Den letzten Schritt fort von der blutgetränkten, klassischen Revolution hin zur unblutigen, unmerklich die Gesellschaft übernehmenden Transformatorischen Revolution ging die politische Linke ab 1967. Sie perfektionierte die Legalisierte Revolution, indem sie auf den eigentlichen, revolutionären Gewaltakt eines Fanals der Umwälzung völlig verzichtete und sich auf den Elitenaustausch konzentrierte.
Der Wandel von der gewaltsamen zur Transformatorischen Revolution basierte wie der Weg zur Legalisierten Revolution ursächlich nicht auf einem theoretischen Überbau, sondern auf einem intellektuellen Erkenntnisprozess. Als die Unmöglichkeit des Versuches, aus einem elitären Revolutionsanspruch heraus in einer Wohlstandsgesellschaft eine revolutionäre Massenbewegung, einen Zusammenschluss von sich als künftige Elite verstehender revolutionären Führung und Proletariat zu generieren, offenbar wurde, entwickelte der Mastermind der Revolution, Rudi Dutschke, sein transformatorisches Revolutionskonzept als „Marsch durch die Institutionen“.
Die theoretischen Vordenker der Frankfurter Schule gaben dem Revolutionsziel als Phantasiebild den Segen der Wahrheit, indem sie letztlich Karl Marx folgten, der behauptet hatte: „Die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme, ist keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage. In der Praxis muß der Mensch die Wahrheit, i. e. Wirklichkeit und Macht, Diesseitigkeit seines Denkens beweisen.“
Die postmarxistische Ideologie leitete daraus ab, dass „die Wahrheit als Eigenschaft der Aussagen definiert wird, mit dem wiedergespiegelten Sachverhalt übereinzustimmen“ – oder, in den Worten des Jürgen Habermas: „Wahrheit nennen wir den Geltungsanspruch, den wir mit konstativen Sprechakten verbinden. Eine Aussage ist wahr, wenn der Geltungsanspruch der Sprechakte, mit denen wir, unter Verwendung von Sätzen, jene Aussage behaupten, berechtigt ist.“
Anders formuliert: Das Wunschbild, das „angestrebte Phantasiebild und –ziel“, wird zur Wahrheit, weil der deklaratorisch behauptete Anspruch auf eine Wahrheit des Wunschbildes berechtigt ist. Das Non-Faktische wird zur Wahrheit, wenn es als solche behauptet wird und sich kein ideologie-immanenter Widerspruch dagegen erhebt. Der deklaratorische Anspruch eines irrealen Ziels wird als konstativer Sprechakt zur konstitutiven Erklärung der Gegenwart, versteht sich in der Narrative des Deklarierenden als absolut und unanfechtbar.
Dieser Aphorismus aus der „Minima Moralia“ stellt die Philosophie unter das Diktat einer einzigen, metaphysischen Prämisse: „Der Erlösung“. Erkenntnis als Ergebnis des logischen Denkens, dem „logisch geknüpften Gedankennetz zum Einfangen des Weltganzen“ des Immanuel Kant, hat keinerlei Strahlkraft, folglich keinerlei Bedeutung, wenn sie nicht als „Erlösung“ über die Menschen kommt. So sich die Philosophie diesem Erlösungs-Diktat nicht unterwirft, hat sie ihre Existenzberechtigung verwirkt, da sie vor der Welt nicht zu verantworten ist.
Der Musiktheoretiker Adorno greift mit dem Begriff „Erlösung“ zurück auf das eigentliche Kernelement christlicher Glaubensphilosophie. Das „Licht“ als Symbol des einzig Göttlichen der frühen Kulturen führt ihn auf eine archaische Ebene der Mystik, auf das non-faktische Empfinden einer einzigen, transzendenten Wahrheit. Adorno überwindet nicht nur die Aufklärung, sondern die europäische Zivilisation an sich, tritt den Weg an in den gedanklichen Bauch einer Mutter Erde, deren einziger Lebens- und Erkenntnisquell die Sonne ist. Alles andere ist irrelevant, ist „Nachkonstruktion und ist ein Stück Technik“. So wird, wer nach der Erklärung der nachkriegsdeutschen Technik-Feindlichkeit, nach der grünen Sehnsucht der Zivilisationsüberwindung sucht, bei Adorno fündig: Nachkonstruktion und Technik sind die eigentlichen Reiter der Apokalypse. Sie haben über den Weg der Philosophie der Aufklärung den Weg geebnet für die Katastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts.
Der revolutionäre Akt der Überwindung der klassischen Philosophie wird auf die Ebene religiöser Erweckung transferiert, die Revolution selbst als Katharsis zu einem religiösen Akt des Glaubens. Diese Erhebung des Revolutionären geht einher mit einer „Theorie“, die ihre Wahrheit aus ihrer Aufgabe im historischen Prozess erfahre – und sie müsse nach Adorno auf „allgegenwärtiges Glück und Freiheit“ ausgerichtet bleiben, wobei bereits hier die Frage unbeantwortet bleibt, wie eine „Freiheit“ zu verstehen sein kann, wenn sie ausschließlich die imaginäre Wahrheit eines Phantasiebildes akzeptiert..
Damit nun liegt das das revolutionäre Ziel nicht mehr in der unmittelbaren Überwindung aktueller Missstände, sondern wird zur religiösen Heilserwartung – es ist ein Substitut der zu überwindenden Wirklichkeit als eine angestrebte irdische Realität des himmlischen Paradieses. Dieses Substitut erweist sich spätestens dann als Wahrheit, wenn es sein Ziel erreicht hat – und hat damit die wissenschaftliche Qualität jenes circulus vitiosus der Erweiterung des „cogito ergo sum“ von René Descartes: Ich denke, also bin ich und ich bin, also denke ich. Weil das Huhn nicht ohne das Ei und das Ei nicht ohne das Huhn möglich ist, entwickeln beide eine solipsistische Wahrheit des temporären sum ergo sum – es ist das Ei in dem Moment, in dem es ist, weil es ist, und es ist das Huhn in dem Moment, in dem es ist, weil es ist. Die unbestreitbare Wahrheit des Augenblicks erübrigt das Erfassen von Kausalität – es wird als Nachkonstruktion ausgeblendet. Das Gestern ist Wahrheit, weil es war – und die geträumte Zukunft ist Wahrheit, wenn sie Gegenwart gewesen ist. Weil die transzendente Heilserwartung des Revolutionärs in seiner auf eine finale Wahrheit orientierten, linear-geschlossenen Zeitdimension eines Tages zwangsläufig sein wird, ist sie genau dieses bereits heute: Wahrheit.
Der Revolutionär – gleich, worauf er sich beruft und wo er sich persönlich einsortiert – ist verfangen in der non-faktischen Wahrheit des Revolutionärs Adolf Hitler: „Wenn eine Idee an sich richtig ist und, in solcher Weise gerüstet, den Kampf auf dieser Erde aufnimmt, ist sie unbesiegbar und jede Verfolgung wird nur zu ihrer inneren Stärkung führen.“ Weil seine individuelle oder kollektive revolutionäre Idee im auf Transzendenz angelegten Bewusstsein eines jeden Revolutionärs „an sich richtig“ ist, wird sie als unvermeidliche Wahrheit zwangsläufig sein – und weil sie sein wird, ist sie Wahrheit. Damit wird nun auch jeder Zweifler, jeder Kritiker an der revolutionären Wahrheit nicht nur als Vertreter einer abweichenden Position zum Häretiker, sondern zum mit allen Mitteln zu bekämpfenden Ketzer, zum Irrgläubigen.
Der katholische Klerus bekämpfte den Häretiker im Spätmittelalter mit dem Instrument der Heiligen Inquisition. Der Islam nennt diesen Häretiker im Koran einen „Ungläubigen“, dessen physische Existenz vernichtet werden darf, vernichtet werden muss. Für den Revolutionär ist er der Renegat, wenn er sich aus der eigenen Glaubensidee entfernt; der Konterrevolutionär oder Reaktionär, wenn er es wagen sollte, die Wahrheit der Revolution durch die Wahrheit des Vorrevolutionären ersetzen zu wollen; der Dissident, wenn er grundsätzlich nicht mit den Phantasiebildern der Revolutionäre übereinstimmt.
Die Transformatorische Revolution in Deutschland
Während das System der DDR nahtlos an jenes der NSDAP anknüpfen konnte, indem es den totalitären Kollektivismusgedanken perfektionierte und an der metaphysischen Wahrheit eines irdischen Paradieses festhielt, unternahm die Bundesrepublik 1949 den Versuch, mit der Teilrestitution des Weimarer Verfassungsmodells die nationalrevolutionäre Phase zwischen 1933 und 1945 auszublenden. Vor allem dieses restitutive Element weckte den Widerstand jener sich als „progressiv“ definierenden Gruppen, die sich aus der revolutionären Tradition der Heilserwartung des Karl Marx speisten – und sie entwickelten mit dem „Marsch durch die Institutionen“ das Konzept einer zwar unblutigen, nicht jedoch weniger radikalen, revolutionären Systemübernahme.
Das revolutionäre Konzept der schleichenden Übernahme ist in gewisser Weise die Umkehr des klassischen Revolutionsablaufs: Nicht mehr das Fanal der massenbasierten Umwälzung steht am Anbeginn der Revolution, sondern statt dessen beginnt diese „stille“ Revolution mit dem Elitenaustausch, der traditionell erst auf das erfolgreiche Fanal folgte. Die Transformatorische Revolution sickert unmerklich in die Gesellschaft, besetzt Schlüsselpositionen vorrangig in Bildung, Kommunikation und Politik. An ihrem Ende steht – wie bei jeder erfolgreichen Revolution – die vollständige Verdrängung der alten Eliten durch neue, vom „revolutionären Denken“ geprägte.
Wie jede Revolution benötigte die Transformatorische Revolution eigene Mythen. Sie fand sie im Gründungsmythos der 67/68er-Proteste, im Streetfight gegen die Reaktion, im kollektiven Erweckungserlebnis in Brokdorf oder dem Wendland und im Beinahe-Märtyrertod ihres Vordenkers. Sie strebte nach dem Phantasiebild einer Welt des Friedens, der Überwindung des Nationencharakters, der Heilsvision des paradiesischen Elysium allumfassender Gleichheit und Gerechtigkeit und vermeinte, in der Fehlinterpretation des Freiheitsbegriffs in der legitimen Tradition jenes französischen Dreiklangs von Liberté, Égalité, Fraternité zu stehen und damit den aus ihrer Sicht revanchistischen Dreiklang der deutschen Revolution des 19. Jahrhunderts zu überwinden, der mit Einigkeit und Recht und Freiheit die nationale Selbstbestimmung, ein bürgerliches Rechtssystem der Gleichbehandlung und die Freiheit des Einzelnen, sich im Rahmen seiner Fähigkeiten frei entfalten zu können, zum Ziel gesetzt hatte.
Gleichzeitig schaffte sie sich Feindbilder, die es in der Logik des Marat mit Vehemenz zu bekämpfen galt und gilt: Faschisten, Kapitalisten, Nationalisten, Kriegstreiber, Chauvinisten und die Bourgeoisie insgesamt gelten als Vertreter jener alten Eliten, die es auszumerzen gilt. Die Instrumente der revolutionären Inquisition finden sich sowohl in den selbstreferenzierenden Gruppen der Antifa wie in der durch das System legitimierten Mind-Police eines uneingeschränkt in den Traditionen der deutschen revolutionären Bewegung stehenden Bundesministers der Justiz.
Ihre wahrheitsverklärten Glaubensziele finden die Revolutionäre beispielsweise im Glaubenskampf gegen den Teufel Atomkraft, den menschengemachten Klimawandel, den Weltverderber USA und nicht zuletzt wie schon Hitler in einer „kapitalistischen Clique, die für ihre niederträchtigen persönlichen Interessen bereit war und ist, Millionen von Menschen vernichten zu lassen“. (DgF 225)
Wie die nationalsozialistischen Revolutionäre ersetzt die Transformatorische Revolution die Kantische Geisteswissenschaft durch transzendente Pseudowissenschaften. War es zwischen 1933 und 1945 die Pseudowissenschaft einer „Rassetheorie“, die auf der Vergewaltigung der Erkenntnisse des Charles Darwin beruhte, so findet sich heute beispielsweise mit dem universitär verankerten Genderismus eine Pseudowissenschaft, die den revolutionären Transformationsprozess in den Köpfen der Massen durch die Überwindung des Faktischen der Naturwissenschaft nun nicht mehr nur im Bereich der sogenannten Sozialwissenschaften abschließen soll, sondern sich den Grunderkenntnissen einer natürlichen Ordnung bemächtigt. Ihre Protagonisten folgen damit der Feststellung des Friedrich Engels, der das revolutionäre Ziel als „Ideal“ beschreibt: „Wenn man aber ein Ideal hat, kann man kein Mann der Wissenschaft sein, denn man hat eine vorgefaßte Meinung.“
Das Non-Faktische, dessen Sieg Bundeskanzler Angela Merkel mit der Deklaration eines „postfaktischen Zeitalters“ erklärte, ersetzt als Dominanz des Geglaubten, als Herrschaft jenes metaphysischen Phantasiebildes das systematische Denken zum Einfangen des Weltganzen. Die vorgebliche Wahrheit des transzendenten Traums darf nicht länger von den Barrieren der faktischen Vernunft aufgehalten werden.
Man kann den Sieg der Transformatorischen Revolution nicht besser beschreiben als ein Student in seinem Kommentar zum ersten Teil der hier angestellten Überlegungen: „Es wird an meiner Uni fast ausschließlich mit Glaubenssätzen gehandelt. Es wird immerzu die ‚richtige‘ Haltung propagiert, die ‚falsche“ diffamiert. Die Kritiker, die Denker, die Zweifler, also jene, die ihren Verstand benutzen und Begründungen einfordern, sind lästig. Das Selbst, das denkende Ich, hat hier keinen Platz mehr.“
Die Inhalte der Köpfe des Volkes sollen vom Phantasiebild der revolutionären Eliten geprägt sein. Jeder Widerspruch dagegen wird unzulässig. Zitieren wir noch einmal Paul Tillich, um zu begreifen, was das non-faktische Zeitalter aus dem selbstbestimmten, denkenden Menschen der Aufklärung gemacht hat: „Wird der Glaube verstanden als Glaube an die Wahrheit einer Sache, so ist der Zweifel unvereinbar mit ihm.“ Nur darum geht es: Der Zweifel an den Phantasiebildern der Elite soll unvereinbar sein mit der menschlichen Existenz. Das Diktat der Geistesdiktatur soll alles, was auf frühere oder künftige, andere Systeme Bezug nehmen könnte, vernichten.
Der Mensch in der non-faktischen Gesellschaft der Gegenwart ist wie in jenem gleichnamigen Film gefangen in einer Matrix der Abhängigkeit, die ihn an die Schläuche der Indoktrination bindet und ihm dabei die Vision einer selbstbestimmten Existenz vorgaukelt. Er dient der revolutionären Elite des Systems als Elixier, als Trittbrett der eigenen Hybris. Doch die Freiheit, sich von diesen Schläuchen zu befreien, sich aus der Matrix des Diktats heraus auf sich selbst zu besinnen und die Unabhängigkeit seines Denkens zurück zu gewinnen, wird versagt. Die Schutzprogramme der Matrix sind die Instrumente der Political Correctness der Gegenwart. Anetta Kahane und ihre Supporter sind gleichzeitig Agent Brown und Agent Jones.
Wie sehr diese Matrix zum System geworden ist, sollte sich angesichts der Wahl des Präsidenten der Vereinigten Staaten exemplarisch dokumentieren. Die vom System gewünschte Wirklichkeit entpuppte sich mit Donnerschlag als das, was sie tatsächlich war: Ein irrationales Traumbild einer Phantasie, das Dokument einer selbsthypnotisch zur Wahrheit verklärten Parallelwelt, in dem eine gesamte Republik verfangen war, verfangen ist.
Der Zusammenbruch der Phantasie war das Menetekel für die Transformatorische Revolution – in dem Moment, wo sie sich ihres Endsiegs sicher wähnte. Das von ihr geschaffene System geriet in Panik, weil revolutionäres Wunschbild und Realität nicht mehr stimmig sind.