparteien“ gefeiert, marodieren vor sich hin. In den Umfragewerten dümpelt es auf niedrigem Niveau. Und der ständig wiederholte Wille zur Reformation wird zur faktischen Deformation.

Der Niedergang ist symptomatisch

Teil 2: Selbstergänzung statt Wettbewerb
Berufspolitiker: Ergebnis und Garant des Parteienstaats zugleich
Die Gründe für den Niedergang der ehedem großen Parteien ist symptomatisch. Symptomatisch für ein Parteiensystem, dass sich selbst überflüssig macht. Symptomatisch für eine Republik, die nach dem Beitritt der Länder der DDR ihren Kompass verloren hat. In der linke und linksdurchwirkte – Entschuldigung, dass ich das so deutlich sage – Sesselpupser, die sich für gesellschaftliche Strategen halten, um ihre Karrieren und die damit verbundene Staatssubventionierungen bangen. Wenn ein intellektuell dürftiger Knabe namens Kevin öffentlich über die Zukunft der Sozialdemokratie greint, meint er eigentlich nur: Wo soll ich denn bleiben? Stirbt meine SPD, müsste ich ja auf die geplante Politikkarriere verzichten – soll ich etwa arbeiten? Da fällt dann schnell der neidische Blick auf jene Generation der Annens, die es gerade noch geschafft haben, sich im Namen der SPD die frühzeitige Alterssicherung zu retten. Wobei – auch damit könnte es, wenn es richtig zu brodeln beginnt, schnell vorbei sein. Schließlich muss die ungerechtfertigte Alimentierung bis ins Grab ja von irgendwem erwirtschaftet werden. Und damit sieht es immer schlechter aus, wenn der von den Taschenautokraten zerlegten deutschen Wirtschaft weiterhin der Hahn abgedreht wird. Denn die Welt, die den deutschen Wohlstand durch ihre Einkäufe des Made in Germany finanziert hat, wird schnell andere Produzenten finden, wenn mangels hochqualifizierter Fachkräfte das BER-Desaster und klimaverwirrt-reaktionäre Zurück-zur-Natur-Dogmatik zur künftigen Leitlinie wird. Vielleicht auch wandern die Unternehmen einfach ab. Warum sollten sie sich von linkssozialistischen Weltverbesserern gängeln lassen, wenn andernorts liberale Wirtschaftsbedingungen mit der Freiheit des Marktes locken?
Angst essen Seele auf

Wie sehr die Angst vor dem Verlust der steuerfinanzierten Lebenssicherung am Selbstbewusstsein frisst, belegt beispielhaft jener Johannes Kahrs, wenn er regelmäßíg seine Frustration über den Niedergang der Finanzierungsbasis durch Hasstiraden im Bundestag zum Besten gibt. Es ist eben nicht leicht für jemandem, der sein Leben lang die Partei als Basis für den privaten Machtklüngel missbraucht hat und nun fürchten muss, sogar in den heimatlichen Gefilden von den Grünen ersetzt zu werden. Es tut weh, wenn der Kuchen des Schlaraffenlands plötzlich auch von anderen angeknabbert wird, die man nicht wie die eigene Parteibasis durch Abstrafung und Vetternwirtschaft auf die Reihe bringen kann.

Folge 1: Ein Feudalismus namens Parteienstaat
Parteien sind das Problem, nicht die Lösung
„Angst essen Seele auf“, titelte Rainer Werner Fassbinder 1974 einen seiner steuerfinanzierten Filme. Treffender kann man die Situation der SPD nicht beschreiben. Diese Angst stand auch jenem eigentlich schon aussortierten Norbert Walter-Borjans ins Gesicht geschrieben, als eine erschütterte Marie-Luise Dreyer ihm verkünden musste, dass er künftig an der Spitze des Niedergangs stehen werde. Allein schon seine vormalige Ankündigung, die Koalition der Restbestände im Bundestag aufzukündigen, wird ihm ab sofort schlaflose Nächte bereiten. Denn das war Schaumschlägerei – wohl wissend, dass all die kleinen und großen Parteifunktionäre ins Bodenlose fallen, sollte es ihm tatsächlich ernst damit sein. Das greift ganz tief ins Gefüge. Denn es sind ja nicht nur die mehr oder weniger bekannten Gesichter und Namen, die nun um Zukunft und Pfründe bangen. An jedem Abgeordneten hängt ein Rattenschwanz von Abhängigen. Mitarbeiter, die im Off in den Büros ihre Runden drehen und ebenfalls von Steuergeldern leben – und dabei ständig hoffen, eines Tages an die ganz großen Tröge heranzukommen, mit denen nicht nur der eigene Wohlstand gefüttert werden kann, sondern auch die Abhängigkeiten zu schaffen sind, die als Lebensversicherung den Sessel festhalten, auf dem man dauerhaft zu kleben gedenkt.

Das sieht bei der ewigen Konkurrenz der Union nicht viel anders auch. Auch wenn der Flurschaden auf dem Acker der Mitesser angesichts aktueller Umfrageergebnisse dort noch nicht ganz so desaströs wie bei der SPD sein dürfte. Doch der Weg in den Niedergang ist vorgezeichnet – nicht zuletzt deshalb schlagen sie von Söder bis Ziemiak erbarmungslos um sich, wenn das Reizwort AfD fällt. Stigmatisieren, um die eigenen Pfründe zu retten. Die gut dotierten Jobs nicht verlieren zu müssen an einen „gärigen Haufen“, wie Alexander Gauland sein Sammelsurium aus frustrierten Ex-Unionlern, Neonationalisten und rechtssozialstischen Kräften einst beschrieb.

In ihrer Angst kennen sie kein Halten mehr. Täglich werden neue Empfängergruppen erdacht, die mit staatlichen Wohltaten bei der Stange gehalten werden sollen. Gepaart mit festgeschriebenen Rechtsansprüchen auf alles und jedes, damit ja keine künftige Regierung mehr auf die Idee käme, das Füllhorn wieder schließen zu wollen. Es ist nichts anderes als ein verzweifeltes Strampeln. Denn gedankt haben es die Empfänger den großzügigen Verteilern des Volksvermögens bislang nie. Täten sie es, stünde die SPD nicht bei 13, sondern bei 63 Prozent der Wählerzustimmung.
Gleichzeitig sollen vom Verbund der Sesselkleber Millionen in die Propaganda geschleust werden. Da geht es nicht nur um diese mittlerweile unerträglichen Sprechschauen, mit denen sich in den zwangssteuerfinanzierten Staatsmedien einige wenige Supporter der Mächtigen als privatwirtschaftlich daherkommende „Medienschaffende“ die Taschen füllen. Jetzt soll sogar noch staatsfinanziert ein Gewerbezweig gerettet werden, der schon längst der Vergangenheit angehört, weil die künftigen Konsumentengeneration schon heute nicht mehr weiß, was unter dem Begriff „Tageszeitung“ zu verstehen ist. Da erinnert der polit-mediale Komplex schon an irgendwelche Fantasten, die nach Guttenbergs Erfindung der Druckerpresse die Klöster hätten subventionieren wollen, um den bedrohlichen Fortschritt zu verhindern und den klösterlichen Kopisten ihre Tätigkeit zu erhalten.

Keine Chance auf Parlamentsreform

Deutsche Kontinuität
Regierung ohne Demokratie
Systeme sind von innen heraus nicht reformierbar. Die beiden einstmals großen Parteien sind der lebende Beweis für die Richtigkeit dieser Aussage. Mehr noch als im kontinuierlichen Niedergang der Parteien, denen die großen Köpfe fehlen und diese durch kleinste Knöpfe ersetzt werden, findet diese Feststellung ihre Bestätigung beim Blick auf die weniger als halbherzigen Versuche, das Parlament selbst zu reformieren. Dank einer Fehleinschätzung der bundesdeutschen Gründungsväter ist dieses Parlament mittlerweile auf 709 hauptamtliche Abgeordnete aufgebläht. Von den Heerscharen, die an diesen Personen hängen und davon finanziell abhängig sind, ganz zu schweigen. Das, so sagt es der Rest an Vernunft, der gelegentlich doch noch durchschimmert, soll geändert werden. Aber wie? Jede Änderung des bestehenden Systems würde die Arbeitslosigkeit von unzähligen Nutznießern bedeuten. Vom individuellen Sturz in die Bedeutungslosigkeit ganz zu schweigen. Also werden weiterhin regelmäßig irgendwelche Ideen eingebracht werden, wie man das Parlament auf etwas geringere Sollstärke bringen könnte. Beschließen aber müssten das ausgerechnet jene, die ohnehin nur damit beschäftigt sind, ihre Karriereplanung über eben diese Jobs zu organisieren. Sie müssten sich selbst abschaffen. Kaum vorstellbar, dass das geschehen wird.
Liste schlägt Wahlkreis

Meinte es „die Politik“ tatsächlich ernst, dann müsste sie radikal sein. So radikal, dass sie sich selbst die Beine abschneidet, auf denen sie steht. Dabei wäre es ganz einfach. Verstünde man Reform tatsächlich im Wortsinne als die Rückkehr zu einem bewährten, früheren Zustand, so wäre es der sinnvollste und letztlich einzige Weg, die Listenwahl gänzlich zu streichen – oder aber alternativ die Wahlkreise abzuschaffen. Doch ein Ende der Listenwahl wird es nicht geben. Sie garantiert nicht nur den Kleinparteien, ihre Fürsten an die Finanztröge der Staatsubventionierung zu bringen – sie ist auch das Instrument, mit dem die Parteiführungen ihre Macht absichern. Denn wer am Ende auf den Listen vorn steht, darüber entscheiden die Machteliten. Also ist Wohlgefallen angesagt, will der Parteigänger aus den Niederungen aufsteigen.

So werden dann die Wahlkreise dran glauben müssen. 299 Direktmandate sieht das Personalisierte Verhältniswahlrecht derzeit vor. Ergänzt durch eine identische Anzahl von Abgeordneten, die über die jeweiligen Landeslisten aufgestellt werden. Macht auf dem Papier 598 Abgeordnete. Das Wahlsystem macht daraus aktuell jene 709, weil Überhangmandate die angeblich benachteiligten Parteien auf Sollstärke bringen sollen – gepaart dann noch mit einem Länderschlüssel, welcher zusätzliche Mandate organisiert.

Die Logik des Systems

Ursächlich für die Überblähung ist ausgerechnet jener Niedergang der Parteien, die den Niedergang des Systems selbst herbeigeführt haben. Denn, so die Logik des Systems, je mehr Direktmandate eine Partei bei umso weniger Gesamtstimmen hat, desto mehr Mandate werden für die Konkurrenz generiert. Das kann in einem Fünf- oder Sechsparteiensystem dazu führen, dass eine 20-Prozent-Partei das Parlament zum Bersten bringt, weil ihre Direktmandate endlos ausgeglichen werden müssen.
Die einzig logische Konsequenz dieser Entwicklung, die sich die Macher des Wahlsystems damals nicht vorstellen konnten, hieße, sein finales Scheitern zu konstatieren. Nicht mehr darüber nachdenken zu wollen, wie etwas „reformiert“ werden kann, was nicht zu reformieren ist. Sondern etwas anderes, vielleicht Neues zu wagen.

Back to the roots

Es quält sich
SPD: Schauspiel eines Niedergangs und kein Neuanfang für Deutschland
Wie das aussehen könnte, läge auf der Hand. Zumindest dann, wenn tatsächlich noch die Idee der Bürgerrepräsentanz als Ziel von Wahlen im Raum stünde. Es wäre dieses dann tatsächlich eine Reform im eigentlichen Sinne. Zurück zu jenem Modell, dass sich kluge Menschen im 19. Jahrhundert ausgedacht hatten, um die ersten demokratisch zusammengesetzten Parlamente der jungen deutschen Demokratie zu besetzen.

Als 1871 der deutsche Bundesstaat mit dem Namen Deutsches Reich begründet wurde, stand die Idee des Bürgervertreters im absoluten Zentrum der Überlegungen. Also einigten sich die damaligen Verfassungsväter (waren es angesichts des noch nicht durchgesetzten Frauenwahlrechts tatsächlich) auf eine feste Parlamentsgröße. Diese Anzahl wurde ins Verhältnis zur Anzahl der Wahlbevölkerung gesetzt und entsprechend auf Wahlkreise zugeschnitten, die jeweils einen respräsentativen Bürgeranteil vertreten sollten. Hierbei sollte, auch so weit dachte man seinerzeit schon, darauf geachtet werden, dass unterschiedliche Interessengruppen nicht durch andere überrollt werden konnten. Bedeutete: Siedlungsschwache Regionen beispielsweise auf dem Lande sollten über den Wahlkreis den Charakter der Region wiedergeben und nicht durch willkürliche Zusammenlegung mit städtischen Gebieten aus dem politischen Geschäft verdrängt werden können.

Jeder dieser Wahlkreise schickte nun genau einen Abgeordneten in den Reichstag. Damals noch ohne staatliche Subvention, was Gerechtigkeitsfanatiker zu der nicht gänzlich abwegigen Auffassung gelangen ließ, dass mittellose Bürger kaum eine Chance hatten, am politischen Prozess mitzuwirken. Übrigens und um einem beliebten Narrativ entgegenzuwirken: Im Deutschen Reich von 1871 gab es kein Klassenwahlrecht. Jeder wahlberechtigte Bürger hatte die gleiche Chance, seinen Favoriten ins Parlament zu schicken. Weshalb es angesichts der Industrialisierung und der damit verbundenen Industriearbeitsplätze zwangsläufige Folge war, dass die Sozialdemokratie als damals noch echte Arbeitervertretung von Wahl zu Wahl stärker wurde.

Es war – schauen wir auf den aktuellen Niedergang – ein durch und durch gerechtes System. Und ein sinnvolles. Denn der Bürger wusste nach der Wahl genau, bei wem er mit seinen Interessen andocken musste. Der Abgeordnete wiederum kam nicht umhin, seine Tätigkeit an den gefühlten oder tatsächlichen Mehrheitsmeinungen der Bürger seines Wahlkreises zu orientieren. Zumindest dann, wenn er wiedergewählt werden wollte.

Schlanke Parlamente statt Monster

Vorstellbar wäre ein solches Modell auch heute. Mit vielleicht 500 Wahlkreisen statt heute 299. Oder auch mit 599, will man unbedingt an der Sollstärke der knapp unter 600 festhalten. Was allerdings nicht nötig wäre, denn erfahrungsgemäß sind schlanke Parlamente effektiver als aufgeblähte. Steuergelder würde es ohnehin in erheblichem Maße einsparen auch dann, wenn die Abgeordnetenfinanzierung beibehalten bliebe.

Wäre es auch „gerecht“? Oder würden, wie gern behauptet wird, die „kleinen“ Parteien auf der Strecke bleiben?

Leben in der Welt von gestern
Die deutsche Sozialdemokratie verweigert sich der Gegenwart
Nun, zum einen wäre das Rennen offen, wenn ohnehin nur noch kleine Parteien im Rennen sind. Der Trend dahin ist nicht zu übersehen. Entscheidend wäre dann die Persönlichkeit des Bewerbers – und dessen Fähigkeit, die Bürgerinteressen zu formulieren und umzusetzen. Damit ginge es um Wettbewerb. Um echten Wettbewerb –nicht um dieses Pseudo-Schaulaufen, das gegenwärtig die Wahlkämpfe prägt. Um der Gerechtigkeit auf die Sprünge zu helfen, sollte darüber hinaus festgeschrieben werden, dass nur in den Bundestag einziehen darf, wer bei der Wahl eine absolute Mehrheit der Stimmen auf sich vereint. Die zwangsläufige Folge wäre es, dass in vielen Wahlkreisen zwei Wahlgänge nötig würden. Denn erfahrungsgemäß erhielten im ersten Wahlgang nur wenige Bewerber eine solche absolute Mehrheit. Also wären der erste und der Zweitplatzierte gefordert, nun gegeneinander anzutreten und für den zweiten Wahlgang um Stimmen zu werden. Womit sie – Bürgernähe ist gefragt – auch aufgefordert wären, Wähler anzusprechen, die ursprünglich nicht zu ihrem Fankreis zählten.

Technisch machbar wäre ein solches Modell problemlos. Die 14 Tage oder vier Wochen, die zwischen erstem und zweitem Wahlgang lägen, stellten kein ernsthaftes Problem dar. Die Konsolidierung des Parlaments dauerte eben ein paar Tage länger – Restlaufzeitverlängerung für die amtierende Regierung.

Tatsächlich jedoch – das muss der Wahrheit halber erwähnt werden – würde das Parlament der Idee des Verhältniswahlrechts damit nur noch partiell gerecht werden. Aber wäre das tatsächlich ein Schaden, wenn in diesem Parlament dann wieder Persönlichkeiten sitzen, die tatsächlich die Mehrheit der Bürger ihrer Wahlkreise hinter sich haben? Repräsentativer als das gegenwärtige Modell wäre es allemal. Seine Gegner werden behaupten: Auch populistischer. Und damit stante pede den Beweis erbringen, dass es ihnen nicht um Bürgerrepräsentation, sondern um Selbstbeglückung geht. Es wäre dieses ein Qualifiziertes Mehrheitswahlrecht. Doch warum nicht, wenn das Vorgängermodell wegen Versagens sich selbst ad absurdum geführt hätte.

Keine Chance auf Realisierung

Hätte nun eine solche Idee überhaupt eine auch nur minimale Chance, realisiert zu werden? Systeme sind von innen heraus nicht reformierbar. Und deshalb lautet die Antwort: Nein, keinesfalls!

Linksradikalisierung der SPD:
Was bedeutet der Sieg von Esken und Walter-Borjans?
Denn so sehr ein Qualifiziertes Mehrheitswahlrecht der Idee der Bürgervertretung und des Repräsentativen Parlamentarismus entspräche, so sehr müsste es die festgefressenen Machtgefüge der Republik erschüttern. Weil ein solches Modell die Parteien zwar nicht überflüssig macht, doch es in erheblichem Maße Macht und Einfluss ihrer Vortänzer mindert. Die Entscheidung darüber, wer künftig das Volk im Parlament vertritt, läge wieder bei jenen, die als Bürger dort vertreten sein sollen. Nicht mehr bei den Parteifunktionären, die bei der Listenwahl die ihnen genehmen Anpasser nach vorn bringen.

Deshalb auch ist dieser Vorschlag nichts anderes als ein Traum. Ein Traum davon, wie der Parlamentarismus in unserer Republik wieder vom Wasserkopf der Parteien auf die Füße des Volkes gestellt werden könnte. Ein Traum davon, dass in den Parlamenten wieder Volks- und nicht Parteienvertreter sitzen. Ein Traum davon, dass die Parlamentarier wieder ihre ursprünglichen Aufgaben wahrnehmen, die Regierung kontrollieren und nicht ständig mit der Exekutive paktieren weil sie klammheimlich darauf schielen, selbst möglichst schnell einen lukrativen Posten im Staat ergattern zu können. Ein Traum nicht zuletzt auch davon, dass in den Parlamenten nicht weltfremde Parteiideologen um ihre Pfründe kämpfen, sondern die tatsächlichen und nicht die in irgendwelchen Diskutierstuben erdachten Bürgerinteressen im Mittelpunkt der Debatten stünden.

Doch Systeme sind nicht reformierbar

Ein Traum eben. Denn Systeme sind von innen heraus nicht reformierbar. Und deshalb werden wir weiter zuschauen müssen, wie die Parteien sich den Staat zur Beute machen und unqualifiziertes Personal über Parteibuch oder Wohlgefallen an die Schaltstellen der Macht bringen. Bis dann irgendwann das System selbst entweder kollabiert, weil jedes System, dass sich nicht weiterentwickelt, irgendwann kollabiert – oder bis dem entmündigten Bürger der Kragen final platzt und er selbst dafür sorgt, dass das marode Ancient Regime abgeräumt wird.

Bis es so weit ist, wird allerdings noch viel Entmündigung und Fremdbestimmung ins Land gehen. Denn am Ende gilt: Je dümmer ein Volk gehalten wird, desto leichter ist es zu führen. Weil es bereitwillig glaubt, was ihm von jenen erzählt wird, denen es doch nur darum geht, sich selbst mit dem Vermögen der Dummen eine schöne Zukunft zu verschaffen.

Doch sei es drum – eine kleine Revolution von Zeit zu Zeit hat schon häufiger frischen Wind in unreformierbare Systeme gebracht. Warten wir also ab, was sich in den kommenden Jahrzehnten tut.

An einer Erkenntnis führt derweil kein Weg vorbei: Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht. Was nicht reformierbar ist, wird deformiert. Und was deformiert wird, taugt am Ende zu nichts. Deshalb: Warten wir einfach ab.

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